Romane & Erzählungen
Siana

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"Siana"
Veröffentlicht am 16. Juli 2011, 72 Seiten
Kategorie Romane & Erzählungen
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Siana

Prolog

Sie seufzte leise, sah das flache, schwarze Ding in ihrer Hand an. Dann tippte sie drauf, drehte es um und ihre Daumen bewegten sich schnell über das Ding. Ihre Nägel klapperten leise darauf, aber man konnte es kaum hören, weil rundherum die Luft brummte. Sie hielt einen Moment inne, tippte nochmal dann legte sie es wieder seufzend hin.

Irgendwo auf der Welt vibrierte nun ein anderes solches Ding leise. Ein junger, hübsch anzusehender Mann, auf den ersten Blick hätte er ein Prinz sein können, zog es aus seiner Hosentasche heraus. Er tippte ebenfalls darauf und konnte dann folgendes lesen: „Gut zu wissen, was du damit meinst, dass ich dir nicht mehr so wichtig bin. Ich habe begriffen – ich bin so ganz und gar unwichtig geworden für dich.“

Ist das der Anfang der Geschichte?

Man möchte denken, dass die Geschichte da anfängt. Einfach, weil das die Begebenheit war, die das Ganze auslöste, doch die Geschichte fängt eigentlich viel vorher an und doch beginnt sie erst viel später. Die Geschichte hat eigentlich keinen Anfang und sie hat auch kein Ende – es ist schwer zu beschreiben, und ich kann mich auch nicht entscheiden, wo ich beginnen soll oder ob ich zuerst das Ende erzählen soll. Vielleicht beginne ich einfach mit mir selbst.

Mein Name ist Badma. Ich bin die Vertraute der Kaiserin Siana, die Gefährtin Ozians. Wir haben zwei Söhne, Someno und Folarin. Seit jenem Tag an dem wir in der neuen Welt waren, wohnen wir bei Siana und Eluan, Sianas Gefährte. Das klingt alles sehr kompliziert und verworren. Ich bin mir nicht einmal ganz sicher, ob es vonnöten ist, all diese Verbindungen jetzt schon aufzuschreiben. Doch ist es ein Anfang, wie ich meinen möchte.

Wir leben schon seit vielen Monden hier, in oder auf dieser Welt. Bis anhin war es einfach die Welt in der ich lebte, doch vor ein paar Tagen bat Siana mich, sie ein Stück zu begleiten. Der Frühling lag über dem Land und der Abend war herrlich schön. Ich hatte viel gearbeitet und so erschien es mir sehr verlockend mit Siana zu gehen. Wir liefen über die Wiesen, über den Bach, weiter über Wiesen und durch einen Wald, bis wir zu einem See kamen, den ich noch gar nicht kannte. An dessen Ufer setzten wir uns, Siana öffnete ihren Korb und packte allerlei Leckereien aus, legte sie zwischen uns und forderte mich auf, zu Essen.

„Badma. Ich habe eine sehr wichtige Aufgabe für dich“, sagte sie, als ich satt auf dem Rücken lag und den Wolken zu sah, die über uns zogen.

„Wir sitzen hier am See der Wahrheit, im Lande Asibels.“

Ich setzte mich auf und sah mich um. „Aber“, begann ich, „wir waren doch gar nicht so lange unterwegs? Asibels Land liegt viele Tagesritte von uns weg!“ Siana lachte leise.

„Ja, meine teuerste Badma, das ist so. Doch werde ich dir das noch nicht erklären, weshalb wir zwei so schnell hier waren – und weshalb wir noch schneller wieder zu Hause sind. Wisse einfach, dass du den Weg, den schnellsten Weg nicht alleine gehen sollst. Irgendwann wirst du das können, das wird von grosser Bedeutung sein, aber noch nicht jetzt.“

Ich sah Siana an. Betrachtete ihr glattes, fast schwarzes Haar, ihre feinen Gesichtszüge mit diesen grossen, braunen Augen, die mich ihrerseits voller Liebe ansahen.

„Was ist meine Aufgabe?“, mir war wieder eingefallen, dass sie von einer Aufgabe gesprochen hatte.

