Der Piratenschatz
Sara, Paul und Tobias saßen im
Baumhaus im Garten von Tobias Eltern und beobachteten die gegenüberliegende
Straßenseite. Dort trat gerade Frau Putzer aus ihrer Haustür, in der rechten
Hand trug sie einen vollen Plastikmüllbeutel. Vorsichtig um sich schauend ging
sie zu der Mülltonne von Herrn Neuhaus, der mit seiner Familie das Haus neben
Frau Putzer bewohnte. Frau Putzer öffnete den Mülleimer und warf ihren
Müllbeutel hinein. Dann verschwand sie mit schnellen Schritten in ihrem Haus.
Die drei Kinder kicherten. Das tat
die Putzer immer. Sie hatten sie schon oft dabei beobachtet. Warum sie das tat,
war den Kindern klar: Die Putzer spinnt eben! Die war nicht ganz dicht! Das
wusste jeder in der Straße.
„Vielleicht sollten wir dem Neuhaus
mal Bescheid geben, dass die Putzer ihm immer ihren Müll in den Mülleimer
schmeißt“, sagte Paul und wischte sich eine blonde Haarsträhne aus seinem
Gesicht.
„Ist nicht nötig“, entgegnete
Tobias. „Der Neuhaus weiß das schon lange. Bevor die Müllabfuhr kommt wirft er
den Müll von der Putzer wieder in ihren Mülleimer zurück.“
„Klare Sache von Doppeldoof!“,
sagte Sara und tippte sich mit dem rechten Zeigefinger an die Stirn.
„Erwachsene sind manchmal wirklich komisch. Ich möchte nie erwachsen werden.“
„Na ja, nur keine Angst. Bis das
soweit ist, musst du aber auch noch ne’ ganze Ecke wachsen.“ Saras Bruder Paul
lachte neckend. Er wusste, dass seine Schwester sich grämte, weil sie die
Kleinste von den dreien war.
Paul und Sara waren beide gleich
alt. Sie waren zweieiige Zwillinge. Paul bildete sich jedoch auf die drei
Minuten, die er eher geboren war, viel zu viel ein. Meinte wenigstens seine
Schwester. Beide waren acht Jahre alt, mit dem einen Jahr jüngeren Tobias
verband sie eine innige Freundschaft.
„Habt ihr schon davon gehört, dass
nächste Woche „Käpten Blackbeards Piratenpark“ aufmacht?“, wechselte Tobias das
Thema. Er wollte nicht, dass sich die Geschwister womöglich in die Haare
bekamen.
Natürlich hatten Paul und Sara das
gewusst. Sie hatten die Berichte davon in der Zeitung verfolgt und sich
natürlich auch die bunten Reklametafeln, die an jeder Straßenecke hingen, zu
Genüge angeschaut.
Im Nachbarort würde ein großzügig
ausgestatteter Freizeitpark für Kinder seine Pforten öffnen. Viele dieser
Freizeitparks hatten den Wilden Westen als Thema erkoren, dieser jedoch hatte
sich Piraten und alles was dazugehörte als Sensation ausgesucht.
Genau das Richtige für die drei
Freunde, hatten sie doch schon vor langer Zeit ihre „Schatzinsel-Piratenbande“
gegründet. In Ermangelung eines größeren Gewässers, das irgendwo in der Nähe
hätte sein können, hatten sie den Garten von Tobias Eltern zur Insel erklärt
und das Baumhaus von Tobias war ihr Piratenstützpunkt.
Alle drei hatten den
Jugendbuchklassiker „Die Schatzinsel“ gelesen und waren seitdem Feuer und
Flamme für alles was irgendwie mit Piraten zu tun hatte.
„Paul und ich werden in den
Piratenpark wohl nie reinkommen“, sagte Sara traurig. „Unser Vater hat uns
schon gesagt, dass für solche Spielereien kein Geld da ist.“
Der Vater der Geschwister war
gelernter Verkäufer und schon seit längerer Zeit arbeitslos. Das Geld für den
Lebensunterhalt verdiente die Mutter der Kinder, die mehrere Stellen als
Putzfrau hatte.
„Wenn ihr nicht in den Piratenpark
gehen könnt, dann will ich das auch nicht. Nur mit meinen Eltern wird das
keinen Spaß machen.“ Tobias schaute sie bekümmert an.
„Das verstehen wir“, sagte Paul.
