In meiner Kindheit war das Leben noch einfach. Ich lag zusammen mit etwa 200 Artgenossen wild durcheinander in einem engen, stickigen Karton, wachte morgens in herrlichster Finsternis auf und dachte: „Schön ist das Leben!“ All das änderte sich jedoch schlagartig als ein Teppichmesser in unseren Karton eindrang, diesen aufschlitzte und unsere perfekte Welt so für immer zerstörte. Einige Dutzend von uns wurden daraufhin gewaltsam verschleppt und achtlos auf einen kleinen runden Tisch geschmissen. Schließlich realisierte ich, dass ich ein kleiner, billiger Kugelschreiber war. Ich befand mich in einem Holzfachzentrum, bereitgelegt um einer wilden Horde proletarischer Tischlerlehrlinge das Ausfüllen eines bescheiden dotierten Gewinnspiels zu ermöglichen. Bereits nach weniger als einer Minute hatte ein Haufen ungepflegter, verschwitzter Hände mich und meine Brüder in muffigen Hosentaschen verschwinden lassen. Dabei hatte ich es noch einigermaßen gut getroffen. Ein vollschlankes Mädchen mit brünetten Haaren und einigen Piercings hatte mich vor einem besonders üblen Rowdy gerettet und nahm mich mit nach Hause. Ich war ihr sehr dankbar. Als es aber Abend wurde, nahm sie mich wieder in ihre Hand und betrachtete mich lange. Die Ereignisse dieser Nacht möchte ich nicht im Detail schildern. Es muss jedoch endlich darauf hingewiesen werden, dass der sexuelle Missbrauch an Kugelschreibern ein nicht zu unterschätzendes Problem unserer Gesellschaft darstellt.
Am nächsten Tag schenkte das Mädchen mich ihrem Freund. Vermutlich weil er mich in Liebe empfangen hatte, wurde ich schon bald sein neues Lieblingsschreibgerät. Er hatte vor kurzem mit dem Schreiben eigener Gedichte und Geschichten begonnen, war aber noch nicht besonders gut darin. Doch wir übten fast jeden Tag gemeinsam und wurden schließlich immer besser, wir fanden unseren gemeinsamen Stil. Ich erfuhr sehr viel über ihn, er vertraute mir alles an. Das vollschlanke Mädchen sah ich übrigens auch immer wieder, es übernachtete oft bei ihm. Ich versuchte ihn vor ihr zu warnen, aber er wollte nicht hören und so tat sie mit ihm das Gleiche, was sie mit mir gemacht hatte.
Unsere Beziehung wurde immer enger. Ich entwickelte eine Tiefe Liebe zu ihm und glaubte, dass er diese auch für mich empfand. Umso größer war mein Schock, als ich ihn eines Tages in flagranti mit einem Bleistift beim Schreiben ertappte! Ich hätte es ja verstanden, wenn er mich mit einem edlen Füllfederhalter betrogen hätte, aber mit einem kurzen, stumpfen Bleistift, nein, das verstand ich einfach nicht. Meine Welt brach in sich zusammen – schon wieder. Zwar verzieh ich ihm schließlich, doch unsere Partnerschaft wurde nie mehr so wie früher.
Die Zeit verging und mein Schreiber war wirklich gut geworden. Ich aber war alt und müde. Eines schönen Sommerabends bekam ich schließlich meine ersten Aussetzer. Er hielt inne und betrachtete mich eine Zeit lang. Ich wusste, dass nun mein verdienter Ruhestand gekommen war. Doch seltsamerweise gingen wir in die Küche – zu den Mülleimern. Er würdigte mich keines weitern Blickes und warf mich in den Restmüll. Aber ich beschwerte mich nicht. Ich hatte ein langes und erfülltes Leben – zumindest für einen Kugelschreiber. Nun liege ich auf der Mülldeponie und es ist wieder eng und stickig. Und es herrscht herrliche Finsternis.