Fantasy & Horror
Verschüttet

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"Verschüttet"
Veröffentlicht am 20. Juli 2011, 36 Seiten
Kategorie Fantasy & Horror
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Verschüttet

Verschüttet

Beschreibung

Vier Männer und das unterirdische Grauen. Eigentlich ein früher Prototyp der "Spirale", hoffentlich nicht verwirrender.

I

 

Die alte Straße, die kaum mehr war als ein gescharrter Pfad, schlängelte sich in unzähligen Windungen vom Gipfel des karpatischen Berges hinab bis ins Tal. Im Mondlicht erinnerte sie an einen erstarrten Flusslauf, der fahl schimmernd zwischen Felsen, Flechten und Sträuchern die umgebenden schwarzen Hänge durchzog.

Das schleppende Scharren abgenutzter Hufe war das einzige Geräusch, das in diesen Stunden durch die klare Nachtluft drang. Ein Tier bewegte sich die Straße hinunter, eine zutiefst befremdliche Silhouette im Schein der Gestirne. Es schnaubte gequält, als es die Lichter der ersten Siedlung erblickte, die es auf seinem Weg erreichte.

Die spärliche Beleuchtung durch die Laternen der  Hauptstraße ließ die Gestalt des nächtlichen Wanderers langsam deutlicher werden. Die ersten Menschen traten teils verängstigt, teils verwundert aus ihren Häusern; streunende Katzen flüchteten sich in die dunklen Nebengassen und Hinterhöfe. Aus jedem Winkel richteten sich nun Blicke auf das Tier, das gemächlichen, kraftlosen Schrittes die gepflasterte Dorfstraße entlangtrottete und auf so sonderbare Weise Vertrautheit und bizarre Fremdartigkeit in sich vereinte.

Ein Rind schleppte sich dort voran, ein abgemagerter Ochse auf dürren Beinen, mit hervortretenden Wirbeln und Rippen; makaber anzusehen durch eine gewaltige, längst erloschene Kerze, die er auf dem Rücken trug und deren Wachs über seinen gesamten Rumpf geflossen war, ihn zum größten Teil geradezu umschlossen hatte. Kein einziger der ungläubig starrenden Menschen konnte sich die gespenstische Erscheinung erklären; wild umherstreifende Rinder waren gewiss keine Seltenheit in den Bergen, doch pflegten diese im Normalfall keine Kerzen auf dem Rücken zu tragen.

Als der Ochse im Lichtkegel einer flackernden Öllaterne in der Mitte der Straße stehenblieb und durch getrübte, müde Augen unverwandt die umstehenden Neugierigen betrachtete, wagten sich einige Männer näher heran und berührten das Tier vorsichtig, ließen ihre Finger über das verfilzte Fell und das kalte, harte Wachs gleiten. Erschrocken wichen sie einige Schritte zurück, als das Rind für einen Moment erbebte und dann auf der Stelle tot zusammenbrach.

 

Am darauffolgenden Morgen entschlossen die Dorfbewohner, eine kleine Gruppe von Männern die Bergstraße hinaufzuschicken, um zu ergründen, woher das merkwürdige Tier gekommen sein mochte. Es war bekannt, dass die Straße auf einem Plateau am Gipfel endete; um diese Ebene rankten sich seit Urzeiten unbestätigte Sagen und Gerüchte, doch hatte sich dort seit Generationen nichts mehr von alledem zugetragen, wovon die Legenden undeutliche Eindrücke überlieferten, sodass niemand zu sagen wusste, ob die nebelhaften Schilderungen vergangener Zeiten tatsächlich der Wahrheit entsprachen.

Die vier Freiwilligen machten sich zur Mittagszeit auf den Weg und verfolgten die Spuren des sonderbaren Ochsens auf der staubigen Scharrstraße zurück. Wie sie es schon geahnt hatten, wurden sie bis hinauf zum Gipfelplateau geführt. Schon einige Male waren sie hier gewesen, doch der Anblick, der sich ihnen heute bot, war mehr als ungewohnt. Wo sich bisher nur eine Fläche mit herumliegendem Geröll erstreckt hatte, befand sich nun ein gewaltiges, kreisrundes Loch in der Mitte der Ebene, das, wie durch seine Schwärze bereits aus der Ferne deutlich wurde, von entsetzlicher Tiefe sein musste.