„Du sollst die Geschichte aufschreiben, die ich dir erzählen werde.“

„Aber“, ich sah mich erschrocken um, „ich habe doch gar nichts zu schreiben dabei!“

Siana lächelte. „Mach dir keine Sorgen, Badma, du brauchst nichts zu schreiben um das aufzuschreiben.“

Nun war ich endgültig verwirrt. Siana fuhr fort: „Sieh in den See, Badma – und sag mir, was du da siehst.“

Ich stand auf und ging langsam zum See.

„Geh weiter hinein, sonst siehst du nichts!“

Ich watete weiter hinein. Das Wasser war nicht kalt, es war angenehm warm, was mich für einen Moment innehalten liess. Wie kann das Wasser im Frühling so warm sein?

„Geh weiter“, forderte Siana mich auf. Sie sass immer noch am Ufer und sah mir zu, wie ich langsam weiter hinein ging.

„Und nun bleib stehen – warte bis das Wasser still ist und sieh dann hinein.“

Ich tat, was Siana sagte. Zuerst erkannte ich nichts. Nur verschwommene Bilder. Doch je länger ich hinsah umso deutlicher wurde es. Ich sah zwei Frauen, die zusammen an einem Tisch sassen. Die eine sah aus wie Siana – und die andere war ich. Vor mir lag etwas auf dem Tisch, etwas Schwarzes mit vielen Knöpfen auf denen ich einzelne Buchstaben erkennen konnte. Siana reichte mir gerade ein Glas. Was für ein seltsames Glas das war. Es war eine grosse Kugel mit einem Stil daran und unten einem Fuss, einem runden Fuss. Wir lachten einander zu, tranken aus diesem seltsamen Glas eine rote Flüssigkeit.

„Das sind Helen und Esther“, sagte Siana neben mir. Ich hob den Kopf. Siana stand direkt neben mir und sah dasselbe wie ich. „Esther erzählt nun eine Geschichte, die Helen aufschreiben wird. Da mit dem schwarzen Ding… siehst du?“ Ich richtete meine Augen wieder auf die Wasseroberfläche, musste ein bisschen warten, bis das Bild wieder scharf war – da sah ich, wie Helenes Finger über die Knöpfe huschte – und dann konnte ich die Stimme von Esther, der anderen Frau, hören. Sie erzählte…

 

„Während Matthias packte, stritten wir weiter. Ich wollte nicht, dass er auf diese Reise ging, die ihm sein Chef aufgedrückt hatte. Timon war gerade 18 Monate alt und ich hatte ein schlechtes Gefühl, meinen Mann gehen zu lassen. Er schlug vor, dass Timon und ich ihn begleiten könnten. Dass er genug Geld auf der hohen Kante hätte, mir und unserem Sohn ein angenehmes Hotelzimmer zu bezahlen, damit wir in seiner Nähe bleiben konnten. Bei diesem Gedanken zog sich alles in meiner Brust noch enger zusammen.

„Esther! Ich habe auch kein gutes Gefühl dabei – und eigentlich möchte ich, dass ihr zu Hause bleibt. Ich aber, ich muss gehen. Wenn ich nicht gehe…“

„Ja, ich weiss schon! Ich weiss es ja!“, mit diesen Worten verliess das Zimmer mit Timon auf dem Arm. Ich setzte mich ins Wohnzimmer, Timon vor mir auf den Boden und versuchte ehrlich nicht zu weinen. Timon zog sich am Sofa hoch und schlang seine Ärmchen um mich. Da konnte ich nicht mehr an mich halten und weinte. Irgendwann kam Matthias, schlang seine Arme um uns beide. Er küsste uns und ging, ohne ein Wort zu sagen. Doch der Kuss – er roch so sehr nach Abschied, dass ich glaubte, es müsse mich auseinander reissen. Die Tage die folgten waren sehr lang. Matthias fehlte mir. Und auch Timon fehlte er. An dem Tag, sogar um die Zeit, als Matthias hätte nach Hause kommen sollen, klingelte es an der Tür. Timon und ich sprangen auf, rannten zur Tür. Ich riss sie auf – und hätte sie am liebsten gleich wieder zugeschlagen. Da standen zwei Polizeibeamte vor der Tür. Sie sagten mir, und das will ich jetzt wirklich nicht weiter ausdehnen als nötig, dass es ein Zugunglück gegeben hatte bei dem sehr viele Menschen ihr Leben lassen mussten. Darunter auch mein Matthias. Der gütigste, aufrichtigste und beste Mensch in meinem Leben. Der Vater meines Sohnes. Und nun waren wir beide alleine.“

 

„Badma?“, Sianas Stimme holte mich wieder zurück. „Lass uns wieder ans Ufer gehen. Für heute reicht es!“. Ich schüttelte den Kopf ein wenig, fühlte, wie die Tränen über meine Wangen liefen und in den See tropften.

