Eine Kurzgeschichte von Saga. http://www.weg-des-stifts.de/smf/kurzgeschichten/vanitas/
Ihr Magen verkrampfte sich rhythmisch und sie musste mehrmals schlucken, um ihr Frühstück bei sich zu behalten. Nervös wischte sie sich ihre schwitzigen Hände an dem festen Stoff ihrer Röhrenjeans, was jedoch nichts gegen ihre Aufregung half und ebenso nicht ganz einfach war, denn ihr Körper war unter grüner Schutzkleidung verborgen. Ihre Nackenhaare stellten sich trotz allem auf und eine dichte Gänsehaut überzog ihren kompletten Körper. Da half es auch nichts, dass vor der Tür eine Außentemperatur von 29 Grad Celsius herrschte.
„Ich komme mir vor, wie in einem schlechten Spielfilm.“, dachte das junge Mädchen bitter, während sie die kühlen Marmorstufen in den Keller hinunter stieg. Die Eingangshalle war noch in einem neutralen Kalkweiß gehalten, das durch schwere, blaue Türen unterbrochen wurde. Doch schon wenige Stufen tiefer wurde das Tageslicht immer knapper und durch mehr und mehr künstliche Röhrenstrahler ersetzt, die jeden Menschen, der hier hinunter kam fahl und krank aussehen ließen. Zitternd legte sie ihre linke Hand auf den kühlen Metallhandlauf, der aus der Wand hinausragte, als könnte dieser ihr den richtigen Weg weisen.
„Dabei hat der freundliche Herr von oben gesagt, man könne sich hier unten gar nicht verlaufen.“ Und tatsächlich war dies nicht möglich. Denn es gab bloß einen Weg, dem man folgen konnte. Als hatte der Konstrukteur dieses Gebäudes vermeiden wollen, dass die Menschen, die hier hinunter kamen sich in der Richtung irren könnten. Ein trockenes Lachen entfuhr ihrer Kehle, gemischt mit einem aufkeimenden Schluchzer, den sie jedoch bestimmt zu unterdrücken suchte. Durch mehrmaliges, tiefes Durchatmen versuchte sie sich zu beruhigen, doch dies war vergebene Liebesmüh. In solch einer Situation konnte man sich nicht beruhigen. Die Angst, sowie die Nervosität begleiteten einen Schritt für Schritt und eine böse Stimme flüsterte düstere Gedanken in das Ohr, die man nie wieder loswurde.
Nach wenigen Metern, die dem jungen Mädchen wie ein halber Marathon vorgekommen waren, stand sie nun vor einer milchigen Glastür, auf der in einem ekeligen Grünton bloß ein einziges Wort stand: „Pathologie“! Ein trauriger Seufzer entfuhr ihr noch, bevor sich hinter der breiten Doppeltür ein Schatten regte und kurz darauf ein rhythmisches Surren ertönte. Sie trat einen Schritt zurück und wartete, bis die Flügel sich vollends geöffnet hatten. Dann stand sie einer Frau mittleren Alters gegenüber, die sie mit einem mitfühlenden Lächeln empfing.
„Sind Sie Elena Moorbeck?“ Sie wollte antworten, doch aus ihrer Kehle drang kein einziger Laut. So versuchte sie es nach einem kräftigen Räuspern noch einmal.
„Ja, die bin ich.“ Ihre Stimme klang immer noch nicht nach ihr selbst, sie war viel zu hoch, viel zu brüchig. Aber darauf konnte sie nun keine Acht geben. Es ging hier um etwas viel wichtigeres, was es zu klären galt. Mit einem kurzen, bestimmten Nicken wandte die Frau sich wieder um und deutete Elena mit einer schnellen Handbewegung an, ihr zu folgen. Als das Mädchen sich mit zittrigen Beinen in Bewegung setzte, knisterte die mintgrüne, sterile Schutzkleidung, die sie hatte anziehen müssen. Die Überschuhe schlurften drohend über den weiß gefliesten Fußboden und jedes einzelne Geräusch drang Elena in Mark und Bein.
„Ich sollte nicht hier sein.“, dachte sie und ein eiskalter Schauer lief ihr den Rücken hinunter, der sie erneut erzittern ließ. Doch da die Pathologin dem Mädchen den Rücken zuwandte, bekam sie es nicht mit und trat stattdessen zielstrebig an eine Metallbahre heran, auf der sich ein schlanker Körper unter einem grünen Leinentuch abzeichnete.
Als Elena bewusst wurde, was sie möglicher Weise jeden Moment zu Gesicht bekommen würde, musste sie würgen und hielt sich schützend die Hand vor den Mund. Die Pathologin, die sich ihr gerade zuwandte, bemerkte dies und hielt ihr mit traurigem Blick einen kleinen, blauen Eimer hin. Mit einem kaum sichtbaren Nicken nahm Elena ihn entgegen, stellte ihn jedoch zu ihren Füßen ab.