Die Männer gingen näher heran, bis sie an der Kante der Öffnung standen. Sie war gut achtzehn oder zwanzig Fuß breit. Als sie hinabblickten, um den Boden des Schachtes auszumachen, bemerkten sie zu ihrer Überraschung ein diffuses, rötliches Leuchten tief unten, konnten weiter aber nichts erkennen. Ein spiralförmiger Treppenabstieg führte entlang des Randes hinunter in die unbekannte Welt.

Übermannt von ihrer Neugier beschlossen die vier Männer, dem Geheimnis des rätselhaften Schlundes auf die Spur zu gehen und hinunterzusteigen. Hintereinander betraten sie die Treppe und setzten vorsichtig einen Fuß vor den anderen, denn die steinernen Stufen schienen uralt und waren von augenscheinlich abertausenden Schritten schon völlig abgewetzt. Dieser Schacht musste schon sehr lange Zeit existieren; wie sein Zugang bislang verborgen geblieben war, war den Männern völlig unerklärlich.

Für den Fall, dass sie vor Sonnenuntergang nicht zurückkehren würden, trugen die vier Dorfbewohner eine kleine Laterne bei sich, die sie nun entzünden mussten, da die Dunkelheit sie zunehmend verschlang. Das Glimmen unter ihnen reichte nicht aus, um den gesamten Schacht zu erleuchten.

Als sie so weit in den Berg eingedrungen waren, dass der wolkenverhangene Himmel nur noch als ein kreisrunder Fleck weit über ihnen sichtbar war, zeigten sich an den bisher schmucklosen Wänden des Schachtes erste Malereien, die die Männer nicht zu deuten wussten. Nicht weiter verwunderlich, waren sie doch einfache Bauernsöhne und blickten nun auf Zeugnisse einer wohl gänzlich anderen Kultur als der ihren.

Großgewachsene Menschen mit ungewöhnlichen, ausländischen Gesichtszügen waren dort beim Ausüben verschiedenster Tätigkeiten abgebildet, einige in schmuckvolle Gewänder gehüllt, andere in zweckmäßige Arbeitskleidung. Einige brachten Schriften und Bilder zu Papier, andere hantierten mit unzweifelhaft heidnischen Kultgegenständen oder vollführten unverständliche Ritualgesten.

Ihren Blick erschüttert und fragend auf die Wandmalereien gerichtet, achteten die Männer kaum noch auf die Treppe, die sie herabführte. Keinem fiel jene Stufe auf, die ein kleines Stück nachgab, als sie betreten wurde, doch als ein Grollen und Beben durch das Erdreich drang, in das sie hinabgestiegen waren, wurden die Männer aus ihren Gedanken gerissen. Sofort richteten sie ihre Augen nach oben und sahen machtlos dabei zu, wie sich die Öffnung über ihnen zu schließen begann. Wie von Sinnen setzten sie dazu an, die Stufen wieder hinaufzuspringen, mussten aber nach wenigen Metern verzweifelt feststellen, dass es unmöglich war, den Ausgang rechtzeitig zu erreichen. Augenblicke später hatte sich der Schacht geschlossen, eine mächtige Steinplatte versiegelte die Öffnung; das Gipfelplateau musste nun wieder den Eindruck erwecken, als habe sich hier niemals der Zugang zu einer unterirdischen Welt befunden. Irgendein uralter Mechanismus war ausgelöst worden, eine teuflische Todesfalle; der Rückweg ans Tageslicht war versperrt.

II

 

Nach einem schrecklichen Moment der Resignation und sich anstauenden Panik folgten die Vier schweren Herzens erneut dem Weg hinab, denn eine andere Wahl blieb ihnen nicht.

Nach und nach drangen sie in den rötlich beleuchteten letzten Abschnitt des Schachtes vor und konnten bald das Ende der Treppe sehen. Als sie den flachen, glatt geschliffenen Boden erreichten und dort nicht mehr als eine quadratische Öffnung entdeckten, aus der das nun blutrot erscheinende Licht flackerte, mussten sie feststellen, dass sie der einzig mögliche Weg wohl nur noch tiefer hinabführte.

Der Durchgang im Boden war gute fünf Fuß breit. Einer der Vier tauchte zunächst kopfüber in das rätselhafte Glühen ein, um herauszufinden, wie es jenseits weiterging. Was er sah, war ein Raum von gleichmäßig rechteckiger Form, in den man durch die Öffnung gefahrlos hinabspringen konnte. Der Reihe nach taten dies die Männer und fanden sich neben einer riesigen Feuerschale wieder, die ungewöhnlich purpurne Flammen trug. Das war der Ursprung des unheimlichen Lichtes. Das Feuer wurde von einem Stoff genährt, der keinem der Vier bekannt war; in Form von langen, rötlichen Bündeln lag er in der Schale und verbrannte langsam und rauchlos. Lediglich einen scharfen Geruch stellten sie fest.