„Komm jetzt!“, wiederholte sie und nahm mich an der Hand. Wir setzten uns ans Ufer, sahen schweigend zu, wie die Sonne unterging.

„Bevor wir zurückgehen, Badma, muss ich dir etwas sagen.“ Sie wartete einige Augenblicke, dann fuhr sie fort: „Diese beiden Frauen… Esther, das bin ich und… Helen – das bist du. Wir sind seit Anbeginn der Zeit enge Freundinnen und Vertraute. Es dauert nicht mehr lange, und ich werde abdanken und alles meiner und Eluans Tochter Damelia übergeben. Für mich wird es Zeit, mich zurück zu ziehen und irgendwann zu sterben.“

„Timon…“, flüsterte Badma, „ist Timon… ist Timon Nibram?“

„Ja. Timon ist Nibram. Nibram ist Timon. Aber höre, Badma, du wirst alles erfahren, weil du die Geschichte ja schreibst, die ich dir erzähle. Doch du wirst nur hier Erinnerungen daran haben. Sobald wir Asibels Land verlassen wirst du nichts mehr davon wissen. Du kannst dich nicht erinnern, du kannst niemandem davon erzählen.“

„Aber warum nicht?“, wollte ich wissen.

„Weil es uns alle in grösste Verwirrungen stürzen würde. Du wirst viele Dinge erfahren, Badma, du wirst die ganze Wahrheit erfahren. Stück für Stück. Dafür werde ich dich jeden Abend hierher bringen, und wir werden jeden Abend in den See sehen. Und nichts, wirklich gar nichts darf uns davon abhalten. Was auch geschieht, Badma – wir müssen jeden Abend hier her kommen!“

„Warum?“, wollte ich wissen.

„Weil es an der Zeit ist, das Buch zu schreiben.“, antwortet Siana und erhob sich. „Komm, lass uns nach Hause gehen! Ozian und Eluan und die Kinder warten bestimmt schon auf uns.“

„Weiss Eluan…?“, fragte ich.

„Nein. Eluan weiss nichts.“ Dass ausgerechnet mein Gefährte Ozian davon wissen könnte, auf die Idee kam ich nicht einmal. Aber ich will gar nicht so weit vorgreifen. Das verwirrt nur. Siana nahm mich wieder bei der Hand und wir waren binnen kürzester Zeit wieder zu Hause. Und ich erinnerte mich nur an einen wunderschönen Spaziergang.

Die Nacht legte sich über das Land und wir gingen alle schlafen. Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war mir, als hätte ich einen äusserst seltsamen Traum gehabt. Doch das Gefühl fiel von mir ab, als ich nach unten kam und Siana zur Hand ging mit dem Brotteig, den sie gerade knetete.

„Badma! Siana!“, Ozian stürmte die Treppe hinauf, „Siana!“ er betrat die Küche, sein Gesicht war rot und verschwitzt, seine Augen weit aufgerissen, „Siana! Sie haben Feuer gelegt! Am äusseren Rand der Stadt! Alles brennt!“, er liess sich keuchend auf den nächsten Stuhl sinken. Siana hielt inne, knetete dann seelenruhig weiter.

„Wo ist Eluan?“, fragte sie.

„Ich habe ihn seit gestern nicht gesehen, Siana!“, antwortete Ozian. „Wann hast du ihn das letzte Mal gesehen?“

„Er hat die ganze Nacht neben mir gelegen.“

„Und wo ist er jetzt?“

„Das, werter Ozian, das weiss ich nicht.“

Siana klopfte den Teig noch einmal ab und wusch sich dann die Hände. „Ich werde nach Damelia sehen, sie hatte letzte Nacht Fieberträume“, und verliess die Küche. Ozian und ich sahen uns an. Ein wenig ratlos wie mir schien und doch… da war ein Gedanke und die Erinnerung an den Traum. Alles knapp unter der Oberfläche, so, dass ich kein Wort darüber verlieren konnte. Und in Ozians Augen lag etwas, was ich nicht deuten konnte.