„Es tut mir wirklich Leid, Frau Moorbeck, dass ich Ihnen das antun muss. Doch wir konnten ihre Eltern nicht ausfindig machen und auch einen Personalausweis trug das junge Mädchen nicht bei sich. Alles, was wir in ihrem leeren Portemonnaie fanden, war ihre Telefonnummer.“ In der großen, gekachelten Halle entstand eine lange Redepause, die sich mit zäher Stille füllte und Elena den Brustkorb zusammenzupressen schien.
„Okay.“, nickte sie, nachdem sich ihr Magen ein wenig beruhigt hatte.
„Sind Sie bereit?“ Die Pathologin wollte anscheinend sicher gehen. Sie verstand ihr Handwerk und wusste mit Sicherheit, wie schwer es für Angehörige und Bekannte sein musste, sich in diese vier Wände zu begeben. Wieder war bloß ein Nicken die Antwort. Die brünette Dame trat an die Bahre heran und griff gekonnt den oberen Rand des Leinentuches. Quälend langsam, so schien es Elena, faltete sie es bis zu den Schultern des schlanken Körper zurück.
Mit schmerzlicher Lahmheit brannten sich die Gesichtszüge des fahlen Mädchens ins Elenas Gedächtnis ein. Ihre Lippen waren spröde, aufgesprungen und hatten bereits eine bläuliche Färbung angenommen. Ihre wunderschönen braunen Augen waren geschlossen worden, so dass sie beinahe den Anschein einer Schlafenden machte. Doch dieser Eindruck konnte über die offensichtliche Tatsache nicht hinwegtäuschen!
„Nina.“, hauchte das junge Mädchen ungläubig und mit einem Mal war es unmöglich, den Würgereiz noch länger zu unterdrücken. Schockiert fiel sie auf die Knie und beugte sich röchelnd über den Eimer. Der saure Geruch stieg ihr intensiv in die Nase und ließ sie noch ein weiteres Mal würgen. Nach wenigen Minuten jedoch hatte sie sich ein wenig beruhigt, stellte sich zitternd auf die Füße und warf der Pathologin einen entschuldigenden Blick zu.
„Ja, das ist Nina Tähler. Meine beste Freundin.“ Elenas Stimme war nicht mehr als ein schrilles Fiepen, das unterbrochen wurde von aufkommenden Schluchzern. Während sie aus dem Augenwinkel wahrnahm, wie die Pathologin den Eimer ergriff, um die Mülltüte zu entfernen und ihn auszuwaschen, konnte das junge Mädchen immer noch nicht den Blick von ihrer besten Freundin nehmen. Ihr sonst so glänzendes, blondes Haar war klitschig nach hinten gekämmt, so dass ihr Gesicht noch schmaler aussah, als es zu Lebzeiten sowieso schon gewesen war.
„Wie? … Ich meine, … was ist passiert?“ Nun konnte sie doch den Blick von der Leiche abwenden und schaute sich suchend in dem kühlen Raum um. Die Pathologin hatte den Eimer bereits wieder in eine Ecke gestellt und kam mit einem schwarzen, kleinen Klappstuhl zurück, den sie Elena zur Verfügung stellte.
„Es tut mir Leid, Frau Moorbeck, aber das sind Dinge, über die ich nicht mit Ihnen sprechen darf. Sie sind vorgeladen worden, um dieses junge Mädchen zu identifizieren. Über mehr kann und darf ich sie noch nicht unterrichten.“
Elena hatte registriert, dass die Pathologin ihr einen Stuhl angeboten hatte. Doch dem jungen Mädchen stand keineswegs der Sinn danach, sich in dieser scheußlichen Umgebung häuslich niederzulassen. Wenn auch mit zittrigen Knien, so hielt sie sich doch aufrecht und starrte unverwandt ihre Freundin an, bis die brünette Dame das einst so hübsche Gesicht gnädiger Weise wieder unter dem grünen Laken verbarg. Tausend Gedanken schossen Elena durch den Kopf, die jedoch alle so schnell wieder verschwanden, wie sie gekommen waren. Es waren Bilder zusammen mit Nina. Gespräche, die sie geführt und Geheimnisse, die nur sie beide geteilt hatten.