Die glatten Wände des kleinen Raumes waren von ganz ähnlichen Darstellungen bedeckt wie die des Schachtes, jedoch hatten die Männer nach dem Schrecken des versperrten Rückwegs keinen Nerv mehr für eine eingehende Betrachtung. Sie blickten sich suchend nach einem weiterführenden Durchgang um und fanden ihn in Form einer schmalen, rechteckigen Öffnung in einer der Wände. Tausend Fragen schossen ihnen in diesen Augenblicken durch den Kopf. Die brennende Schale bedeutete nichts anderes als die Anwesenheit lebender Menschen, das war ihnen allen bewusst. Doch wer waren diese Menschen und woher kamen sie; waren sie Nachkommen der Erbauer der unterirdischen Anlage oder waren auch sie bloß auf diese Überreste einer vergangenen Kultur gestoßen?

Die Männer zwängten sich nacheinander durch die Öffnung und fanden sich ein weiteres Mal auf einer engen, steinernen Treppe wieder, die spiralförmig in die Tiefe führte. Die im Vergleich zum ersten Schacht andere Beschaffenheit der Wände, die jetzt fast lückenlos mit Bilddarstellungen bedeckt waren, deutete jedoch darauf hin, dass sie sich nunmehr im Inneren einer unterirdischen Gewölbe- oder Tunnelanlage befanden, deren oberster Abschnitt jener Raum war, in dem die flammende Schale ihr unheilvolles Leuchten aussandte.

Gerade als sie die ersten vorsichtigen Schritte gegangen waren und ihre Laterne erneut entzünden wollten, wiederholte sich der vorangegangene Schrecken: Eine Stufe gab unter ihren Füßen nach und vor die schmale Öffnung hinter ihnen schob sich rasselnd eine steinerne Sperre. Als sie erschrocken herumfuhren, glimmte ein fahles Leuchten auf, das den vor ihnen liegenden Treppengang in ein schwaches grünliches Licht tauchte. Die Quelle des Lichtes war nicht auszumachen. Sie wussten nicht, wer oder was ihnen die Rückkehr aus dieser unterirdischen Hölle verwehren wollte, doch dass es sich um bloße antike Fallenmechanismen handelte, die ihre äonenalte Funktion erfüllten, ohne einem unmittelbaren Zweck zu dienen, bezweifelten sie nun.

Alles erweckte den Eindruck unschätzbaren Alters jenseits jeder menschlicher Begriffe. Die Wände gingen fugenlos in die Stufen über, nirgendwo waren Brüche oder Kanten sichtbar, alles schien wie aus einem einzigen Stück gegossen oder unglaublich präzise aus dem blanken Stein gehauen. Im Vorübergehen während des vorsichten Abstiegs warfen die unglückseligen Bauernsöhne gelegentlich rasche Blicke auf die Wandmalereien und verstanden nicht, was sie sahen. Woher stammten diese alten Erbauer mit ihren befremdlichen Gesichtszügen? Mit welcher unirdischen Technik hatten sie diese unfassbaren Gänge und Schächte in den massiven Fels getrieben? Was hatte es mit den scheußlichen, offensichtlich naturreligiösen Zeremonien auf sich, die hier in Form so vieler Malereien dargestellt worden waren? Und was – was um alles Erdenkliche in der Welt – war diese schwarze Masse, die immer und immer wieder abgebildet wurde?

 

