Die goldene Kutsche
Anna hat heute einen schlechten Tag, einen sehr schlechten sogar. Schon beim Frühstück hat es begonnen – kein Kuchen, kein Toast, nur Schwarzbrot und Tee. Mama hat sich zu einer strengen Diät entschlossen und da muss, wie immer, die ganze Familie mitmachen. Jetzt gibt es jeden Tag nur Obst, Gemüse und Vollkornprodukte. Schon der bloße Gedanke daran, verdirbt Anna jeglichen Appetit. Gottlob halten Mamas Vorsätze meist nur bis zum nächsten Wochenende, doch bis dahin sind es noch einige Tage.
Heute ist sie jedenfalls in die Stadt gefahren, um all diese schrecklich gesunden Sachen einzukaufen und Anna muss den Tag mit ihrem Vater - einem Winzer - im Weinkeller verbringen. Ein Ort, den sie nicht besonders liebt. Im Keller ist es kalt, feucht und riecht modrig, aber Vater scheint sich hier wohl zu fühlen.
Missmutig setzt sie sich hinter dem Keller in die Sonne. Hier war es wenigstens einigermaßen gemütlich. Wenn sie nur ein Buch oder ein Spiel mitgenommen hätte, aber so wird es sicher ein furchtbar fader Tag. Gelangweilt blickt sie auf die große Himbeerhecke hinter dem halb verfallenen Nachbarkeller. Ein Schwarm Wespen hat sich dort bereits eingefunden und nascht von den herrlichen roten Früchten. Ja, süße Himbeeren würden ihr jetzt, nach ihrem kargen Frühstück auch ganz gut schmecken. Sehnsüchtig betrachtet sie das lustige Treiben der Tierchen. Vati hat ihr streng verboten, das Nachbargrundstück zu betreten. Es sei zu gefährlich, hat er gesagt. Warum wohl? Wegen der paar Wespen? Die würden sie bestimmt nicht stechen, wenn sie vorsichtig war und sie würde auch schnell wieder zurück sein, andererseits würde Vati sehr wütend werden, wenn er es erfahren würde. Doch wie sollte er es tief unten im Keller erfahren?
Die süßen Früchte locken immer mehr, sie kann nicht länger widerstehen und läuft zur Hecke. Wie gut sie doch schmecken. Eine Himbeere nach der anderen wandert von der Hand in den Mund. Die schönsten wachsen auf den höchsten Zweigen und gerade als sie sich weit ausstrecken will, um den obersten Zweig zu erreichen, passiert es. Ein Knistern und ein Krachen, der Boden unter ihren Füßen gibt plötzlich nach und sie versinkt tief im Erdreich. Aus lauter Angst beginnt sie laut zu schreien und will sich an den dornigen Zweigen festhalten, doch immer tiefer und tiefer rutscht sie hinunter, um dann mit einem Ruck auf hartem Boden zu landen.
Ringsum nichts als Dunkelheit. Ihre Hände sind von den Dornen zerkratzt, ihr rechter Fuß schmerzt und noch immer fällt Erde auf ihren Kopf. Instinktiv rückt sie etwas zur rechten Seite, denn dort scheint mehr Platz zu sein. Nach einiger Zeit wird es um sie ruhig. Zaghaft öffnet sie die Augen und gewöhnt sich langsam an die Dunkelheit. Hohe Wände aus lehmiger Erde, Grasbüschel und Himbeersträucher, die mit ihr heruntergefallen sind, aber sonst ist nichts zu sehen. Eine Höhle! Sie ist allein, gefangen in einer großen Höhle. Leise beginnt sie zu weinen. Ob Vati von dieser Höhle gewusst hat und ihr darum verboten hat zu den Himbeeren zu gehen?
Als sie versucht aufzustehen, stolpert sie und fällt über eine Stufe. Dabei bemerkt sie, dass ein Gang von der Höhle aus, noch tiefer in den Berg führt. Vielleicht ist das ein Weg ins Freie, hofft sie und geht langsam die Stufen hinunter. Der Gang ändert mehrmals seine Richtung, führt über Stufen hinauf, dann steil hinunter und endet schließlich in einem großen, kreisrunden Raum.