„Ich danke Ihnen, Frau Moorbeck. Sie haben uns in unserer Arbeit einen Schritt weitergebracht. Wenn Sie wollen, entlasse ich Sie.“ Die Stimme der Pathologin, die jeden Tag mit Leichen zubrachte und die bereits so etwas wie Routine empfand, klang völlig neutral und rein informativ. Nichts mehr lies darauf schließen, dass sie sich vor wenigen Augenblicken noch um Elena gekümmert hatte, als habe sie Mitleid mit der Schülerin. Wortlos wandte sich das junge Mädchen um. Sie hörte zwar, dass die Pathologin ihr folgte und sie bis zur Treppe begleitete, doch sie nahm sie nicht wirklich war. Die Dame mittleren Alters war nicht mehr als ein Schemen, eine merkwürdige Begleiterscheinung einer morbiden, vollkommen absurden Situation. Wie in Trance schritt Elena die kühlen Stufen hinauf und immer noch dröhnte ihr das raue Schlurfen der Überschuhe in den Ohren. Ihr Kopf war wie leergefegt und sie konnte keinen klaren Gedanken fassen. Das einzige Bild, was sich vor ihr inneres Auge stahl, war das von Ninas Leiche. Von ihren blauen, unterkühlten Lippen, die sich nie wieder zu dem eigenen, wunderbaren, ansteckenden Lachen verziehen würden, dass ihre beste Freundin innegehabt hatte.
„Dort drin können Sie die Sachen wieder ablegen.“ Die Pathologin wies auf eine Tür zu Elenas Rechten, doch das Mädchen folgte der Anweisung nicht. Sie nickte bloß apathisch und blieb wie angewurzelt an ihrem Platz stehen. Erst, als die Frau ihr eine Hand sanft auf die Schulter legte und sie in die Richtung leitete, setzte Elena sich in Bewegung und begrüßte den Mann hinter der Information fade. Sie war sich nicht einmal sicher, ob er die Begrüßung überhaupt verstand oder ob sie viel zu leise gewesen war. Denn insgesamt schienen die Geräusche der Umgebung von weit her an Elenas Ohren zu dringen und noch viel leiser sickerten sie in ihre Gehirnwindung, die verzweifelt versuchten, sie bekannten Dingen zuzuordnen. Aber diese Funktion schien bei ihr im Moment auf Standby geschaltet zu sein.
Allgemein bekam sie plötzlich nicht mehr mit, was um sich herum passierte. Die Eindrücke schlugen erst wieder über ihr zusammen, als sie im strahlenden Sonnenschein vor dem kalkweißen Gebäude stand.
Gerade fiel die große Doppelflügeltür ins Schloss und die Sonnenstrahlen kitzelten Elenas Nase, da sackte der Schock mit einem Mal zurück in ihren Magen, wie ein zentnerschwerer Steinbrocken und ihr stiegen die Tränen in die Augen. Mit einem Mal waren sie da, brannten in ihrer Kehle und stahlen sich aus ihren Augenwinkeln hervor.
„Ich sollte Joey anrufen.“, schoss es ihr durch den Kopf, als ihr bewusst wurde, wie schwer ihre Beine im ersten Moment schienen. Elena hatte den Eindruck, als wollten sie sich keinen einzigen Meter vorwärts bewegen und dann begann sich auch noch alles zu drehen. Mit einem erschöpften Seufzer ließ sie sich auf die breiten Steinstufen zu ihren Füßen sinken und schloss für einen Moment die Augen gegen die Sonne und die neu aufkeimenden Tränen.
„Aber vielleicht sollte ich auch einfach laufen und schauen, was passiert.“ Mit diesem Gedanken stand sie langsam auf und trat im Schneckentempo Stufe um Stufe hinunter. Immer noch war sie wackelig auf den Beinen, doch sie sehnte sich nach ihrem Bett und Joeys ruhiger Stimme, die ihr bestimmt auch in dieser schwierigen Situation wieder gut zusprechen würde. Joey war schon immer ihr rettendes Ufer auf stürmischer See gewesen. Und Elena wollte unbedingt, dass es auch in diesem Tornado nicht anders sein würde. Wenigstens etwas sollte beständig bleiben, wenn schon ein Menschenleben so schnell beendet sein konnte. Wieder schweiften ihre Gedanken in weite Ferne, als Elena das erste Mal wirklich registrierte, dass Nina nun nie wieder vor ihr stehen und sie mit ihrem Lachen anstecken würde. Sie würden nie wieder über Jungs herziehen oder entscheiden können, zu welcher Party sie am nächsten Wochenende wollten.
„Joeys Geburtstag …“, murmelte sie heiser vor sich hin, „der wird wohl auch ins Wasser fallen.“
Das schrille Quietschen heranrasender Autoreifen riss sie ruckartig aus ihren Gedanken. Schreckhaft schaute das Mädchen auf und erkannte gerade noch, wie dem Autofahrer vor lauter Panik die Gesichtszüge entglitten! Dann wurde alles schwarz.