Nach einem langen Abstieg, dessen Dauer die Männer bald nicht mehr abschätzten konnten, erreichten sie einen niedrigen Saal, der wiederum von mehreren der rauchfrei lodernden Feuerschalen warmrot ausgeleuchtet wurde. Seine Decken lagen nicht höher als 10 bis 15 Fuß, doch erstreckte sich der Raum über eine so große Fläche, dass sie sein anderes Ende nicht erkennen konnten. In regelmäßigen Abständen wurde der Saal von breiten, rechteckigen Säulen gestützt. In endlosen parallelen Reihen sowie entlang der gemauerten Wände standen hier unzählige metallene Regale, die allesamt bis zum Bersten mit Schriftstücken gefüllt waren. Gebundene Bücher, vergilbte Schriftrollen, Pergamente, merkwürdige Metallfolien; wortlos ließen die Männer ihre Blicke über die Reihen schweifen und wagten die Fragen, die sich ihnen aufdrängten, kaum zu Ende zu denken. In dieser prähistorischen Bibliothek mochte das gesamte Vermächtnis der menschlichen Vergangenheit liegen; verlorenes Wissen, untergegangene Künste, Geheimnisse jenseits aller gesicherten Erkenntnisse! Welche Macht lag hier verborgen, welche kostbaren Gedanken von längst vergessenen Kulturen – lemurische und atlantische Karten hingen von den Wänden herab, eine Umrisskarte der eisfreien Antarktis lag halb aufgerollt in einem der näheren Regale; selbst das sagenhafte Nordland Hyperborea war auf einem brüchigen Papyrus abgebildet, womöglich von Hand eines seiner halbätherischen Bewohner selbst gezeichnet. In einer Ecke des Raumes häuften sich zudem abertausende unbeschriebene Bögen und große Massen Schreibmaterial auf einem riesigen Tisch.

Die vier Besucher verbrachten Stunden in diesem Gewölbe, warfen ungläubige und faszinierte Blicke in hunderte der Werke und verstanden zwar keines der völlig fremdartigen Schriftzeichen, wussten jedoch viele bildliche Darstellungen zu deuten und in einen Zusammenhang zu bringen. Eine auffällige Reihe in grobes Leder gebundener Bücher, die augenscheinlich einen wesentlich jüngeren Eindruck als die allermeisten sonstigen Stücke der Bibliothek machten, beschrieb und illustrierte offenbar die Geschichte jener menschlichen Rasse, die sich selbst auf den Wänden der Schächte abgebildet hatte. Von Begeisterung und Neugier übermannt, begannen die vier Besucher der unterirdischen Welt, die schweren Bände der Reihe nach zur Hand zu nehmen. Die handgeschriebenen Schriftsymbole waren ihnen unbekannt, doch wie es schien, hatten es die Verfasser darauf angelegt, jedem verständlich zu machen, worum es ging. Beinahe jede Seite zierte eine aussagekräftige Abbildung, in einem einzigartigen Stil gezeichnet, anhand derer ersichtlich wurde, was die Texte im Großen und Ganzen aussagten.

Den Männern eröffneten sich in diesen Stunden nach und nach Erkenntnisse, die sie mit sehr gegensätzlichen Empfindungen zur selben Zeit erfüllten. Zu endloser Faszination und Euphorie über diese Entdeckung gesellten sich ungekannter Zweifel an ihrem so liebgewonnenen, einfachen Weltbild, tiefste Bestürzung über den abgeschnittenen Rückweg, der es ihnen unmöglich machte, ihr Wissen an die Oberfläche zu tragen, und nackte Angst vor dem, was sie erwartete – denn laut den Aufzeichnungen waren sie längst nicht die ersten Fremden, die sich in diese verborgene Welt verirrt hatten.

 

III

 

Bei dem unbekannten Volk, das sich selbst auf den Wandmalereien und in den Schriftwerken bei verschiedensten Tätigkeiten des Alltags, der Religion und der Wissenschaft dargestellt hatte, handelte es sich nicht um die Erbauer dieser unterirdische Anlage. Tatsächlich war es lediglich darauf gestoßen.

Der Stamm durchquerte vor hunderten von Jahren erstmals diese Gebirgszüge. Er kam aus dem Land der Sumerer, wo damals eine blühende Hochkultur herrschte, und führte ein Nomadendasein. Als die Menschen den offenstehenden Schacht hinab zur Anlage entdeckten und feststellten, dass diese verlassen war, wurden sie zu Siedlern. Ausgehend von einer kleinen Niederlassung am Hang begannen sie, das Innere zu erkunden, und wurden vom Berg gefangen genommen. Die Neuankömmlinge fanden Dinge vor, die sie in ihren kühnsten Träumen weder hätten erdenken noch deuten konnten. Sie stießen auf die Bibliothek und waren überwältigt von diesen einzigartigen Zeugnissen vergangener Kulturen aus jedem Winkel der Erde. Nach der Betrachtung unzähliger Rollen, Tafeln und Bände konnten sie sich ein etwaiges Bild der Geschichte dieser Anlage machen.

