Romane & Erzählungen
Wings - Book II

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"Wings - Book II"
Veröffentlicht am 09. August 2011, 62 Seiten
Kategorie Romane & Erzählungen
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Wings - Book II

Wings - Book II

Männer und andere Ungereimtheiten

Der Studiensaal war nicht leerer oder voller als andere. Was mich eigentlich doch manchmal immer noch verwunderte. Aber das liegt wohl daran, dass ich mich zeitweise wirklich Frage, warum ich überhaupt Geschichte als Nebenstudienfach gewählt habe. Meine Beweggründe waren zweifelsohne gar nicht schlecht. Aber ich hätte auf die Ratschläge von Kommilitonen hören sollen, die von ihren Schreckenserfahrungen gerade in Geschichte berichteten. Auf Hören-Sagen wollte ich mich damals nicht verlassen und dachte sogar eine Woche lang, dass alles wie geschmiert laufen würde. Denkste!

„Yasmn! Yasmn!!!“ Nach ungefähr zwei Wochen, wusste ich endlich, dass er mich damit meinte.

„Herr Won, ich heiße Yara, nicht Yasmin.“ Sein Problem zu mir besteht irgendwie darin, dass er meinen Namen vielleicht ein klein wenig nicht leiden kann. Aber ich fände es nur fair, wenn er dann doch wenigstens meinen Alias richtig aussprechen und nicht auch noch das „i“ verschlucken würde.

„So, so. Willst du heute wieder frech werden? Ich habe dir eine Frage gestellt, beantworte sie gefälligst!“ Ist er nicht reizend?

„Ähm ja... wie war die Frage nochmal?“ In Gedanken fügte ich noch hinzu, dass ich so verwirrt war, weil er meinen Kosenamen falsch ausgesprochen hatte. Aber ein Mann der Witze war dieser kleine Dozent da vorne ja nun gar nicht.

„Ich wiederhole die Frage für Schwerhörige gern noch mal.“ Nur schade, dass er dabei so bissig klang wie eine Viper, auf die man gerade drauf getreten war. „Ist in ihrem kleinen Hirn vielleicht so etwas wie eine Erinnerung an den Angriff auf Japan?“

Meine Antwort darauf könnte ohne Zweifel auch einfach nur „Ja.“ sein, aber da ich mich gerade eh schon im siebten Kreis der Vorhölle befinde, sollte ich vielleicht diejenige sein, die nachgibt. Also begann ich damit zu erzählen, dass der Angriff auf Japan nach 1941 durch die USA im Jahre 1945 am 02. September zur Kapitulation Japans führte. Herr Won verdrehte daraufhin nur genervt die Augen.

„Hättest du aufgepasst, wüsstest du, dass deine Antwort bereits vorweg greift! Warum (!) haben (!) die (!) Amis (!) angefangen (!) Japan (!) zu (!) bombardieren(!)?“

Diese unnatürlich in die Länge gezogenen Sätze bringt er gerne, wenn er zu Höchstformen aufläuft.

„Anfangs blieben die USA und Japan bei der Neutralität im Bezug auf Hitlers Kriegsanmaßungen...“ Oh, ein Nicken von Herrn Won. Ich bin beeindruckt, jetzt bloß nichts falsch machen.

„... Obwohl Japan sich dennoch mit Macht über China stellen wollte.“ Oh, oh, sein Kopf hat mitten in der Bewegung inne gehalten. „Am 7. Dezember 1941 wurde der weltweit bekannte Angriff auf Pearl Harbor durchgeführt, der als Wendepunkt im 2. Weltkrieg gilt und dazu führte, dass die USA in den Krieg mit eingriff.“ Was rede ich da? Es ist zwar die Wahrheit, aber.... Ich bin gleich tot. Das war´s du schöne Welt.

Die Zornesröte in Herrn Wons Gesicht lies mich wieder auf meinem Stuhl zurück sinken. Stampfend, wie ein Elefant, kam er die Treppen hinauf gestiegen und baute sich in der Reihe vor mir auf. Ganz heimlich waren alle Leute in meiner Nähe am „Bäumchen-wechsel-dich-Spiel“ beteiligt gewesen, wodurch um mich herum nun nichts mehr als leere Plätze waren. Wenigstens sterbe ich alleine und ziehe keine Unschuldigen mit in den Tod, das hätte nur schlechtes Karma gegeben, dachte ich wehmütig.

„Ich erkläre Ihnen jetzt mal was!!“ Und ich sage Ihnen gleich, dass sie spucken! Bäh, ist das widerlich. „Durch so beeindruckend dumme Leute wie sie, glaubt die gesamte Welt, dass Japan die USA provoziert hat!! Dabei wurden wir, die Japaner, gepeinigt und getriezt! Aber das können Sie sich wahrscheinlich gar nicht vorstellen, was das bedeutet! Immer ist Mammi´s Rockzipfel da, damit sie sich ausheulen können, oder?!“

Die Sache ist die, dass ich meine Mutter gar nicht kenne. Aber wie sollte ich es unserem geliebten Herrn Won nur erklären? Ich glaube er sieht es als seine Bestimmung an, die Ehre Japans in dieser Uni wiederherzustellen. Seine Gesinnung mag ja im Grunde friedfertig sein, aber der Terror auf seine Studenten ist es keineswegs. Es ist nicht so, dass ich eine aufmüpfige Studentin wäre, die ihren Sarkasmus ausleben will. Herr Won hat nun mal seine Ansichten und die stehen nicht in Geschichtsbüchern oder auf Wikipedia. Der Versuch ihm friedlich zu begegnen endet dann doch meistens im Streit. Jetzt läge es natürlich nahe, die Stunden mit richtig wichtigen Dingen zu nutzen. Aber wenn man hier fehlt, weiß man nicht, was Herrn Wons Meinung entspricht. Also muss man wohl oder übel doch anwesend sein. Mir hat es in all der Zeit gerade mal zu einer umgerechneten, wackeligen 3 verholfen. Laut Herrn Wons Punktesystem eine -7, aber die kann er ja leider nicht vergeben. Er hatte es mal mit 0 Punkten versucht, woraufhin ich einige Leute zusammentrommeln wollte um dagegen vorzugehen. Geblieben bin am Ende doch nur ich, die zum Termin beim Hauptdozenten für Geschichte erschienen ist. Das war beim ersten Test, für den ich 100 Punkte erhielt... und den tödlichen Hass von Herrn Won, der mir wohl mein ganzes Leben noch anhaften würde. Sogar wenn ich keine Studentin mehr bin.

In den nächsten Tests schrieb ich alles so hin, wie er es sicherlich gern hören würde. Dennoch zog er mir für verschiedene Dinge Punkte ab. Ich glaube sogar, dass ihm das Blau meines Kugelschreibers nicht gefällt, aber wer will das beweisen? Wenn man aber mal bedenkt, dass dieser Lehrer keine Einsen vergibt, höchstens an sich selbst, dann ist eine wackelige Drei doch ganz gut, oder nicht?

Zurück zu seiner Schimpftirade. Nachdem er nun haarklein erzählte, wie ungerecht Japan doch behandelt wurde und wir Deutschen, vor allem ich deutsches Mädchen daran Schuld sei, was mit seinem armen Volk passiert war, konnte ich nicht umhin mich zu fragen, ob er vielleicht Krankheiten mit seiner Spuke übertrug. Vorbereitet wie ich war, hielt ich schon ein Taschentuch so vor mein Gesicht, dass mich nicht all zuviel davon traf. Leider wollte er auch noch über China erzählen, wobei ich hier schon gar nicht mehr richtig zuhörte.

Ich war einfach nur noch wütend, was ich nach außen hin nicht zeigte. Als alleinstehende Studentin hatte ich alle Zeit der Welt um meinen Frust wieder raus zulassen. Aber trotzdem... manchmal komme ich mir wirklich wie ein Jude vor und mein Geschichtsfutzi ist Hitler. Das er mich noch nicht vergast oder erschossen hat, liegt wohl dem deutschen Waffengesetz zugrunde. Aber ich würde nicht darauf wetten, dass es in Herrn Wons Kopf keine Zeitbeschränkung dafür gibt. Zum Teufel mit meinem Gerechtigkeitssinn, warum kann ich nicht einfach irgendwann mal die Klappe halten, wenn er mich was fragt?