Das Feuer breitete sich immer weiter aus, es dauerte sehr lange, bis die Menschen Herr über das Feuer wurden. Siana, Ozian und ich ritten zum Stadtrand um zu helfen. Siana versorgte die Verletzten, Ozian und ich halfen Eimer voller Wasser weiter zu reichen. Als das Feuer endlich gelöscht war, ritten Ozian und ich nach Hause. Siana blieb – „geht nur und schlaft euch aus. Ich werde kommen, sobald meine Arbeit getan ist. Und Badma… denk an den Spaziergang heute Abend!“. Und mir fiel ein, wie sie am Abend vorher gesagt hatte: „Und nichts, wirklich gar nichts darf uns davon abhalten. Was auch geschieht, Badma – wir müssen jeden Abend hier her kommen!“

An jenem Tag geschahen sehr viele merkwürdige Dinge. Zum einen wusste kein Mensch wo Eluan steckte, zum anderen stieg das Fieber von Damelia blieb hoch und meine Söhne stritten den ganzen Tag nicht ein einziges Mal miteinander. Es war seltsam ruhig im Haus. Nicht nur im Haus, sondern überall. Ich dachte bei mir, dass wohl alle noch am Stadtrand aussen waren und halfen aufzuräumen. „Das ist es nicht“, sagte Ozian zu mir, obwohl ich kein Wort gesagt hatte. „Es ist, als ob – ich weiss nicht, als ob wir alle furchtbar traurig wären.“

„Warum sollten wir traurig sein?“, wollte ich wissen, „es ist nicht das erste Feuer, Siana bekommt das schon hin – und dann ist alles wieder gut!“

„Nein, mein Schatz“, sagte Ozian und nahm mich in die Arme, „dieses Mal wird nicht alles wieder gut. Du wirst schon sehen.“

„Was weißt du, was ich nicht weiss?“, wollte ich wissen.

„Ich weiss nicht, was ich weiss.“, entgegnete er. „Es ist nur so ein Gefühl. Es…“, er hielt inne, „ich werde wohl mit Siana darüber reden müssen, bevor ich dir…“, er schwieg wieder und sah mich entschuldigend an. Langsam kam ich mir ein bisschen wie neben mir vor. Was war die letzten Tage nur los mit den Menschen rund um mich herum? Siana wollte jeden Abend spazieren gehen, Ozians Schultern hingen von seinem Körper hinunter, die Kinder stritten sich nicht lauthals, Damelia lag mit hohem Fieber im Bett – und Eluan war verschwunden. Ich tat, was ich in solchen Situationen immer tat, ich ging in den Stall und sprach mit meiner Lieblingskuh. Sie konnte zwar nicht reden, aber sie konnte wunderbar zuhören. Nicht einmal Siana hörte so geduldig zu, wie meine Kuh.

 

„Badma?“, Siana suchte nach mir, „wollen wir los?“, ich erhob mich aus dem Stroh, strich meiner Kuh über den Rücken und verabschiedete mich von ihr. Natürlich vergass ich nicht, mich bei ihr zu bedanken, was sie mit einem leisen „Muhh“ beantwortete. Ich trat aus dem Stall und sah Siana an. „Seit wann bist du zurück?“, fragte ich sie.

„Gerade gekommen“, antwortete sie. „ich habe mich nur schnell ein wenig gewaschen und den Korb gepackt“, fügte sie hinzu. Sie musste meinen Blick bemerkt haben. „Ich kann doch nicht mit russigem Gesicht und Kleid mit dir spazieren gehen!“, rief sie und lachte. „Lass uns gehen!“ – sie nahm mich an die Hand und wir gingen wieder über die Wiesen und den Wald bis zum See. Als wir an dessen Ufer im Gras sassen und uns das Essen schmecken liessen, kamen ganz langsam die Erinnerungen an den Abend vorher wieder. Und ich wusste, was ich zu tun hatte. Ich watete in den See, Siana neben mir, ich wartete bis der See wieder ruhig um uns lag, sah hinein und wartete bis die Bilder klarer wurden und ich die Stimme hören konnte. Dann huschten Helenes Finger wieder über die Tastatur, während Esther erzählte:

