Mein Leben war beschissen. Ich war verliebt. Doch leider wusste das Mädchen meiner Träume nichts davon. Und überhaupt: Sie war die attraktivste, beliebteste und infolgedessen auch begehrteste Schülerin der Oberstufe. Und ich? Ich war der – zugegebenermaßen nicht unattraktive – langweilige Einserschüler auf den das andere Geschlecht so ganz und gar nicht abfuhr. Es grenzte an ein mittleres Wunder, dass ich vergleichsweise viele gute Freunde hatte. Aber Frauen? Mit denen hatte ich bis jetzt weniger Erfahrungen gemacht als meine 95jährige Urgroßmutter mit der Community der chinesischen Hacker.
Ich beschloss das zu ändern und marschierte unangemeldet ins Büro des Direktors, der gerade ein höchst wichtiges Gespräch mit dem Landesschulinspektor hatte, und schilderte ihm kurz mein Problem. Dieser schickte daraufhin seinen Gast vor die Tür und erklärte mir, er habe schon den ganzen Tag lang nur auf mich gewartet. Wir beratschlagten uns kurz und kamen darin überein, dass ich in die Klasse meiner Angebeteten wechseln und ihr Sitznachbar werden sollte. Mehr könne er leider nicht für mich tun, meinte er entschuldigend.
Am ersten Tag in der neuen Klasse wagte ich jedoch keinen noch so kleinen Annäherungsversuch. Nach dem Unterricht sprach sie mich jedoch freundlich lächelnd an und sagte: „Ich will mich ja nicht aufdrängen oder so… Aber wie du den ganzen Tag ohne ein Wort zu sagen apathisch neben mir gesessen bist, hat mich schon irgendwie beeindruckt. Du bist echt cool, ich mag dich.“ Sie machte eine kurze Pause. „Ich habe gehört, du bist so ein Mathegenie. Ich bin zwar eine gute Schülerin aber in dem Fach bin ich ein bisschen schwach. Wenn du damit einverstanden bist, könnten wir vielleicht zusammen lernen.“ „Okay.“, sagte ich tonlos und wollte vor lauter Schiss aufstehen und gehen. „Warte, ich gebe dir noch meine Nummer, dann können wir uns verabreden.“ „Okay.“, wiederholte ich. Noch am gleichen Abend trafen wir uns bei ihr zu Hause zum Lernen.
Den darauffolgenden Tag waren wir schon die allerbesten Freunde und unzertrennlich. Da ich nach fast 24 Stunden aber endlich mehr von ihr wollte, gestand ich ihr in der kurzen Pause zwischen Englisch und Latein meine Liebe. Zu Tränen gerührt flüsterte sie mir daraufhin zu: „Ich liebe dich auch.“ Unter dem Jubel der gesamten Klasse küssten wir uns leidenschaftlich. Obwohl es für jeden von uns der erste Kuss war, verspürten wir keinerlei Unsicherheit und wussten genau, was wir zu tun hatten. Schließlich sagte sie: „Ich finde, wir sollten unser erstes Mal haben.“ Das hörte unsere soeben eingetretene Professorin und gab uns zu diesem Zweck den restlichen Tag frei, denn es müsse ja noch Zeit zum Kuscheln bleiben, meinte sie.
Heute sind wir schon seit fast zehn Jahren verheiratet und noch immer ohne die geringsten Abnützungserscheinungen in unsterblicher Liebe miteinander verbunden. Ich wurde Zahnarzt aus Leidenschaft, während meine Frau Germanistik studierte und in der Zwischenzeit erfolgreich Kinderbücher schreibt. Außerdem haben wir zwei wunderbare, hochbegabte Kinder, die eine elitäre katholische Privatschule besuchen.
Schweißgebadet und mit rasendem Herzen erwachte ich plötzlich und war wieder in unserer kleinen, verdreckten Wohnung. Ich musste geschrien haben, denn meine übergewichtige Freundin schnauzte mich ungehalten an: „Wenn du das Baby aufgeweckt hast, kannst du die nächsten zwei Wochen die Scheiße von seinem Arsch wischen!“ Ich sah sie erleichtert an und sagte: „Entschuldigung, ich hatte nur einen schlimmen Albtraum.“