Das Ertönen der Glocke war meine Rettung an diesem Tag. Herr Won lies mich mit den Worten ziehen, dass er sich eine saftige Extraarbeit für mein Benehmen ausdenken würde. Na toll, erst werde ich die japanische Tollwut von ihm kriegen und schließlich durch diese meine Bestrafung nur noch verschlimmern, wenn ich die Papiere mit Schaum vor dem Mund zerfetze. Aber wie gesagt... ich hab ja alle Zeit der Welt. Was ein Dilemma!

Auf dem Weg zur Mensa holte mich wie immer meine Freundin Corinne ein. Sie ist gerade mal 1,45 groß und überrascht dennoch, durch ihren Überblick. Manchmal glaube ich wirklich, dass sie mich an den Schuhen erkennt.

„Hey, Yara!“ Sie lächelte mir zu, doch ihr Lächeln erstarb. „Oh, wieder der Lehrer?“

„Nein. Corinne, ich werde sterben. Und ich erwarte, dass du zu mir ans Sterbebett kommst.“

„Wann wirst du denn sterben?“ Corinne ist manchmal echt drollig mit ihren Fragen.

„Ich schätze, es wird so einen Monat dauern, dann müssten alle wichtigen Organe befallen sein. Schon ein Date an dem Termin?“

Sie zückte ihren kleinen Terminplaner. „Äh ja, mit David. Aber vielleicht lässt es sich einrichten, dass du so gegen 11 Uhr stirbst, dann hätte ich zwei Stunden für dich Zeit und könnte sogar deine Verwandten anrufen.“

„Du bist eine echte Freundin.“ Ich lächelte ihr dankbar zu, während sie ihren Kalender wieder in ihrer kleinen Handtasche verstaute. Corinne ist diejenige von uns, die einen Terminplaner braucht um die Stelldichein mit den Männern zu planen. Von Bindung hält sie nichts. Nicht, dass sie es nicht schon mal versucht hätte. Aber es scheiterte aufgrund ihres Eigenwillens. Die einzige Bindung, die bei ihr dauerhaft hält, ist die zu ihren Freundinnen. Und wir sind tolle Freundinnen!

„Corinne! Yara!“ rief es schon von Weitem als wir gerade mit unseren Tabletts nach einem Platz suchten. Stühle waren in diesem großen Raum irgendwie rar, doch es gab einen Tisch, der immer genau vier Stühle besaß, und das ist unserer.

„Yara, wird in einem Monat sterben.“ verkündete Corinne, noch bevor ihr kleiner, süßer Hintern, den Stuhl berührt hatte. Geschäftig machte sie sich daran ihren Salat mit ihrem selbstgemachten Dressing zu mixen.

„Ähm... und an was?“ fragte Evelyn, der fast das Essen aus dem Mund fiel.

„Nur die japanische Tollwut.“ gab ich trocken zurück und sah der kleinen Corinne dabei zu, wie sie die für sie viel zu große Salatbox hin und her schüttelte, und dabei sogar selbst wackelte. Vielleicht sollte ich an dieser Stelle nebenbei erwähnen, dass sie nie BH´s trägt und die Blicke vom Nachbartisch recht zielsicher nicht gerade auf das Vegetarische gerichtet waren. Während ich den hektischen Handbewegungen von Corinne mit den Augen folgte, hörte ich Evelyn über Herrn Won reden und widmete mich wieder ihr.

„Der hat doch echt ´nen Knall der Typ! Yara, warum lässt du den Kurs nicht sausen? Du lernst doch eh nichts darin.“ 1 zu 0 für sie. Aber ich konnte nicht einfach die weiße Flagge hissen und mich ab sofort vor Won´s Blicken verkrümmeln.

„Du weißt, dass ich eine zweite Schiene brauche. Ich hab auch gar keine Lust ständig über den zu reden. Also, was machen wir am Wochenende?“ Ich sah in die Runde und begutachtete Lillis ernste Miene, die steif auf etwas gerichtet war. Ich folgte ihrem Blick und fand eine Gruppe von Typen, die sich lautstark unterhielten.

Lilli ist ein wunderbarer Mensch. Vielleicht etwas schräg, aber eine tolle Freundin. Unser Haufen ist wohl generell so. Lilli ist die Ernste, die Kühle. Sie lässt Menschen nicht gerne an sich heran, das braucht Zeit. Außerdem bezeichnet sie sich selbst als Hexe, was ich persönlich sehr cool finde, andere irgendwie abschreckend. Aber das soll mir egal sein.

Evelyn ist die Einzige von uns, die einerseits einen Freund hat, andererseits auch wieder nicht. Er ist vor ungefähr acht Monaten umgezogen um irgend so einem Sonderstudienfachgedöns nachgehen zu können. Er meldet sich, ab und zu. Aber sie treffen sich nicht mehr. Er hat nie Zeit oder Lust her zukommen und Evelyn... naja, Evelyn weiß, dass sie nicht mehr in einer richtigen Beziehung steckt. Aber warum die Mühe machen und es abschließen? Sie sieht ihn mehr wie einen Kumpel an, der hin und wieder anruft und sie etwas beschäftigt. Typische Abflauung der Gefühle.

Tja, und Corinne... sie ist aufgeschlossen, impulsiv und nicht gerade zurückhaltend. Zusammen genommen eigentlich ein total unbeständiger Haufen, aber genau das verbindet uns wohl. Ich komm mir manchmal vor wie in dieser einen Fernsehserie, wo es auch um eine Vierergruppe von Frauen geht, die alle eigentlich total unterschiedlich sind. Ich lebe im Fernsehen, wie traurig ist das denn?

„Ich hab mir Samstag für euch frei gehalten. Sonntag gehe ich dinnieren und am Freitag sehe ich, was dieser Typ aus dem zweiten Englischkurs so an Qualitäten zu bieten hat.“

„Ok, jetzt wissen wir deine Planung, aber was machen wir?“ fragte ich noch einmal nach.

„Wie wär´s mir der neuen Bar unten am Squares?“ warf Evelyn ein.

„Oder wir töten jemanden und teilen uns eine Zelle.“ Lillis schwarzer Humor, war heute irgendwie noch verbissener.

„Was ist mit denen, Lilli?“

„Was soll mit denen sein?“ Sie sah mich an, als hätte sie gerade eben das erste Mal bemerkt, dass ich neben ihr sitze. „Nur ein Hauptidiot unter vielen Idioten.“

„Der eine da, hat sie wohl gefragt, ob sie auch mit Tarotkarten und Pendel arbeitet.“ meinte Evelyn und friemmelte die Gurke von ihrem zweiten Hamburger.

„Ja und? Das tust du doch, wo ist das Problem?“ Irgendwie schien nur ich auf der Leitung zu stehen.

„Er meinte weiterhin, dass er sich auch für so etwas interessiert.“

„So etwas, Pf!“ machte Lilli verächtlich.

Evelyn rollte mit den Augen und erzählte weiter. „Sie hat daraufhin zu ihm gesagt, dass er sich dabei lieber nicht selbst verletzen soll. Woraufhin er, dann nicht mehr ganz so souverän reagiert hat und fragte, ob sie ihre Tage hätte.“

Mein Kauprozess stoppte. Ich schluckte schwer. „Armer Kerl, jetzt ist er des Todes.“ meinte ich zu Evelyn. „Hast du schon Vodoo angewendet?“ Ich lehnte mich leicht zu Lilli herüber und sah nochmal zu den Typen. „Der da, mit dem Verband an der Hand?“ Lilli nickte stumm.

„Das möchte ich auch mal können.“ Ich lehnte mich wieder in meinem Plastikstuhl zurück und schloss besinnend die Augen.

„Ja, bei den Typen, die du schon alle durch hast.“ meinte Corinne, die ihren Salat in Rekordzeit verspachtelt hatte und sich nun um ihre zwei Cheeseburger kümmerte. Ich frage mich echt, wo sie das alles hin isst.

„Lilli erledigt das manchmal für mich.“

„Mit Erfolg.“ stimmte sie mir zu und aß ihren Auflauf fertig, der mittlerweile kalt geworden war.

Wir beschlossen also den neuen Laden unter die Lupe zu nehmen. Doch nicht bevor Lilli dem einem Typen ein Bein gestellt hatte und dieser sich auch noch den kompletten rechten Arm verletzt hatte. Schnell und Präzise, waren ihre leisen Worte zu unserem Tisch gewesen.