„Als Timon in den Kindergarten kam, suchte ich mir eine Arbeit. Erst nur für die Vormittage, wenn Timon bestens versorgt war. Ich fand tatsächlich etwas. Bei einem Psychologen in der Stadt, für den ich die ganzen Berichte abtippte und archivierte. Sein Name war Lukas. Als ich Lukas das erste mal sah – ich sass auf einem Stuhl vor seinem Büro, die Türe ging auf und die Sonne stand so, dass sie genau hinter seinem Rücken war, was ihn wie in goldenes Licht getaucht wirken liess, dachte ich: „So muss ein Prinz aussehen!“. Ich fand den Gedanken so albern, dass ich lachen musste, was ihn wiederum dazu brachte, mich auch anzulächeln. Er kam mir entgegen, ich erhob mich – als unsere Hände sich zum Gruss berührten, wusste ich einfach, dass ich ihn lieben würde. Noch nicht jetzt, natürlich, aber es war einfach so ein Gefühl, dass es so sein würde. Irgendwann. Die noch offenen Fragen waren schnell geklärt, zu meinem Leidwesen, denn ich hätte ihm gerne stundenlang zugehört, weil seine Stimme so unglaublich sanft und doch kräftig war. Wir verabschiedeten uns, was mir sehr schwer fiel und trennten uns für eine Woche. Als diese Woche vorbei war – und ich alle möglichen Kleider und Make-ups ausprobiert hatte, was war ich doch nach so langer Zeit ungeschickt in diesen Dingen, rückte mein erster Arbeitstag heran und ich freute mich wie ein Kind auf Weihnachten. Und jeden Tag freute ich mich noch mehr, ihn zu sehen. Sein Lächeln war himmlisch und seine Augen… die waren Sommerhimmelblau. Ich verliebte mich in ihn, wie ich mich noch nie in einen Mann verliebt hatte. Tagsüber arbeitete ich bei ihm, nachts träumte ich von ihm. Wir verstanden uns immer besser und ich hatte endlich wieder Geschichten im Kopf. Ich schrieb und schrieb und schrieb. Er war es, der mich ermutigte, meine Geschichten zu veröffentlichen. Er war es der mir überhaupt wieder zu allem Mut machte, was zu einem guten Leben gehörte. Und ich liebte ihn jeden Tag noch ein bisschen mehr. Was natürlich nicht mehr zu verheimlichen war. Eines Abends, er hatte mich zum Essen ausgeführt, danach waren wir tanzen – brachte er mich wieder nach Hause. Er kam wie üblich mit hinein, wir setzten uns mit einem Glas Rotwein auf die Terrasse, sagte er aus dem Nichts: „Esther… ich liebe dich!“ – für mich folgten die wunderbarsten drei Jahre meines Lebens. Timon, Lukas und ich – wir waren eine kleine, glückliche Familie. Bis zu dem Tag, an dem…“ die Stimme verblasste, Badma konnte nichts mehr verstehen.

„Es ist Zeit nach Hause zu gehen“, sagte Siana leise. „Komm.“

Sie wandte das Gesicht ab, ich wusste aber, dass sie weinte. Das wiederum gab mir einen solch heftigen Stich in mein Herz, dass auch mir die Tränen in die Augen schossen. Siana sprach kein Wort, bis wir zu Hause waren. Schon von weitem hörten wir die Stimmen unserer Gefährten und die der Kinder. Als wir um die Ecke kamen, blieben wir erstaunt stehen. Sie waren alle draussen um die Feuerstelle versammelt und über dem Feuer brutzelte ein Mastschwein.

„Ahhh, Siana und Badma!“, rief Eluan und kam uns entgegen. Er küsste mich leicht auf die Wange und umarmte dann Siana. „Es gibt etwas zu feiern!“, rief er, „kommt… kommt!“ Wir traten näher ans Feuer und da erkannte ich den alten Kobral.