Ringsherum stehen - von einer dicken Staubschicht bedeckt - Bänke und Tische und in der Mitte scheint allerlei Gerümpel zu liegen. Obwohl Anna nirgends eine Lampe sehen kann, erscheint alles in geheimnisvollem, blauen Licht und macht einen gespenstischen Eindruck. Neugierig geworden, will Anna ein langes Holzstück aus dem Weg räumen, da sieht sie ein großes, gelbes Rad. Nicht nur ein Rad, vier Räder, ja eine ganze Kutsche steht hier, von Gerümpel, Staub und Spinnweben fast verdeckt. Darin ist bestimmt einmal eine wunderschöne Prinzessin gesessen, ist sich Anna sicher, denn solche Kutschen kennt sie aus ihren Märchenbüchern. Vielleicht war es auch eine Postkutsche, denn vorne, dort wo sie mit ihren Händen das Rad berührt hat, kann man es gelb schimmern sehen. Sie klettert auf den Kutschbock und stellt sich vor, selbst der Postillon zu sein. Der Gedanke, mit einer großen Postkutsche von Stadt zu Stadt zu fahren, dabei immer neue Leute kennen zu lernen und überall sehnsüchtig erwartet zu werden, bereitet ihr sichtlich Vergnügen und sie beginnt laut zu singen: „Hoch auf dem gelben Wagen...“. Vielleicht liegen hinten in der Kutsche sogar noch einige Pakete oder Kisten mit einem wertvollen Schatz. Schnell klettert sie wieder herunter und öffnet die Tür. Doch was soll das? Keine Pakete oder Kisten, nein – nur Weinfässer liegen in der Kutsche. Enttäuscht will sie wieder die Tür schließen, da fällt ihr die Sage von der goldenen Kutsche ein.
Ob das eine goldene Kutsche ist? Gespannt untersucht sie jetzt die Kutsche gründlicher und reibt mit der Hand an den Türklinken. Tatsächlich, sie beginnen zu glänzen – Gold. Alles ist aus purem Gold. Sie hat die berühmte goldene Kutsche gefunden. Oft schon hat sie die Sage von der goldenen Kutsche gehört, die voll beladen mit Weinfässern vor vielen, vielen Jahren, von den Einwohnern der Stadt vor den herannahenden Feinden in einem tiefen Keller in Sicherheit gebracht worden sei, doch richtig daran geglaubt hat sie nie. Der Sage nach, wäre der Wein für den König bestimmt gewesen, deshalb sei er auch in goldenen Fässern transportiert worden. Jedes Jahr wäre eine andere Stadt dazu verpflichtet gewesen, zum Dank für den Schutz des Königs, seinen Weinkeller zu füllen. Bevor jedoch damals der Kutscher mit seiner wertvollen Fracht auf die lange Reise gehen konnte, hätten Feinde die Stadt angegriffen. Kurze Zeit später hätte dann ein gewaltiges Erdbeben die Stadt verwüstet und den Eingang des Kellers verschüttet, sodass niemand mehr die Kutsche finden konnte. Der König hätte vergebens auf seinen Wein gewartet und sei darüber so erzürnt gewesen, dass er der Stadt seinen weiteren Schutz verweigerte und seine Soldaten zurückzog. Immer wieder hätten dann Räuber und Plünderer die Stadt heimgesucht und die Bewohner wären zusehends verarmt. Unzählige Versuche hätte es später gegeben, die Kutsche doch noch zu finden. Leider seien alle erfolglos geblieben.
Es gibt sie wirklich und ich habe sie gefunden, freut sie sich, um im nächsten Augenblick wieder in Tränen auszubrechen. Was soll ich denn damit, wenn ich nie wieder aus dieser Höhle herausfinde? Dann sterbe ich eben auf der goldenen Kutsche, beschließt sie trotzig und will sich wieder auf den Kutschbock setzen.
Da hört sie ihren Namen rufen. Nein, kein Zweifel, jemand ruft ganz deutlich: „Anna! Anna!“
Langsam richtet sie sich auf und reibt sich die Augen, doch wo sind die Fässer? Wo ist die Kutsche? War sie vielleicht eingeschlafen und es gab gar keine Kutsche?
„Na, schon ausgeschlafen, meine kleine Prinzessin? Hast du auch etwas Schönes geträumt?“
„Oh ja, Vati“, erwidert Anna und langsam beginnt sie zu erzählen.