Viele erste Male

Das „HonkyTonk“ war keine Spelunke, sondern ein wirklich gemütlicher Laden mit einmaligem Flair. Wenn ich es spezifizieren müsste, wüsste ich nicht wie. Es hat alles, aber eigentlich nichts, was normalerweise zusammen passen würde. Dennoch hat man es geschafft den absoluten Stilmix perfekt zu integrieren. Ich war auch überrascht als ich die Karte sah.

„Wo waren die die ganzen letzten 10 Jahre?“ fragte ich und lies die Karte sinken.

„Unentdeckt mit ihrem Talent in einer Schule.“ meinte Lilli. „Die Besitzer hier sind nicht sehr viel älter als wir.“

„Oh.“ kam es nur von mir zurück. Ich drehte mich herum und versuchte jemanden zu entdecken, der hier nach Chef aussehen könnte.

„Haben die Damen sich schon etwas ausgesucht?“ Ich zuckte zusammen und setzte mich viel zu schnell wieder gerade hin. Corinne kicherte vor sich hin und tippte weiter in ihr Handy. Sie hatte mich wohl aus den Augenwinkeln gesehen und tat jetzt so, als würde sie über ihre eigene SMS grinsen.

Ganz vorsichtig sah ich zu dem Mann, zu dem diese wunderbare Stimme gehörte. Schon als ich bei seinem Hals angelangt war schlug mir das Herz schon bis zum eigenen. Eine kleine Stimme in meinem Hinterkopf flüsterte: „Nicht schon wieder...“

Als ich bei seinen Augen angelangt war, versank ich sofort darin. Das erste Mal in meinem Leben starrte ich jemanden an, der mich auch direkt ansah. Ich konnte nicht weg sehen, so wie eigentlich bei allen Männern. Die Musik um uns herum nahm ich nur noch als ein leichtes Wummern war. Dass ich meinen Atem angehalten hatte, vergaß ich ebenfalls. Das Einzige, was ich mitbekam, war der Drang meine Hand nach ihm auszustrecken und ihn zu berühren.

Doch dann wendete er seine Augen von mir ab und sah zu den anderen. Was bin ich nur für eine dumme Kuh? Natürlich hat er mich nur wie jeden anderen angesehen. Die kleine Stimme aus meinem Kopf kam nach vorn und verpasste mir mit irrsinnigem Spaß Kopfnüsse.

Evelyn bestellte für uns alle und der Kellner ging wieder. Mir war zum heulen zumute.

„Du hast es schon wieder gemacht.“ Corinne grinste bis zu beiden Ohren und lehnte sich so weit über den Tisch zu mir herüber, wie es ihre Größe zuließ. „Jedes Mal, wenn dich einer anspricht, zuckst du zusammen, Yara.“

Normalerweise konnte ich darüber mitlachen. Doch mein schmerzerfülltes Gesicht lies auch ihr Grinsen verschwinden. Dann ging ihr ein Licht auf und sie sah in die Richtung, in die der Kellner verschwunden war. Doch er war nirgends zu entdecken.

„Ach, Süße.“ sie ergriff meine Hand und beruhigte mich mit dem Gedanken, dass er ja mit unseren Bestellungen wieder kommen würde. Ein aufmunterndes Lächeln lag auf ihren Lippen, während ich trotzdem irgendwie Zweifel hegte.

Und ich behielt Recht. Der Mann kam nicht wieder. Sein Kollege, ein typischer Studententyp, servierte eher genervt als alles andere und fragte nicht einmal, ob wir etwas essen wollten. Ich war fertig mit der Welt. Selbst Lilli versuchte mich aufzumuntern und mich an meinen Drink zu erinnern, an dem ich einmal kurz genippt hatte und ihn seitdem stehen gelassen hatte. Wie eine Einheit verharrten wir auf unseren Stühlen, bis es Corinne reichte.

„Ey! Kellner!!“ blaffte sie ihn laut an. Es funktionierte wirklich. Der Student kam mit hochgezogenen Augenbrauen zu uns herüber und stützte die Arme in die Seiten.

„Möchten Sie noch etwas? Ich wäre sowieso gleich zu Ihnen gekommen.“

„Das bezweifle ich.“ murmelte Evelyn.

Kurz sah der Kellner zu ihr herüber, sichtlich genervt von uns. Doch Corinne zog seine Aufmerksamkeit sofort wieder zu ihr. „Sag mal, wo ist der andere Kellner? Der mit den schwarzen Haaren?“ Sie war direkt, was mich in diesem Moment mehr als freute, da ich nicht minutenlang schweigend dasitzen musste, bis sie endlich auf den Typ zu sprechen kam.

„Schwarze Haare?“

„Ja, tief schwarz.“ setzte Corinne nach.

„Hier arbeitet keiner mit schwarzen Haaren.“

All meine Hoffnungen zerbrachen in mir. Ich konnte den Scherbenhaufen praktisch hören, wie er Stück für Stück höher wurde.

„Ich möchte zahlen.“ Das erste Mal in meinem Leben fühlte ich mich fremd in meinem Körper. Ich schaltete den Autopiloten an und bezahlte mehr wie eine Maschine, als wie ein Mensch, ein weiteres „erstes Mal“. Die Mädels beeilten sich und zückten ebenfalls ihr Geld. Keine drei Minuten später waren wir aus dem überfüllten Raum raus und an der frischen Luft, die meinen Autopiloten ausschaltete. Ich stand da wie bestellt und nicht abgeholt. Ziellos sah ich die Straße rauf und runter. Sanft schob sich ein Arm unter meinen.

„Ich bring dich nach Hause.“ sagte Lilli zu mir und nickte dann den anderen zu.

„Gute Nacht.“

„Gute Nacht.... Yara...“ Corinnes Stimme hörte sich an, als wollte sie diejenige sein, die mich jetzt nach Hause brachte. Ich war mir auch nicht so sicher, ob Lilli die Richtige war um mich aufzumuntern und hätte viel lieber Evelyn bei mir gehabt. Aber Lilli erwies sich besser als alle Anderen. Sie führte mich bestimmt, aber nicht drängend zu meiner kleinen Wohnung. Ich erkannte die dreckigen Straßen und die vereinzelt herumlungernden Menschen, aber ich fühlte mich meinem zu Hause immer noch kein Stückchen näher. All mein Wesen klammerte sich an Lilli, die es wortlos auffing.

Als wir endlich in der Dachgeschosswohnung angekommen waren, wusste ich immer noch nicht, was ich mit dem angebrochenen Abend anfangen sollte. Ich wollte jetzt nicht egoistisch sein und wenigstens ein wenig normal sein. Doch Lilli buxierte mich durch das Wohnzimmer mit offener Küche, hier hängt auch mein Boxsack für den Fall aller Fälle, direkt in das kleine Schlafzimmer.

Lilli redete leise und meinte, dass ich mich umziehen sollte. Dann ging sie. Ich hörte auf sie, obwohl ich mir ziemlich kindisch vorkam. Wenigstens legte ich noch Nachtsachen für sie heraus, ehe ich unter die Decke kroch und sie mir über den Kopf zog.

Als Lilli wieder kam, hörte ich das Geräusch einer Tasse, die auf den Nachtisch gestellt wurde und dann wie sie sich umzog.

„Möchtest du was trinken, Yara?“ fragte sie sanft, als sie sich neben mich im Bett aufgesetzt hatte.

Ich schüttelte unter der Decke den Kopf. Nach einer Weile zog ich sie weiter herunter und sah zu Lilli, die mich mit der Tasse in der Hand ansah. Sofort schlug mir ein wunderbarer Duft in die Nase. Ich setzte mich auf und betrachtete die Tasse, die sie mir hinhielt. Der Tee war wirklich wunderbar und einschläfernd. Von Lilli wusste ich, dass roter Tee wie ein Schlafmittel wirkt.

Lilli wartete bis die Tasse leer war und nahm sie mir dann ab, sie selbst hatte sich gar keine Tasse gemacht. Schuldbewusst nuschelte ich etwas davon, dass ich ihr gar nichts gelassen hatte, doch sie drückte mich bereits in die Kissen zurück.

Meine Freundin lag die ganze Nacht neben mir und hielt meine Hand. Meine erste Befürchtung war völlig unnötig gewesen. Niemand wäre in dieser Nacht besser für mich gewesen, als Lilli. Obwohl es erst um zehn und ich noch gar nicht müde war, schlief ich fast augenblicklich ein.

 

Und ehe ich mich versah, war Montag und Corinne erzählte von dem Typen, den sie am Sonntag getroffen hatte. Anscheinend war es ein Flopp gewesen und sinnlose Zeitverschwendung.

