Ordnung
Er stand am Wohnzimmerfenster seiner kleinen Wohnung. Die Skyline des nahen Industriegebietes erhellte die Nacht mit tausenden von Lichtern, die aussahen wie die Festbeleuchtung eines Ozeandampfers. Schon oft hatte er diesen Anblick gesehen und genossen. Es hatte ihn stets zum träumen angeregt.
In dieser Nacht aber war alles anders. Er schaute aus dem Fenster und sah doch nichts. Er sah nicht die Macht der Dunkelheit, so viel Schlechtes auf der Welt verbergen zu können. Verzweifelt bemühte er sich, seine Gedanken zu ordnen. Ja, er musste Ordnung schaffen. Es war dringend nötig.
Schließlich fand er sich im Bad wieder. Bei den einfachen Dingen anfangen. Bedächtig setzte er den Rasierer ans Kinn, um die Stoppeln vom Tag zu entfernen. Er ließ sich viel Zeit mit dieser Aufgabe. Es sollte eine gute Rasur werden. Sie gehörte zum Ordnung schaffen dazu. Wieder und wieder führte er die Klinge von den Wangen hinunter bis zu seinem Hals. Dort hielt er kurz inne, um das Ergebnis zu begutachten.
Er war noch nicht zufrieden. Nicht glatt genug. So wiederholte er die Prozedur, schloss auch sein Kinn mit ein. Mit prüfender Hand strich er über die Haut. Es wird wohl glatt werden, aber ich sehe trotzdem schrecklich aus. Wie alt bin ich nur in den letzten Monaten geworden? Tiefe Falten gruben sich um seine Mundwinkel und in die Stirn. Von den Lachfalten, die früher seine strahlenden Augen unterstützt hatten war keine Spur mehr zu sehen.
Irgendwann war er dann endlich soweit. Zufrieden war er mit dem Ergebnis zwar immer noch nicht, aber es ging wohl nicht besser. Mit kaltem Wasser beseitigte er die letzten Reste Schaum und trocknete wie in Zeitlupe sein Gesicht ab. Das war nicht mehr er selbst im Spiegel, nur noch ein Schatten von ihm. Und Schatten haben in der Nacht keine Überlebenschance.Gedanken
Sein Herz begann zu pochen, hoch im Hals und hielt ihm die Luft ab. Es hätte alles nicht so kommen dürfen. Aber er hatte ja nicht aus seiner Haut gekonnt. Er hätte sie nicht verlieren müssen. Sie war doch zu einem Teil von ihm geworden. Und ohne diesen Teil war er nicht mal mehr ein halber Mensch. Werden eigentlich auch halbe Menschen beerdigt? dachte er, während er sich langsam zurück in sein Zimmer bewegte.
Ordnung schaffen. Das war das Einzige, was ihm geblieben war. Sein Computer, welcher schon den ganzen Tag vor sich hin gebrummt hatte, zog ihn an. Er setzte sich davor und begann, den Datenbestand seiner Festplatte zu durchforsten. Er wußte nicht wonach er suchte, doch schon bald stieß er auf ein Verzeichnis mit Fotos. Fotos seiner Familie und Freunde. Und Fotos von IHR. Die Schmerzen wurden noch stärker. Jedes Foto erzählte eine kleine Geschichte. Eine schöne Geschichte. Aber warum nur bereiteten ihm die schönen Geschichten hinter den Fotos jetzt solches Leid?
Ruckartig trennte er sich von diesen Gedanken. Er hatte eine Aufgabe zu erledigen. Ordnung schaffen. Es mussten noch ein paar Zeilen geschrieben werden. Ein paar Worte mit der Bitte um Verzeihung. Ein paar Worte des Abschiedes. Ein paar Sätze, die ihr viel Glück für ihre Zukunft wünschten. Dieses Glück hatte sie bitter nötig. Was er zerstört hatte, musste jetzt ein anderer wieder aufbauen. Eine wahrlich schwere Aufgabe.
Rasch war geschrieben, was ihm wichtig erschien. Mit dem Papier in seinen Händen stand er auf, überflog im Stehen noch einmal die paar Zeilen. Es musste genügen. Das nächste Ziel war sein Kleiderschrank. Er wollte so gut wie möglich aussehen. Also suchte er nach dem besten Hemd und der besten Krawatte. Alles sollte passen. Er wollte so angezogen sein wie damals, als sie sich das erste Mal trafen. Recht bald wurde er fündig und zog sich an. Als er diese Aufgabe geschafft hatte, fiel sein Blick auf seine Schuhe. Nein, viel zu schmutzig, dachte er. Sie mussten glänzen, es gehörte dazu.
Während er die schwarze Creme gleichmäßig verteilte, schweiften seine Gedanken wieder weit ab. Er hatte keine wirkliche Kontrolle über sie. Er sah sich plötzlich wieder auf dem Parkplatz, auf dem sie sich das erste Mal gesehen hatten. Wie wunderbar war doch dieses Gefühl von Wärme gewesen, das in diesem Moment seinen ganzen Körper durchflutet hatte. Er tadelte sich selbst. So würde er niemals fertig werden. Also zwang er seine Gedanken, sich mit den Schuhen zu beschäftigen.
Endlich war er fertig und vervollständigte sein Outfit. Jetzt passte alles. So hatte er sie kennen gelernt. Nun gut, es schien alles Wichtige erledigt zu sein. Langsam drehte er sich um und bewegte sich erneut Richtung Fenster. Luft würde ihm jetzt gut tun. Weit öffnete er eine Seite und schaute hinunter. Es würde nur einen kurzen Augenblick dauern. Tief sog er die Nachtluft in seine Lunge. Es war alles getan.
Bis auf diese Kleinigkeit.