„Mit Erwachsenen allein im Freizeitpark ist doof.“
Das entsprach zwar nicht wirklich
ganz seiner Meinung, denn die Freizeitaktivitäten, die Pauls Eltern mit ihren
Kindern unternahmen, machten den Kindern immer sehr viel Spaß. Die Eltern der
Zwillinge ließen ihnen sehr viel Freiraum und hatten selbst immer viel Freude
an Schwimmen, Drachen steigen lassen, Verstecken spielen und was es sonst noch
so gab, was Spaß machte.
Tobias Eltern dagegen waren sehr
streng und achteten immer darauf, dass sich ihr Sohn bei allen Vergnügungen
nicht etwa schmutzig machte oder gar verletzte. Kein Spaß für einen
Siebenjährigen.
Diesmal wechselte Sara das Thema.
„Nun lasst uns aber unsere Zeit nicht verplempern. Wir hatten doch vor heute
auf Schatzsuche zu gehen. Habt ihr keine Lust mehr dazu?“
Doch hatten sie. Sie kletterten die
Strickleiter, die aus dicken, stabilen Tauen bestand, herunter. Unten an den
Baum waren zwei Gartenspaten und eine Unkrauthacke an den Stamm gelehnt. Ihr
Schatzsuche-Werkzeug.
Sie hatten das Gebiet, wo sie nach
Käpten Flints Schatz, dem Piratenkapitän aus der „Schatzinsel“, suchen wollten,
schon ausgewählt. Im Garten von Tobias Eltern gab es eine große, freie Fläche.
Dort sollte demnächst ein Swimming-Pool entstehen. Hier konnten sie nach
Herzenslust graben und nach ihrem Schatz suchen, ohne dass es Ärger mit Tobias
Vater geben würde.
Sie machten sich auf den Weg zum
„Hohen Baum“ der auf einer Anhöhe der Insel stehen musste und zwar zehn Fuß
Nord-Nordost bei Ost von der „Fernrohrschulter“ entfernt.
Der Baum, die Anhöhe und die
Fernrohrschulter bestanden nur in ihrer Fantasie, beziehungsweise in der
Fantasie des Autors der Schatzinsel. In ihrem Spiel war Sara Jim Hawkins, der
Erzähler der „Schatzinsel“. Tobias war Long John Silver, der Piratenhauptmann,
und Paul stellte insgesamt sechs Piraten dar.
Die Kinder umrundeten den Garten
mehrmals, da in „Der Schatzinsel“ die Piraten einen längeren Weg zurücklegen
mussten, bevor sie den Schatz fanden. Sie wollten sich in ihrem Spiel möglichst
genau an die Vorlage halten.
Die „Piraten“ und „Jim Hawkins“
waren endlich am Ort, wo der Schatz vergraben sein musste, angekommen. Sie
nahmen Spaten und Hacke und fingen an zu graben. Und tatsächlich … nach kurzer
Zeit stieß Paul (6 Piraten) an etwas, das Widerstand leistete. Er stieß fest
mit dem Spaten dagegen. Es klang metallisch!
„Wir haben etwas gefunden! Wir
haben wirklich etwas gefunden!“ Seine Stimme überschlug sich fast.
„Na los, grab es aus!“ Sara war
ebenfalls rein aus dem Häuschen. Ihre Piratenrollen und ihr Piratenspiel waren
vergessen. Nur Tobias behielt die Ruhe.
„Ich helfe Dir“, sagte er zu Paul
und machte sich daran mit seinem Spaten den Erdboden zu bearbeiten.
Sie förderten einen kleinen,
hellblau lackierten Metallbehälter zutage. Er war noch ziemlich neu, er konnte
noch nicht lange hier vergraben gewesen sein. Sie säuberten ihn von der an ihm
haftenden Gartenerde und Paul zog an dem Griff, der sich am Deckel des
Behälters befand. Der Deckel ließ sich ganz leicht öffnen.
Die drei Kinder schauten in das
Metallkästchen hinein. Drei bunt bedruckte Karten lagen darin. Paul holte sie
heraus. Verdutzt schaute er auf die Karten.
„Das gibt’s doch nicht“, sagte er.
„Das sind ja drei Eintrittskarten. Drei Eintrittskarten für „Käpten Blackbeards
Piratenpark“. Wie kommen die denn hierher?“
„Tja“, meinte Tobias und lächelte
wissend. „Wie kommen die denn hierher? Die kommen hierher, weil ihr meine
Freunde seid.“