Mir ging es wieder gut und Lilli... Ähm, ja. Sie tötete den Typen, dessen Arm sie schon verletzt hatte, gerade mit Blicken. Alles ging wieder seinen gewohnten Gang und ich war froh drum. Ich wollte nicht jemandem nach trauern, dessen Blick nur einmal auf mich gerichtet gewesen war. Ich kam mir selten dämmlich vor und hatte den Typen schon am Sonntagmorgen vergessen. Zumindest redete ich mir das ein.

„Was muss heute dran glauben? Sein anderer Arm?“ unbemerkt sah ich auch zu Lillis neuem „Freund“ herüber.

„Mach dich nicht lächerlich.“ meinte sie sanft. „Heute nehme ich mir sein Herz vor.“ Ihre vor Hass triefende, leise Stimme, lies sogar mich frösteln.

„Hat er dir auch eine fette Extraarbeit in Geschichte gegeben?“

„Nein, er hat sich entschuldigt.“ warf Evelyn ein.

„Oh, na dann wäre ich natürlich auch fuchsteufelswild.“ Fragend zog ich eine Augenbraue hoch und sah wieder zu Lilli.

„Und er hat sie gefragt, ob sie nicht zusammen in den einen Shop für okkulte Artikel wollten.“

„Das klingt nach einem Date.“ meinte Corinne auf Evelyns Erzählung hin und verteilte gerade Süßigkeiten an alle. „Kleine Nervennahrung für die letzten Stunden.“

„Lilli, vielleicht meint er es wirklich ernst.“ Wir wussten alle, dass Lilli aus Prinzip Single war.

„Das weiß ich.“ Ihre dunkel geschminkten Augen sahen zu mir.

Jetzt war ich wirklich verwirrt. „Wenn du es doch weißt, warum sagst du ihm nicht einfach, dass er sich das aus den Kopf schlagen soll?“

Und schon hatte sich ihr Kopf wieder zu dem Typen gedreht. „Weil ihn das nicht abhalten wird.“

Ich verstand die Welt nicht mehr. Endlich schien es jemandem wirklich ernst zu sein und dann kniff Lilli und versuchte ihm das Leben zur Hölle zu machen, damit er sie vielleicht doch endlich in Ruhe lies. Sogar Corinne benahm sich merkwürdig. Bisher hatte sie jeden Typen zu Höchstleistungen gebracht. Jeden hatte sie vorher mit ihrem Röntgenblick ausgesucht, bevor sie sich mit ihm traf. Und jetzt hatte es das erste Mal bei einem schon im Café gescheitert. Noch ein erstes Mal, manno man. Mit dem Argument, dass es nicht ganz ihr Tag gewesen war, konnte man auch nicht landen. Ihr Leben bestand scheinbar schon immer aus Dates und Liebhabern und auf einmal gelang es ihr nicht mehr, das Tier im Manne zu wecken? Das konnte ich nicht glauben. Nur Evelyn schien noch ganz die Alte zu sein. Auch wenn sie heute das Wort „Ex“ in den Mund genommen und sofort wieder ausgespuckt hatte.

Die gesamte Welt erschien mir irgendwie falsch. Auch als ich zu meiner Arbeit durch die kleinen Gassen lief, erschien mir alles in einem anderen Licht. Diese ganzen „ersten Male“ taten mir eindeutig nicht gut. Nein, sie schafften es mich völlig aus der Bahn zu werfen.

„Womit hab ich das verdient?“

„Weil du laut redest und das Unglück so weiß, wo es eine Chance hat.“

Ich fuhr in die Höhe und wirbelte herum. Was ich sah, konnte ich nicht glauben. Ich… Ich war… Er ist… und ich… oh mein Gott!

Ich stand nur ein paar Schritte vom „HonkyTonk“ entfernt und auf dessen Stufen stand der schwarzhaarige Kellner. Naja, eigentlich ist er ja kein Kellner, oder doch? Völlig überwältigt konnte ich keine schlagfertige Antwort herausbringen, nein, ich brachte gar kein Wort heraus. Ich überlegte viel lieber wie das möglich sein konnte. Das hier war mein ganz normaler Weg zur Arbeit, warum war mir das „HonkyTonk“ nicht schon früher aufgefallen? Die mussten doch renoviert haben oder irgendwas anderes.

„Wie wäre es mit einem Kaffee?“ Soll ich ehrlich sein? Ich war Wachs in seinen Händen. Aber warum nutzte der Kerl das so schamlos aus?

„Ja… nein!“ Puh, grad noch so die Kurve gekriegt. „Ich kann leider gerade nicht.“ Ich schenkte ihm mein schönstes Lächeln, immerhin wollte ich auf etwas hinaus. Ich glaube, meine Lippen waren aber nicht das, was ich versucht hatte zu formen.

„Oh, entschuldigen Sie, ich wollte sie nicht belästigen.“ Aaaahhhh! Darauf wollte ich ganz sicher nicht hinaus.

„Nein, ganz und gar nicht.“ Ich holte Luft und beruhigte mich soweit es ging. „Ich würde gerne einen Kaffee trinken, aber ich muss zur Arbeit.“

„Ach so, na dann kommen Sie doch einfach nach der Arbeit vorbei, oder morgen? Der geht aufs Haus.“ Er zwinkerte mir zu. Ich schmolz dahin wie ein Eis in der Sonne.

„Ähm, aber Ihr Kollege… der andere Kellner“ verbesserte ich mich schnell „... meinte Sie wären kein Kellner.“

„Bin ich auch nicht.“

„Und warum haben Sie dann gestern Abend unsere Bestellungen aufgenommen?“ Jetzt war ich doch misstrauisch. Und dabei hatte er so schöne Augen… und eine so schöne Stimme… und einen so schönen Mund zum… Aufhören!

Der Mann mit dem schwarzen Haar sah mich verdutzt an. Dann schien ihm ein Licht aufzugehen.

„Ach, das.“ Er grinste wie ein kleiner Junge, der gerade einen grandiosen Streich verübt hatte und es jetzt brühwarm seinen Kumpels erzählte. „Ich bin ein Freund des Besitzers und seiner Frau. Ich habe so was wie Narrenfreiheit und dachte mir, ich gönn mir einen kleinen Spaß.“

Ach so, Spaß. Dann ist es ja gut. Nein, warte, nichts ist gut! Spaß?!

„Aber als ich dann an Ihren Tisch kam wusste ich, dass es sich erst richtig gelohnt hatte.“ Konnte er Gedankenlesen? Oder hatte man mir meine Gedanken an der Nasenspitze angesehen? „Mein Blick fiel sofort auf Sie. Also wäre ich sehr froh, wenn Sie wirklich bald einen Kaffee mit mir trinken und ich sie länger ansehen kann. Ich bin jeden Tag hier.“

Das ist zu viel für mich. Ich glaub, ich werde gleich ohnmächtig. Ich hörte ein Klack in meinem Kopf als sich der Autopilot einstellte. Meine Rettung!

„Na, wenn das so ist, sehr gern. Ich werde sehen, wann es sich einrichten lässt.“ gab ich souverän von mir, mit einem bezaubernden Lächeln. Dann setzten sich meine Beine wie von selbst in Bewegung und ließen mich weiter zu meiner Arbeit gehen. Ich spürte förmlich seinen Blick in meinem Rücken. Okay, das war vielleicht nur Einbildung, aber immerhin eine atemberaubende. Hatte ich gerade wirklich die Unnahbare gespielt? Hatte ich ihn gerade wirklich stehen gelassen und war nicht sofort mit herein gekommen? Verdammt bin ich gut. Innerlich ballte ich im Siegesrausch die Hände zu Fäusten. Äußerlich kippte ich an der Theke um, kurz nachdem ich meine Arbeitsstelle betreten hatte.

Kompliziert

„Oh mein Gott!“

„Du sagst es: Oh mein Gott!!!“

„Yara!“

Mit dicken Wangen sah ich in die Runde. Vielleicht hätte ich nicht so beiläufig erzählen sollen, dass es den Typen doch gab und was gestern Mittag geschehen war. Unter beiläufig verstand ich mal den Mund soweit wie möglich um einen Burger zu schließen.

„Mas mis?“ gab ich Hamsterbäckchen von mir nachdem mich alle mit untertassentellergroßen Augen ansahen.