„Nanu!“, rief ich, „der alte Kobral! Was führt dich zu uns?“

Siana trat zu ihm, lächelte und ergriff mit ihren Händen seine Pranke. „Kobral! Wie schön dich zu sehen! Sag, wie ist es dir ergangen?“

„Ah, Siana, meine Teuerste! Du hattest Recht! Du hattest so Recht!“, dröhnte er und lachte ausgelassen, „ich habe alles so vorgefunden, wie du gesagt hast, genauso. Und ich habe mich an deine Worte gehalten und alles getan, wie du aufgetragen hast!“

Kobral sah Siana mit einem Blick an, der mich am ehesten an einen treuen Hund erinnerte, dem aber der Schalk im Nacken sitzt.

„Hast du ihn?“, fragte Siana, die nun über das ganze Gesicht strahlte.

„Nein.“

„Nein?“, das Strahlen verglühte regelrecht. „Warum nicht?“

„Ich habe eine Nachricht für dich, meine Teuerste – aber erst, wenn ich von dem ganzen Abenteuer erzählt habe! Die Nachricht ist so das… wie könnte man das nur sagen…“

„Das Sahnehäuchen?“, erwiderte Siana.

„Was um der Sonne willen ist ein Sahnehäubchen?“ wollte mein Sohn Sameno wissen.

„Ach… nichts“, winkte Siana ab, „ich hab das nur mal irgendwo gehört!“, sie drehte sich zum Feuer und fragte: „Wann gibt es denn essen?“.

„Sobald Damelia mit dem Brot und dem Gemüse fertig ist“, lachte Eluan und jeder konnte sehen, wie stolz er auf seine Tochter war.

„Sie ist wieder auf den Beinen?“, fragte Siana.

„Natürlich!“, rief Eluan, „deine Arneien wirken immer!“ er lächelte ihr zu. Und da sah ich zum ersten Mal, wie Siana seinem Blick auswich. Ihr Gesicht wirkte verschlossen und beinahe kalt, als sie erwiderte, „dann will ich ihr mal zur Hand gehen!“. Und weg war sie. Ich fühlte Ozians Blick, wandte mich um und als ich ihn ansah, schüttelte er seinen Kopf, so, dass ich nicht sicher war, ob er ihn wirklich geschüttelte hatte. Dann bewegte er den Kopf in Sianas Richtung. Dieses Mal verstand ich ihn. Er bedeutete mir, Siana zu folgen und den beiden drinnen zu helfen.

„Sameno, Folarin! Holt noch mehr Holz!“, wandte er sich dann an die Jungen, „wir wollen beim Essen ja nicht frieren!“ Während ich hinein ging, hörte ich die beiden Halbstarken johlend davon rennen. Sie piesackten sich wieder. Was mich beruhigte, wenn nicht freute.

In der Küche fand ich Siana und Damelia eng umschlungen vor. Wie eine einzige Statue, die Meister Metz gemeisselt hatte. Ich hatte das Gefühl, die Statue hätte auseinanderbrechen können, hätte ich mich zu laut bewegt oder etwas gesagt. So ging ich still an ihnen vorbei und machte weiter, wo Damelia aufgehört hatte. Als Damelia leise zu sprechen begann, bemühte ich mich, nicht hinzuhören. Was gar nicht so einfach war. „… Verräter…“ ich begann vor mich hinzusummen. Weigerte mich, irgendetwas zu denken und gab mir alle Mühe das Wort ganz schnell wieder zu vergessen. Aber ich hörte, wie Siana sagte: „Ich weiss mein Schatz, ich weiss… seine Spuren sind überall da, wo das letzte Feuer war!“ Ich summte lauter. Doch die Worte brannten sich ein. Sie wiederholten sich in meinem Kopf immer und immer wieder. Wann immer ich mich nicht auf etwas anderes besann, hörte ich es. So kam es, dass ich den ganzen Abend sehr beschäftigt war. Keine ruhige Minute gönnte ich mir, was mir wiederum besorgte Blicke von Ozian eintrug. So kam es auch, dass ich nichts von den Abenteuern des alten Kobral hörte – was mir später leid tat. Ich bat Ozian etliche Tage später, mir die Geschichte zu erzählen, was er auch tat. Wir lagen zusammen auf der Heuwiese unter blauem Himmel.