 

Bis zu einer gewissen Zeit lag das Gebäude noch über dem Erdreich. Unsagbar gewaltig erhob es sich im Bergland dieser Region und ragte dabei gut auf die halbe Höhe der umliegenden Gipfel empor. Abbildungen des Monumentalbaus fanden sich an verschiedensten Stellen der Schriftstücke. „Stufenpyramide“, „Burgfestung“, „Säulentempel“ – Vergleiche, die einen sehr groben Eindruck vom Aussehen des Bauwerkes vermitteln mögen, jedoch bei Weitem nicht ausreichen, um dem Leser einen Begriff von der absoluten Einzigartigkeit seines Anblicks zu machen. Bemerkenswert genug, dass es die Grundzüge architektonischer Stile verschiedenster Hochkulturen in sich vereinte und zugleich keiner von ihnen zuzuordnen war; das eigentliche Wunder stellte die Größe des Gebäudes dar. Als habe ein gewaltiger Bildhauer einen ganzen Berg statt des althergebrachten Marmorblocks behauen und mit Hammer und Meißel ein Kunstwerk daraus geschaffen, stand es unveränderlich in der Landschaft, einige tausend Fuß hoch, ebenso breit an der Basis, erhaben, unverrückbar und vielleicht so alt wie die Berge selbst.

Nur über abertausende steile Stufen konnte zu dieser vergessenen Zeit der anscheinend einzige Eingang des Gebäudes erreicht werden; eine kleine, quadratische Öffnung in der Decke eines reich verzierten, quaderförmigen Tempels, der die Spitze des riesigen Gesamtbaus darstellte. Durch diese Öffnung – inzwischen unterirdisch – waren auch die Sumerer eingestiegen, erreichbar durch den breiten Schacht mit der spiralförmigen Treppe, der vom Gipfelplateau bis hinab führte.

Dieses Bauwerk musste bereits seit ungezählten Äonen existieren, seit Millionen von Jahren, von Naturgewalten unbeeindruckt, vom Zerfall durch seine bloße Größe geschützt. Wer es einst auf der damals noch jungen Erde errichtet hatte, wussten die Menschen nicht; doch war es im Lauf der Geschichte immer und immer wieder geschehen, dass ein paar Angehörige irgendeines gerade bestehenden irdischen Kulturkreises während ihrer Reisen auf das unübersehbare Bauwerk gestoßen waren. Menschen aus Atlantis waren ebenso darunter gewesen wie Mitglieder noch älterer Zivilisationen, etwa der von Lemuria, von Hyperborea, des versunkenen Mu und der prähistorischen Antarktis, selbst Vertreter der vergessenen Megalithkultur Polynesiens. Ihnen allen wurde beim Betreten des Gebäudes der Rückweg abgeschnitten, sie alle irrten die endlose Treppe bis in die Bibliothek hinab. Sie alle versuchten, die Niederschriften zu deuten, und sie alle beschlossen, ein paar Schriftstücke über ihre eigene Zivilisation und ihre Entdeckung des Gebäudes zurückzulassen – stets dem Beispiel bereits vorhandener Werke folgend, die sie in der Bibliothek vorgefunden hatten. Wo die Wurzeln dieser Sammlung lagen, war nicht zurückzuverfolgen, so unvorstellbar groß waren die Zeiträume, in denen Kultur auf Kultur gefolgt war, um sich hier zu verewigen.

Ist man in einer gewaltigen steinernen Anlage eingeschlossen, erscheint es etwas wider der menschlichen Vernunft, sich mit unverrückbarem Eifer an das Verfassen tausendseitiger Dokumente zu machen, anstatt erbittert nach einem Ausweg zu suchen. Doch hatte es den Eindruck, als hätten sich jene Menschen, die in das Bauwerk eingedrungen waren, auf ungewöhnlich schnelle Weise mit ihrem Schicksal abgefunden, fortan in dämmriger Düsternis im Inneren dieses Monuments zu vegetieren. Bizarr erschien vor allem die Tatsache, dass sich der versperrte Durchgang zwischen der rot erleuchteten Kammer und der Treppe nach einiger Zeit stets wieder öffnete, ohne dass auch nur ein einziger der Gefangenen jemals einen Fluchtversuch unternommen hätte.

Woher diese Menschen Nahrung nahmen, Wasser und Luft, das war aus den Aufzeichnungen nicht ersichtlich, doch schienen diese Grundvoraussetzungen kein Problem darzustellen. Viele begannen sogar damit, die Wände der Treppengänge und Kammern mit Abbildungen ihrerselbst zu verzieren, wobei sie in den meisten Fällen die Bildnisse vorangegangener Besucher überdeckten.