„Sie fragt ‚Was is?’ und dabei hat sie ein äußerst vielversprechendes Date… Im Gegensatz zu mir.“ betröppelt schubste Corinne mit einem Finger ihren Apfel.

„Ich freu mich so für dich, Yara!“ Und Evelyn hüpfte auf ihrem Stuhl während Lilli mich begeistert anlächelte. Kauend sah ich von einem zum anderen. Die Reaktionen waren doch etwas anders, als ich sie erwartet hätte.

„Jetzt macht aber mal halblang. Immerhin war es erst letzte Woche als ihr alle festgestellt habt, dass meine Beziehungen immer ein Flop waren und es wohl auch bleiben würden.“

„Hoffnungslos traf es eher.“ meinte Lilli nur und sah auf den Apfel von Corinne, der gefährlich nah an der Kante war. Sie schnappte blitzschnell zu und rettete das arme Obst vor dem Fall. „Mit Essen spielt man nicht.“

„Danke, ich wusste, dass nur ein kräftiger Schlag mit der Wahrheit mich wieder in die Realität zurück führen würde.“ Mein gespielter Spott war auch heute wieder alles, was normal an diesem Tag ablief. Heute war keine Lesung für Geschichte. Ob Herr Won sich wohl verletzt hatte? Höchstens an seinem Stolz. Es sei denn… Ich warf einen Blick zu Lilli, doch diese war so normal wie immer. Sie hätte bestimmt etwas gesagt, wenn sie gegen ihn vorgegangen wäre.

„Hach, ich fühl mich wie bei ‚Harry und Sally’.“

„Na dann wird das wohl erst nächstes Jahr was mit der Beziehung.“ trällerte Corinne.

„Quatsch! Wir haben den entscheidenden Vorteil.“ begann Evelyn zu kontern.

„Und was?“ jetzt war auch ich neugierig.

„Eine Fernbedienung zum vorspulen.“ platzte Lilli hinein. Man konnte förmlich sehen, wie Evelyn aus allen Wolken fiel, weil man ihr den Abschluss versaut hatte. Ich lachte nur und zwar solange bis sie alle lachten.

 

Endlich war es Abend. Evelyn hatte unbedingt darauf bestanden mir zur Seite zu stehen. Ob das ihr Grundgedanke war, oder ob sie einfach eine andere Definition davon besaß, weiß ich leider nicht.

„Erzähl noch mal, was hat er genau gesagt?“

„Evelyn.“ jammerte ich. Das war die gefühlte 1.000 Frage.

„Och bitte, nur noch einmal.“ bettelnd lief sie mir hinterher während ich mich langsam fertig machte. Vielleicht hatte ich ja Zucker am Hintern.

Seufzend erzählte ich noch einmal ganz von Anfang und versuchte jedes Detail noch einmal in mir wach zu rufen. Wenn man bedenkt, dass ich selber schon ein Nervenbündel war, was war dann Evelyn im Vergleich zu mir? Während ich mir das Gesicht im Flurspiegel schminkte, saß sie auf der gerade mal 50 Zentimeter hohen Kommode, spachtelte ihren Tortelliniauflauf und trieb mich immer weiter mit ihren Augen an.

„Und du willst da heute wirklich, ganz ganz ehrlich, nur so beiläufig auftauchen?“ ein schiefer Blick traf mich mit voller Wucht. Ich sah an mir herunter.

„Na ja, vielleicht nicht ganz beiläufig.“ Verlegen kratzte ich mich an der Wange.

„Und das da in deiner Tasche?“ Evelyn wies mit ihrer Gabel zu meiner geöffneten Tasche, die auf dem Esstisch stand.

„Ähm… ja…. also. Die sind… für…. für Notfälle.“ warf ich ein. Irgendwie ahnte ich schon, dass ich so leicht nicht aus der Misere raus kam.

„Und für welchen Notfall? Das du plötzlich in einer Wüste ausgesetzt wirst und sie zum Wassertransportieren benötigst?“

Ich dreh noch durch! „Evelyn, ich bin alt genug!“

„Stimmt.“ Sie sagte das so, als ob ich es doch nicht wäre. „Ja, ist ja gut.“ Sie gab klein bei, als sie meinen gekränkten Blick vernahm. „Ich wünsche dir jedenfalls viel…. Glück.“

„Evelyn!“

„Ist ja gut, ist ja gut. Spaß darfst du auch haben.“ Sie lachte. Warum war nur mir nicht zum lachen zumute?

Ich sah auf die Uhr. „Ich muss so langsam. Genieß den Film und ich hoffe mein Boxsack hängt noch, wenn ich wieder komme.“

„Geht klar, pass auf dich auf.“

„Ja, Mammi.“

„Und denk an deine gute Erziehung.“

„An meine was?“

„Genau die.“

„Ja, Mammi. Tschau, Mammi.“ sagte ich nur noch und dabei lachte ich so nervös wie ein Karnickel mit Schluckauf. Evelyn würde noch bleiben bis sie fertig gegessen und sich ihre Lieblingssendung bei mir angesehen hatte.

Als die Tür hinter mir ins Schloss fiel richtete ich noch einmal alles. Durchs laufen würde es zwar wieder verrutschen, aber ich musste meine Hände unbedingt beschäftigen. Auf der Treppe traf ich auf meine Nachbarin, Frau Pohl.

„Gehen Sie aus?“ fragte sie freundlich.

„Ja.“ ich schenkte ihr ein strahlendes Lächeln. Spätestens als sie mein Outfit gesehen hatte wusste sie bestimmt, wen oder was ich heute Abend treffen würde.

„Ich wünsche viel Spaß.“

„Danke.“ Noch eine, die das Wort Spaß so komisch betonte. Diesmal klang es aber irgendwie negativ.

„Yara!“

Ich sah nach oben. Evelyn beugte sich über die Brüstung und sah hinunter. „Ja?“ rief ich zurück.

„Lass es im Bett ordentlich krachen!“

Das hätte meine Mutter sicherlich nicht gesagt.

 

Das „HonkyTonk“ war überfüllt und das sogar an einem Wochentag. Unentschlossen stand ich an der Tür. Ich konnte nicht einfach durch den Raum stromern um mir einen Platz zu suchen. Anstatt nach einem Tisch Ausschau zu halten, würde ich doch eh nur nach dem Mann suchen. Das ging ja mal gar nicht! Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und versuchte über die Köpfe der Leute hinweg einen schönen Platz zu finden.

„Suchen Sie mich?“

Ich fuhr vor Schreck zusammen. Vielleicht hätte ich mich darauf einstellen sollen, dass er mich zuerst findet, nicht anders herum.

„H-hi!“ Ja, Yara, stell dich doch gleich als Mensch mit Sprachfehler vor. „Ich… äh… suche eigentlich einen Platz.“ Diese ständige Eigenkritik macht es vielleicht nicht gerade besser, überlegte ich so nebenbei.

„Kommen Sie mit, ich weiß wo noch Plätze sind.“

Brav folgte ich ihm durch die. Meine Augen sahen ständig an seinem Rücken entlang. Ich empfand das als recht guten Orientierungspunkt. Wenn ich nur mal kurz nach vorne gesehen hätte, hätte ich vielleicht nicht wie ein Eichhörnchen geschaut, als wir plötzlich vor einem komplett leeren, reservierten Tisch mit Kerzen standen. Der schwarzhaarige Mann stand hinter einem bequemen Stuhl. Während ich versuchte mich so beiläufig wie nur möglich hinzusetzten, strich ich mir eine Haarsträhne hinter mein Ohr und schielte zur Seite. Wir waren im hintersten Teil der Lounge und der Abstand zu den anderen Stühlen und Tischen war größer als sonst wo in dem kompletten Raum.

„Was möchten Sie bestellen?“ erklang seine melodische Stimme von der Seite nachdem er meinen Stuhl vorgeschoben und sich selbst gesetzt hatte. Was war nur mit mir los? Yara! Reiß dich zusammen, schallt ich mich innerlich selbst.

„Also… ich…“

„Hm…“ gab er nach kurzem Schweigen von uns beiden von sich. Dann setzte er sich mir gegenüber. „Anscheinend mache ich Sie nervös, oder?“ Und schon wieder wusste er, was ich dachte. Ich nickte nur stumm auf seine Frage hin.

„Kann ich vielleicht irgendwie helfen, damit es Ihnen besser geht?“

Das war zuviel. Ich schüttelte viel zu energisch den hochroten Kopf, stotterte irgendwas davon, dass ich auf die Toilette wollte und verließ eiligst den Tisch um in der Mengeunterzutauchen. Ich hatte jetzt die Wahl. Weiter geradeaus war die Tür, etwas links davon die Toilette. Wollte ich fliehen oder mich zusammen raffen? Ich entschied mich für die dritte Option: Ich ging auf die Toilette um zu überlegen, ob ich dann flüchten sollte.

Die Zeit verstrich, während ich alleine auf der Toilette war und mich mit dem Rücken an die kalten Fließen anlehnte. Meine Nervosität würde alles vermasseln, wenn ich so weitermachte, was mir vollauf bewusst. Im Grunde traute ich dem Typen nicht. Er war nett, keine Frage, aber viel zu nett. Er war zuvorkommend, er sah gut aus, er war freundlich, sprich ein Mann, den ich für ein Märchen hielt. Leider war ich zu alt um an solche Märchen zu glauben. Ich entschied, dass ich gehen sollte, aber wenigstens ein kurzes Gespräch wollte ich noch mit ihm aufbauen. Da klopfte es. Warum klopfte es auf einer öffentlichen Toilette in einer Lounge?

„Ähm, ja?“

„Ich bin es.“ Ich erkannte die Stimme nicht und suchte die Toilette nach anderen Leuten ab, doch hier war niemand. „Also, ich bin Tian, der mit den schwarzen Haaren.“

„Achso! Moment, ich bin gleich fertig.“ Hastig drehte ich den Wasserhahn auf und nach einer Weile wieder zu. Ich wusste nicht genau, ob er es überhaupt gehört hatte, aber sicher war sicher. Dann trat ich gänzlich gelassen aus der Mädchentoilette in den überfüllten Raum hinaus.

„Du, ich glaub, ich hab dich wirklich etwas verschreckt.“ gab er betreten von sich.

„Naja, weißt du…“ begann ich, doch er fiel mir ins Wort.

„Nein, stimmt schon, ich bin doch etwas forsch ran gegangen.“ Es entstand eine merkwürdige Pause in der ich nicht genau wusste, ob er eine Antwort von mir erwartete. Er sah sich etwas um, legte eine Hand in den Nacken und schien zu überlegen.

„Weißt du, du bist mir wirklich sofort ins Auge gesprungen, als ich an eurem Tisch ankam… Wie wäre es, wenn wir ganz von vorne anfangen?“ fragte er dann hoffnungsvoll.

Meine Gedanken rasten. Plötzlich nahm ich seine Hand, zog ihn zu unserem Tisch zurück und schnappte mir die Karte, noch ehe er sich hingesetzt hatte. Ich kleiner Wirbelwind saß bereits.

„Oh, willst du dich nicht setzen? Ich glaube nicht, dass du sonst irgendwo einen freien Platz findest.“

Tian sah verdutzt drein und grinste schließlich. Dann setzte er sich. „Danke. Aber seit wann sind wir beim „du“? Ich meine, wir kennen uns gerade mal 3 Sekunden.“

„Och, du bist mir nun mal sofort ins Auge gesprungen.“ Ich zwinkerte ihm zu. „Was kannst du denn empfehlen, Tian?“

Es war verrückt. Gerade eben hatte ich nicht mal ein Wort vernünftig herausgebracht. Aber durch diese äußerst verquere Situation war alles wie weggeblasen. Ich war wirklich gelassen, so gelassen, als würde ich mit meinen Freundinnen zusammen sitze. Es war so ungewohnt mit einem Mann, der außerdem noch so gut aussah und anscheinend Interesse an mir hegte, so unbefangen umzugehen.

Wir lachten, wir erzählten, wir scherzten und vergaßen völlig die Zeit. Ich war wirklich überrascht, als es plötzlich nach halb eins war. Ich hätte es wahrscheinlich auch nie bemerkt, wäre ein Kellner nicht an unseren Tisch getreten und uns mitgeteilt, dass man gerne schließen möchte.

Ich sah mich um. Der vorher total überfüllte Raum war jetzt gähnend leer. Mein Hintern war nur irgendwie am Stuhl festgeklebt.

Tians Blick traf mich. Ich versuchte herauszufinden was er dachte. In einer fließenden Bewegung stand er auf und lehnte sich über den Tisch.

„Wie wäre es, wenn wir uns morgen einen anderen Ort suchen?“ flüsterte er mir zärtlich ins Ohr. „Wir könnten ins Kino oder irgendwo anders hingehen.“ Sein leicht kitzelnder Atem entfernte sich wieder von meinem Ohr.

Mit hochrotem Kopf nickte ich. „Ja, gerne.“

„So um 15 Uhr?“ Hat er gerade vorgeschlagen, dass wir den kompletten Nachmittag und Abend miteinander verbringen? Ich nickte und lächelte als wäre ich ein Roboter, dem man das einprogrammiert hätte.

„Gut, soll ich dich abholen?“

Das brachte mich schlagartig in die Realität zurück. „Nicht nötig!“ wehrte ich ab. Was würde er denken, wenn er herausfand, dass ich in so einer heruntergekommenen Gegend wohnte. „Treffen wir uns doch wieder vor dem Eingang des ‚HonkyTonk’.“

„Auch in Ordnung.“ er stellte sich gerade hin. „Aber nach Hause bringen darf ich dich doch, oder?“

„Ich bitte dich, dass musst du nicht.“ Warum reitet der ständig auf dem Thema rum!

„Ich bestehe darauf.“ Sein zuckersüßes Lächeln lullte mich doch wirklich schlagartig ein. Wie benebelt zog er meinen Arm unter seinen und hielt meine Hand. So eingehakt konnte ich nicht mehr fliehen.

„Oh nein…“

„Hast du was gesagt?“ Wir waren schon auf dem Weg zur Tür.

„Ja-aa. Ich wohne in einer wirklich unschönen Gegend. Was wirst du von mir denken?“ Mir fiel wirklich nichts anderes ein, als die Wahrheit zu sagen. Die Idee zu lügen und zu erzählen, dass meine Mammi draußen im Auto warte um mich abzuholen, wäre leider nicht ganz glaubwürdig gewesen. Niedergeschlagen ließ ich den Kopf hängen und war deshalb umso überraschter, als Tian plötzlich zu lachen anfing.

„Das macht doch nichts. Umso besser wenn ich dich nach Hause bringe.“

Seine Ãœberredungskünste sind wirklich erste Sahne, dass muss man ihm lassen. Ich gab mich geschlagen und fügte mich meinem Schicksal. Während dem kleinen Spaziergang erzählten wir weiter, als würden wir noch immer im „HonkyTonk“ sitzen. Irgendwo tief in mir drinnen war so ein kleiner Funke, der mir immer stärker mitteilte, dass Tian der Richtige war. Ich versank in seinem Blick und wollte ihn am liebsten nie wieder loslassen. Nur schade, dass er losließ, als wir ankamen. Warum war ich eigentlich keinen Umweg gelaufen, ich dumme Kuh?

„Ich wünsche MyLady eine gute Nacht.“

Ich stand einfach nur da. Meine Augen sahen in seine, irgendwie wollte ich diesen Moment festhalten und für ewig hier stehen. Der kalte Nachtwind ließ mich frösteln und das romantische Bild zersprang, die Realität hatte mich wieder. Ich legte schützend die Arme um mich.

„Das wünsche ich dir auch.“

Dann ging alles ganz schnell. Er machte einen schnellen Schritt, schob seine Hand unter mein Kinn um es anzuheben und küsste mich. Ich hatte nicht einmal Zeit meine Augen zu schließen, da war es schon wieder vorbei. Zur Salzsäule erstarrt spürte ich, wie seine Hand, die er wegzog, mich sanft an Kinn und Wange streichelte.

„Sei nicht traurig, Yara. Morgen sehen wir uns wieder.“ er lächelte ein wahnsinnig bezauberndes Lächeln.