Es gab einen Grund für das befremdliche Verhalten der Eingesperrten, doch lässt sich dieser nur schwerlich formulieren. Eher symbolisch und verschlüsselt waren gewisse übereinstimmende Eindrücke von verschiedensten Chronisten angedeutet worden; das Gefühl, von einer formlosen Kraft oder Macht besessen zu sein, die ihnen kaum freien Willen ließ und dabei ihren Wunsch nach Freiheit erstickte, sie sogar zum Verfassen der Aufzeichnungen bewegt hatte. Wo der Ursprung dieser Kraft liegen mochte, stand offensichtlich nirgendwo geschrieben und schien auch keinem der vorzeitlichen Autoren bekannt zu sein; es hatte den Eindruck, als könnten oder wollten sie kein konkretes Wort darüber verlieren. Was mit den Menschen geschah, nachdem sie ihre eigene Historie verfasst und ins Archiv eingereiht hatten, war ebenso wenig ersichtlich. Allem Anschein nach waren sie irgendwann einfach verschwunden, um den Vertretern einer anderen Zivilisation Platz zu machen.

 

Die sumerischen Gefangenen verzeichneten nach kurzer Zeit im Inneren der Anlage ebenfalls das Einsetzen eines gewissen Gleichgültigkeitsgefühls, einer willenlosen Hingabe an die fordernden Stimmen einer fremden, nicht erklärbaren Macht, die sie zu umgeben schien. Sie verfassten reich bebilderte Bücher über ihre Herkunft, Kultur und Geschichte und begannen, die Wandflächen des Treppenaufgangs, ja sogar des Schachtes zur Oberfläche mit Eigendarstellungen zu schmücken, ohne im Geringsten an eine Flucht zu denken.

IV

 

Die Stimmung der vier Bauernsöhne, die in den vergangenen Stunden im Bibliotheksgewölbe unzählige Schriftstücke in Augenschein genommen hatten, war nach und nach auf merkwürdige Weise umgeschlagen. Die Panik, eingesperrt zu sein, die Angst, dort unten zu sterben, waren wie weggeblasen und einer gewissen Teilnahmslosigkeit gewichen. Sie alle hatten das unbestimmte Gefühl, als seien es nicht mehr sie selbst, die die Macht über ihren freien Willen hatten. Ihre Situation war ihnen vollkommen bewusst; sie waren sich nach der Deutung der Aufzeichnungen im Klaren darüber, dass sie irgendeinem unerklärlichen Einfluss ausgesetzt waren, der sie letztendlich vernichten würde, doch erwogen sie keine einzige Sekunde einen Fluchtversuch.

Der Drang oder das Verlangen aber, die eigene Geschichte zu Papier zu bringen, um die Bibliothek zu erweitern, blieb aus. Vielmehr fühlten sie sich dazu bewegt, sich noch weiter in die Tiefe des Bauwerks zu begeben. Ein stummer Lockruf pochte in ihren Köpfen und zog sie ins Ungewisse.

Eine steile, abgenutzte Wendeltreppe hinter einem niedrigen Bogendurchgang öffnete ihnen den Weg in eine noch tiefer gelegene Welt. Das glimmende Licht, das wie auf der vorangegangenen Treppe scheinbar aus den Wänden drang, hatte nun eine dunkelbläuliche Färbung angenommen und reichte gerade noch aus, um die einzelnen Stufen auszumachen. Die Wände waren hier unverziert und noch immer völlig fugenlos, wie aus einem Stück gearbeitet. Das verlangende Pochen in den Köpfen der Vier wurde von Stufe zu Stufe stärker und rasender, bald sogar schier unerträglich schmerzvoll, doch ihm nachzugeben war unmöglich.

Als sie eine Zeit lang gegangen waren und das Ende der Treppe erreichten, öffnete sich vor ihnen ein grausiger Saal. Er war ungleich kolossaler als die Bibliothek über ihnen; die gewölbte Decke hatte in ihrem schwarzblau glühenden Zentrum eine Höhe von geschätzten 100 Fuß und verschmolz ringsum nahtlos mit der riesigen, kreisförmigen Bodenfläche. Sie mussten sich an der Basis des Bauwerks befinden, womöglich auch in einer Höhle unter ihm.

Details ließen sich im Inneren des dämmrigen Gewölbes kaum ausmachen. Vor den Augen verschwamm alles in bläulicher Düsternis. Und just in dem Moment, als einer der Männer eine Abnormität des Bodens wahrnahm und einen entsetzten Schrei ausstoßen wollte, verloren alle vier auf einen Schlag das Bewusstsein.