„Ja.“ meine Laune hatte sich ins unermäßliche gehoben. „Ich freu mich schon.“

Mit diesen Worten sah ich ihm hinterher bis er verschwunden war. Schwungvoll und voller Ãœbereifer drehte ich mich herum und machte mich daran, die Tür aufzuschließen. Dieses Hochgefühl beflügelte meine Schritte und ich rannte mehr die Stufen hinauf als sonst etwas. Auch in meiner Wohnung hätte ich am liebsten die gesamte Welt umarmen können. An Schlaf war nicht zu denken. Ich knuffte meinen Boxsack freundschaftlich und überlegte schon, wie ich ihn bald nicht mehr brauchen würde, da mir sowieso die Zeit fehlen würde. Außerdem würde ich mit dem wundervollen Tian über alles reden können. Wir würden stundenlang unsere Lieblingssendung sehen können. Gemeinsam ein 3-Gänge-Menü zaubern. Uns gegenseitig Geschichten vorlesen. Und einen Geschichtsaufsatz schreiben… Moment! Ich lief zurück!

„Aaaahhhh! Scheiße!!!“

Ich hatte Recht, Schlaf gab es diese Nacht wirklich nicht.

Tops und Flops

„Es gibt Dinge, die ein Mensch tun muss und es gibt Dinge, die ein Mensch nicht tun muss.“

„Aha.“ meine gedämpfte Stimme verriet, dass ich nicht gerade für Konservation zu haben war. Mein Kopf lag auf dem Tisch in der Mensa und ich fühlte mich hundeelend.

„Evelyn hat Recht, Yara. Wir sind hier doch nicht in der Grundschule.“ Langsam hob ich den Kopf. War denn hier niemand am Tisch, der nachvollziehen konnte, warum ich heute Nacht nur 3 Stunden Schlaf bekommen hatte. Vielleicht Lilli. Ich lies mich langsam zur Seite und an ihre Schulter rutschen.

„Lilli? Du verstehst mich doch sicherlich, oder?“

„Kein Stück.“

„Was für eine unfaire Welt.“ Ich setzte mich wieder gerade hin.

„Wir sind nicht unfair. Wir meinen es nur gut.“ beschwichtigte Evelyn mich. Ich war froh. Nicht über ihre Worte, sondern weil sie endlich nicht mehr Tausende von Fragen stellte.

„Da fällt mir ein, wie war das jetzt eigentlich noch mal mit dem Spaziergang?“

„Ich musste es ja beschreien.“ Mein Kopf fiel wieder mit einem lauten Klonk auf den Tisch.

„Hä?“

„Yara, willst du nicht was Essen? Du hast deine Lasagne gar nicht angerührt.“ Jetzt löcherte mich auch schon Corinne mit Fragen.

„Nein… mag nicht…“ grummelte ich müde. Das darauffolgende Magengrummeln verriet mich aber trotzdem. Nicht mal der hält zu mir! Ich setzte mich auf. Corinne fing an mich zu füttern, aber nach dem dritten Versuch nahm ich ihr die Gabel aus der Hand.

„Ok, ok. Es reicht! Ich reiß mich zusammen.“

„Tapfer, tapfer.“ Corinne klopfte mir mütterlich auf den Rücken.

„Ich sagte, es reicht.“

Das ist doch mal wieder ein ganz erholsamer und friedlicher Mensabesuch. Nein, im Ernst, es war die Hölle. Ich kam mir vor, als hätte ich Hummeln im Hintern. Nur mit aller Macht konnte ich meine Gedanken und meine vier Buchstaben beruhigen. Ich versuchte mich einfach mit anderen, früher wichtigen Dingen abzulenken. Zuerst versuchte ich es bei Corinne.

„Nee, ich hab das ganze Wochenende nichts vor. Und du?“ Also am liebsten würde ich mich an Tian kleben und nie wieder von ihm lösen. Aber das konnte ich ja in Wirklichkeit schlecht sagen, immerhin spielte Corinne auf ein Weiberwochenende an und ich wollte sie nicht kränken. Also antwortete ich mit einem wagen „Keine Ahnung. Vielleicht können wir ja was zusammen machen.“

Hey, was ist? Immerhin schon mal ein „vielleicht“.

Nächster Versuch, diesmal Evelyn:

„Hat dein ‚Freund’ sich mal wieder gemeldet?“

„Nein. Ist doch auch egal. Viel lieber würde mich interessieren, was Tian zu….“

Au backe! Schnell ne kurze Antwort und letzter Versuch:

„… Lilli?“ ich folgte mal wieder ihrem Blick, der diesmal tödlicher als sonst war.

Kurz sah sie zu mir und vernahm mit Unwillen meinen fragenden Blick. „Er hat mich verfolgt, der Bastard!“

Ich sah immer noch fragend drein.

„Gestern! Von der Uni bis nach Hause! Ich hab sogar versucht ihn von einem Auto überfahren zu lassen.“

Verdammt! Das störte mein überglückliches, verliebtes Chi auch. Nein, ehrlich, es ist das Chi!

 

Heute war niemand mitgekommen. Vielleicht hatte ich die anderen mit meinem Desinteresse doch etwas verärgert. Aber nur ein wenig… oder? Ich betrachtete mich selbst im Spiegel. Ich erkannte mich nicht mehr. Ich hatte zwar Augenringe und ein Dauergrinsen im Gesicht vor lauter Vorfreude, aber das war irgendwie nicht ich. Ich war kurz davor wie eine von diesen Frauen zu werden, die für ihren Typen ihre Freundinnen vernachlässigen. Also fasste ich einen Entschluss.

Ich zückte mein Handy und tippte eine Nachricht, die ich an Corinne, Evelyn und Lilli schickte:

„Tut mir Leid wegen vorhin, Mädels. Ich bin ein ignorantes Arschloch! Vielleicht wollen wir am Wochenende mir ein Schild umhängen? Es tut mir wirklich Leid. Ich hab euch doch lieb!!!“

Nicht gerade die geistreichste SMS von mir, aber immerhin etwas. Ich legte das Handy weg und rollte mir mit einem von diesen neumodischen Kosmetikstiften gegen Augenringe über die Lider.

Dann ging mein Handy. Ich zuckte zusammen und sah nach unten auf die Kommode, auf der Evelyn gestern noch gesessen hatte. Panik stieg in mir hoch. Was war, wenn sie mir nicht so einfach verzeihen wollten? Was war, wenn Evelyn nie wieder dort sitzen würde?

Zittrig griff ich nach dem Mobiltelefon. Und lies es beinahe fallen, als eine zweite SMS kam und ich mich wieder erschreckte. Bei der dritten kreischte ich sogar erschrocken auf. Ich hatte doch ein schlechteres Gewissen, als ich gedacht hatte. Mit flatterigen Nerven las ich die erste SMS.

„Ach, mach dir nichts draus. Wir waren alle mal so ? Und werden es auch irgendwann wieder sein. Kein Grund für ein schlechtes Gewissen. Evelyn.“

Nummero zwei:

„Auf Schilder hab ich zwar keine Lust, aber ich freu mich wirklich, wenn man mit mir alter Schachtel noch was machen möchte. Nachdem mich ja alle anderen fallen lassen. Nur Spaß! Girlpower! Wir haben dich doch auch lieb, Yara. LG Corinne.“

Ich war glücklich. Nicht so nervös glücklich, wie bei Tian, sondern beruhigt glücklich. Also noch die letzte SMS:

„Ich bring ihn um!“ Hää? Ich las schnell weiter. „Wenn der am Wochenende mir auch hinterher stalkt, dann erwarte ich von euch, dass ihr mir helft ihn irgendwo im Wald zu vergraben!!! Und übrigens: Was meinst du? Du hast doch gar nichts gemacht ?.“

Wenigstens auf eine in unserer Gruppe war noch Verlass. Mein überglückliches Lachen kam mir so neu vor. Vielleicht… weil ich jetzt alles hatte, was ich je wollte?

 

Beruhigt und bestärkt eilte ich die Treppe herunter. Natürlich hatte ich mich total in der Zeit verschätzt und musste mich jetzt beeilen um pünktlich zu sein. Und übrigens: dieser neumodische Kosmetikkram hilft nicht! So viel dazu! Ich hatte es dann doch wieder mit den guten alten Eislöffeln für die hastige Frau versucht und sah jetzt doch wieder einigermaßen vorzeigbar aus.

Während ich der Treppe immer weiter nach unten folgte fühlte ich mich irgendwann wie der Hase in „Alice im Wunderland“. Das waren doch über Nacht mehr Stufen geworden, oder?

Endlich unten, warf ich die Tür scheppernd hinter mir zu, was ein lautes „Ey!“ aus einer Wohnung hervorrief und rannte beinahe Tian um, dessen Gesicht von Freude in Panik wechselte, als ich immer noch nicht nach vorn sah und dennoch los rannte. Heute war echt nicht mein Tag.