 

Sie alle hatten denselben Traum, doch lag sein Ursprung nicht in ihrem eigenen Unterbewussten. Die namenlose Macht hatte ihn gesandt, damit sie verstanden. Vielleicht scherte sich die Macht auch gar nicht darum, ob die Bauernsöhne verstanden, was vorgefallen war; vielleicht war die Übertragung ihrer unseligen, uralten Erinnerungen in die Köpfe der Schlafenden lediglich ein Nebeneffekt ihrer telepathischen Einflussnahme.

 

Vor Äonen begab es sich – so sahen es die Männer in ihrer Umnachtung –, dass einige Reisende atlantischer Herkunft das Bauwerk entdeckten.

Atlantis war die Wiege einer der fortschrittlichsten Hochkulturen, die die Erde jemals sah. Technisch wie intellektuell suchte diese uralte Zivilisation ihresgleichen, bis eine gewaltige Naturkatastrophe einen Großteil der Bevölkerung hinwegraffte und den Inselkontinent für immer unter den Wassermassen des Atlantiks vergrub. Die überlebenden Atlanter flüchteten in alle Teile der Welt und prägten eingehend solche Kulturen wie die Ägyptens oder Südamerikas.

Sehr geschätzt und von vielen Völkern gefürchtet wurden die Atlanter aufgrund ihrer unvergleichlichen psychischen Fähigkeiten. Die sehr urtümliche, instinktive Kommunikationsform der Telepathie beherrschten sie von Natur aus bewusster als andere menschliche Rassen und bauten sie zu einer bemerkenswerten Kunst aus.

Atlantis sandte zu jeder Zeit Expeditionen über den gesamten Erdball aus, um den Planeten zu kartographieren und die Landmassen zu erforschen. Als eine davon das gewaltige, verlassene Bauwerk in den Bergen entdeckte, die Jahrtausende später als Karpaten bekannt sein sollten, tappten auch einige Atlanter in die Falle. Auch sie verfielen zunächst in jene unheimliche Art des apathischen Gehorsams und verfassten eine Chronik der eigenen Vergangenheit und Gegenwart.

Jedoch zeigte es sich kurze Zeit später, dass sie nicht in demselben Maße wie vorangegangene Besucher von der unbekannten Kraft beeinflusst und in ihrem Fluchttrieb gelähmt wurden. Die überdurchschnittliche geistige Selbstbeherrschung der Atlanter ermöglichte es ihnen letztendlich, dass sie sich auf den unheilvollen Einfluss einstellen konnten und sich ihrem Schicksal nicht teilnahmslos hingaben. Es gelang ihnen, zurück ans Tageslicht zu fliehen und ihren Mitmenschen von dem zu berichten, was sie im Innern vorgefunden hatten. Sie sprachen angsterfüllt von etwas, das sie in einem Raum tief unter der Bibliothek gesehen hatten und deuteten etwas über den Ursprung der körperlosen Macht an, die die Denk- und Verhaltensmuster der Menschen beeinflusste. Die Atlanter beschlossen, dem ein Ende zu bereiten. Mittels fantastischer Maschinerien und Techniken, deren Niveau von keiner nachfolgenden Zivilisation der Erde erreicht worden war, trugen sie das Material eines ganzen Berges ab und verschütteten das riesige Bauwerk, bis es unter einer mächtigen Schicht Gestein verschwunden war. Die gesprengten und transportierten Felsen wurden dabei derart erhitzt, dass sie sich als zähflüssige Masse über das Gebäude legten, alsbald wieder erstarrten und es dicht versiegelten. Niemand sollte sich mehr in den Klauen dieser Unaussprechlichkeit verfangen.

Die atlantische Zivilisation hatte in der Folgezeit stets ein Auge auf jenen Fleck Erde, doch dann kam es zu ihrem schicksalhaften Untergang, noch bevor die Veränderung vonstatten ging.

Die Veränderung bestand in der Öffnung eines Schachtes, der den Eingang des Bauwerks mit der Erdoberfläche, genauer einem Plateau auf dem Gipfel des künstlichen Berges verband. Kein Mensch und keine Maschine hatte diesen Schacht ausgehoben; er war buchstäblich über Nacht aus dem Nichts erschienen. Die fremde Macht hatte ihn in den Fels getrieben, ebenso, wie sie das gesamte Bauwerk vor ungezählten Jahrmillionen aus einem Berg geschaffen hatte.

 

Nun sahen sich die Männer selbst im Traume, doch mit anderen Augen als den ihren. Sie sahen sich in der Rolle armseliger Opfer, die wie Tiere, primitiven Lockmitteln folgend, in die Falle geraten waren, um etwas Größerem zu dienen.

 

Entsetzliche Schmerzen in der Brust rissen alle Vier zurück ins Diesseits. Sie sahen sich nackt und gefesselt auf steinernen Blöcken, offenbar auf einer erhöhten Plattform direkt unter dem blau glühenden Zenitpunkt des Gewölbes, zudem beleuchtet von diffusem Feuerschein und umringt von geduckt dahinschlurfenden Menschen unerträglichen Anblicks; die Haut der Fremden war bleich und rissig, ihre Haare nicht mehr als verfilzte Klumpen, ihre spärliche Kleidung in Fetzen hängend – und obgleich ihre Augen infolge der unerbittlichen Finsternis eingefallen waren, ließen sich in den zerschlissenen Gesichtern deutlich die Züge des sumerischen Stammes erkennen, der vor hunderten von Jahren in das Bauwerk eingedrungen war und dort bis zum heutigen Tag dahinsiechte, auf irgendeine abnorme Weise am Leben gehalten. Die amorphe Macht brauchte sie; diese Menschen waren dazu da, Opfergaben von der Oberfläche zu beschaffen, geistig unbedeutendes Menschengewürm, von dem sie sich nährte, bis die künstlich verlängerte Lebenskraft ihrer Diener eines Tages zu schwach sein und eine neue Generation an ihren Platz treten würde.

Die vier Männer wurden mit einem Mal der klaffenden Wunden gewahr, die ihre Oberkörper entstellten, und suchten einen Schrei auszustoßen, doch kein Laut drang aus ihren Kehlen. Entsetzte Blicke auf die geschundenen Körper der anderen ließen sie erkennen, dass sie ihrer Kehlköpfe ebenso entledigt worden waren wie einem Großteil ihrer inneren Organe sowie ihrer Hände und Füße. Kaum wurde ihrem umnebelten Geist bewusst, in welchem Zustand sie sich befanden, brach der unmenschliche Schmerz jäh auf sie herein und ließ sie sich winden und aufbäumen. In der Mitte zwischen ihren Altarsteinen erblickten sie eine Art Tisch, auf dem die dampfenden Organe und Körperteile aufgehäuft lagen, und sahen nun mit abscheulichem Grauen dabei zu, wie einige der uralten Männer ein Stück nach dem anderen ergriffen und von der Plattform warfen, während sie mit kultischen Objekten aus Metall hantierten. Aus dem Augenwinkel meinten die Verstümmelten zu sehen, dass der gesamte Boden des schrecklichen Saales in Aufruhr wallte; eine schwarze Masse, lebendig und doch nicht organisch, ein Gallert der Hölle selbst.

Unter stummen Schreien, vergeblichem Winden und verzweifelten Tränen hauchten die Männer ihr Leben aus, doch wurden sie in den letzten Sekunden ihrer Pein den Trägern der flackernden Lichtflecken gewahr, die die Szene von vier Seiten beleuchteten. Es waren Rinder, ein jedes mit einer schweren Kerze auf dem Rücken, deren geschmolzenes Wachs die ausgezehrten Leiber umfloss. Arme Kreaturen, die von den fremdgeleiteten Alten missbraucht wurden, um Opfer für die grausige Daseinsform in die Tiefe des gewaltigen Bauwerks zu locken.

Als sie starben, sahen die Vier eine letztes Traumbild. Es setzte ein, als ihre Herzen zu schlagen aufhörten, und riss ab, als ihre Gehirne verendeten. Es waren Gedanken der fremden Macht, die sie wahrnahmen, vielmehr jedoch Visionen der Zukunft als der Vergangenheit.

Sie sahen die Menschheit dahingerafft, vernichtet durch ihre eigene Hand.

Sie sahen die Welt in Schutt und Asche, zerstört durch menschliche Misshandlung.

Und sie sahen, wie die schwarze Masse die Erde verließ, um die ewigen Chroniken der Zivilisation mit den Aufzeichnungen der Menschheit zu ergänzen und um ihr Werk in anderen Welten fortzusetzen, wo Kulturen geboren wurden, aufblühten, Großes vollbrachten und schließlich wortlos zugrunde gingen.

Sie war ein Sammler.

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Yuggoth
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