Ich hatte den peinlichsten Auftritt in der gesamten Geschichte der Dates hingelegt. Ich hätte Tian, den gedanklich schon fest eingeplanten Vater meiner Kinder, beinahe umgerannt und auf die Straße geschubst. Aber stattdessen hatte ich gerade noch so die Kurve gekriegt, war gestolpert und direkt mit dem Kopf voraus in einer Mülltonne ohne Deckel gelandet. Zu guter letzt war ich gemeinsam mit dieser dann umgekippt. Körperlich betrachtet war das schon eine reife Leistung und es drehte sich auch nur ganz kurz alles ehe ich begriff, was ich gerade gemacht hatte und worin ich steckte. Wenn ich die Person erwische, die den Deckel nicht drauf gemacht hat!

„Yara? Ist alles in Ordnung?“ Tian!!!

Vor lauter Schreck wollte ich abrupt aufstehen. Auf das darauffolgende Donk folgte ein „Uh!“ meinerseits. So lag ich da, bis Tian mir heraushalf. Am liebsten wäre ich sofort wieder reingekrabbelt, hätte den Deckel drauf getan und wäre gestorben.

Ich erhaschte nur flüchtig seinen Blick während er da so vor mir in die Hocke gegangen war und versuchte herauszufinden, ob ich mir ernsthaft was getan hatte.

„Hast du dir wehgetan? Fehlt dir was?“

„Ich möchte bitte sterben.“ antwortete ich wahrheitsgemäß.

Tian zog fragend eine Augenbraue hoch und lächelte anschließend. „Ach, Unsinn. Das war Pech, nichts weiter.“

„Nein, so was passiert nur mir!“ Ich konnte und wollte ihm nicht glauben. Innerlich lachte er mich sicherlich aus, so wie es jeder Mann tun würde, wenn sein Date in der Mülltonne landete.

„Gut, dann mach ich dir einen Vorschlag.“ er grinste so bezaubernd, dass ich kurz vergaß was passiert war. Doch dann holte mich erneut die Panik ein. Vielleicht würde er jetzt in etwa so was sagen wie, dass wir uns ja morgen treffen könnten. Und dann würde er natürlich nicht auftauchen. Oder er könnte…

„Ich bring dich jetzt nach oben, du ziehst dich um und wenn es hilft, dann geh ich auch vor die Tür und klingle um dich abzuholen. Wie klingt das?“

Ich, bitte was? Schon wieder etwas, was zu schön um wahr zu sein war.

„Das… das wäre wunderbar.“ Ich brachte ein einigermaßen annehmbares Lächeln zustande nachdem ich die Bandbreite seiner Aussage begriffen hatte. Kurz darauf wurde ich schon hochgezogen. Was für kraftvolle Arme. Ich schmachte, ich brenne, ich sterbe.

So ging es also wieder zurück in meine Wohnung. Schnell verschwand ich ins Schlafzimmer.

„Du hast ja einen Boxsack.“ stellte Tian fest.

„Ähm, ja.“ rief ich nervös zurück. „Setz dich doch. Oder bedien dich, wenn du was trinken magst.“

Hastig suchte ich nach alternativen Kleidungsstücken und riss hier und da Teile ganz unten aus dem Stapel. Schnell stand ich in einem Meer aus Hosen, T-Shirts und Tops ehe ich das richtige fand, was einigermaßen akzeptabel war.

Jetzt nur noch ins Bad und den Gestank los werden. Gesagt, getan. Wie ein Speedy Gonzales flitzte ich ins Bad und warf dabei ein „Ich brauch noch kurz“ über meine Schulter. Ich hätte meine Worte nicht falscher wählen können. Ich lies es gleich bleiben mich mit kleinen Mitteln „geruchsneutral“ zu kriegen und sprang lieber gleich unter die Dusche. Das Ergebnis war gut, aber nicht gerade sehr gut. Ich kam mir immer noch dreckig vor. Also erst die Schminke ab und dann noch mal die komplette Grundreinigung von heute Mittag. Nach einer halben Stunde fühlte ich mich endlich sauber, aber immer noch nicht trocken. Hektisch versuchte ich mich zu beeilen, was wie immer, im totalen Chaos enden sollte. Durch meine hektischen Bewegungen flog so manches auf den Boden was irgendwann ein „Boah! Scheiße!“ aus meinen Mund fahren lies. Kurz darauf hörte ich Tian lachen. Nein! Nein, nein, nein!!! Zügle dich, Yara, oder ich hau dir die Finger ab!

„Nur keine Panik! Wir haben doch Zeit.“ Ja, ganz toll, Tian. Komm mir noch mit Verständnis, dann fühl ich mich gleich viel besser, dachte ich mit Sarkasmus, der sich dann aber in wohlige Gefühle auflöste. Was hatte ich erwartet? Dass er wie alle anderen Idioten das Handtuch wirft, weil es mal länger dauert? Irgendwie konnte ich nicht glaube, dass er so eine Sorte von Mensch war. Außerdem hatte er immer noch sehr entspannt geklungen.

Etwas weniger nervös und hastig fing ich erneut an mich fertig zu machen und kam nach weiteren 35 Minuten endlich wieder aus dem Bad. Tian stand auf und lächelte.

„Tut mir Leid, dass es so lange gedauert hat.“ Ich ging zu ihm.

„Das macht doch nichts.“ Seine Blicke wanderten über meinen gesamten Körper wodurch ich sofort errötete. „Das soll jetzt nicht negativ klingen, aber jetzt bist du noch schöner, als vorher.“

Ich lächelte und versuchte seinem Blick auszuweichen, der mich schier um den Verstand brachte. Die Stimmung zwischen uns war jetzt nicht mehr ganz so gemütlich. Nein, sie brannte regelrecht. Ich spürte es instinktiv, als seine Augen immer wieder die meinen suchten.

Er packte mein Handgelenk und zog mich zu sich. Sofort spürte ich seine Lippen auf meinem Mund, der sich ihm begierig öffnete. Auf den einen Kuss folgten so viele, immer wilder und leidenschaftlicher. Er drückte mich gegen die Wand und setzte seinen Mund an meiner Halsbeuge an. Mein ganzer Körper zitterte. Während seine Hand unter mein Oberteil wanderte und mir lauter Schauer durch den Körper jagte, wusste ich nur noch annähernd, wo oben und unten war. Seine geschickten Finger waren wirklich atemberaubend. Kurz öffnete ich meine Augen, als ich wollig aufstöhnte. Mein Blick fiel auf den Tisch, auf dem eine meiner schmalen Vasen stand in der sich Wasser und eine einzelne Rose befand. Tian hielt inne, als er bemerkte, dass ich abwesend war und folgte meinem Blick.

„Ich dachte mir, ich stelle sie in eine Vase, solange du duscht.“ Oh mein Gott! War er wirklich der perfekte Mann? So etwas gab es doch angeblich nicht. Das musste ein Traum sein, aus dem ich bald aufwachen würde. Ach nein, erinnerte ich mich, er hatte uns ja veralbert als er den Kellner gespielt hat. Das reichte mir als Argument, dass er nicht ganz, aber zu 99% perfekt war.

 

Als ich später am Abend erwachte musste ich kurz überlegen, wo ich war. Meine Gedanken kreisten zurück und lullten mich völlig ein. Es war atemberaubend dieses Gefühl. Es war ganz tief in mir drin und beruhigend. Tian war der Richtige, ich wusste es, ich hatte es immer gewusst. Es stimmte einfach alles, es war perfekt. Langsam und mit geschlossenen Augen drehte ich mich auf die andere Seite um mich an diesen für mich perfekten Mann zu schmiegen. Doch da war niemand.

Ich öffnete die Augen und starrte auf meine Hand, die auf dem kalten Laken lag. Nichts. Hastig setzte ich mich auf und sah mich im Zimmer um. Gar nichts. Ruhig, Yara, ruhig. Denk nicht schon wieder vorschnell. Meine eigenen Gedanken beruhigten mich etwas. Ich stand auf, wickelte mir die Decke um den Körper und lief aus dem Zimmer.

„Tian?“ Keine Antwort. Wohnzimmer und Küche waren leer. Ich lief an der Wand entlang zu Bad und Flur. „Tian??“ rief ich etwas lauter, vielleicht war er ja auf der Toilette.

 

Bei 3 Mädchen gleichzeitig ging keine 2 Minuten später das Handy wegen einer SMS.

„Er ist weg…“

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TyraLeonar
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