„Ach Ozian! Ich habe die Geschichte vom alten Kobral nicht gehört!“, sagte ich.

„Wie denn auch, Badma, du hast den ganzen Abend keinen Augenblick still gesessen!“

„Ich konnte nicht“, gab ich zurück, und Ozian war klug genug, mich nicht zu fragen, weshalb. Ich hätte es ihm nicht sagen wollen. Vor allem nicht, weil ich am Tag danach an den Rand der Stadt geritten war, um die Spuren zu suchen und zu finden.

„Erzählst du es mir?“, fragte ich ihn. Er lächelte und meinte, „aber gerne, meine Schöne Badma, aber gerne!“ Ich legte meinen Kopf auf seine Brust und hörte ihm zu…

 

Kobral und Ngum

„Siana hatte den alten Kobral los geschickt, acht Tage gegen Osten zu reiten mit dem besten und schnellsten Pferd, das es gibt. „Dort“, so hatte sie ihm gesagt, „wirst du einen Schmetterling finden. Er ist sehr gross und hat blaue Flügel. Dieser Schmetterling wird mit dir sprechen können. Er wird dir eine Geschichte erzählen, die ich noch nicht kenne, Kobral. Mein Wunsch wäre es, du könntest ihn mit nach Hause bringen, damit er mir die Geschichte auch erzählt. Es heisst, seine Stimme sei so lieblich wie Meeresrauschen“, (da wollte der alte Kobral wissen, was denn Meeresrauschen ist, und Siana sagte ihm, dass ein Meer das grosse Wasser sei, das niemals enden wolle, dass man nur mit grossen Schiffen (worauf der alte Kobral natürlich wissen wollte, was ein Schiff ist, darauf gab ihm Siana aber keine Antwort) darüber kommen könne, und das Wasser, das an die Ufer getragen werde, rausche – es gäbe fast nichts schöneres als dieses Geräusch, sagte sie, worauf sich der alte Kobral nichts vorstellen konnte, aber sein Respekt vor Siana verbot ihm, nochmal nachzufragen). „Es kann gut geschehen, dass du während  er erzählt einschläfst – das darf dir aber auf keinen Fall gesehehen! Wir brauchen die ganze Geschichte! Wie gesagt, mein Wunsch wäre, dass du ihn mir hier her bringen könntest – doch weiss ich nicht, ob dir das gelingt.“

„Ich werde alles tun, dir diesen Schmetterling zu bringen!“, gelobte der alte Kobral.

„Nein. Du sollst nicht alles tun, mein Guter. Du sollst ihn lediglich fragen, ob er dich hier her begleitet. Auf keinen Fall sollst du ihn in Gefangenschaft nehmen! Frag ihn – wenn er ja sagt, wird er dich begleiten!“

„Warum nicht gefangen nehmen Siana?“, wollte er wissen.

„Weil seine Flügel sehr zart sind, vor allem für so grosse Hände wie du es hast, mein Guter. Und auf seinen Flügeln liegt feiner Staub – damit er fliegen kann. Und ein Schmetterling, der nicht fliegen kann, ist kein richtiger Schmetterling. Nicht wahr?“

Das erschien dem alten Kobral eine gute Erklärung zu sein, und er gelobte, den Schmetterling auf keinen Fall zu berühren, oder gar gefangen zu nehmen.

„Wer wird mich begleiten?“, wollte er von Siana wissen. Da hatte sie ihn lange angesehen und dann leise gesagt: „Diese Reise, mein treuer Freund, musst du alleine machen. Nichts soll dich aufhalten. Du musst so schnell wie möglich wieder zurück sein. Genau genommen in 17 Tagen.“

Der alte Kobral erschrak ein wenig. Noch nie war jemand vor ihm acht Tage gegen Osten geritten. Er hatte keine Ahnung, was da draussen war. Doch er wäre nicht Kobral, hätte er sich nicht auf das Pferd gesetzt und wäre los geritten. Die ersten drei Tage ritt er über die Wiesen und Wälder unseres Landes. Dann kam er an einen breiten Fluss. Er erinnerte sich, wie Siana ihm sagte, „folge dem Fluss vom Aufgang der Sonne, bis sie im Zenit steht und du wirst eine schmale Stelle finden, wo ihr beide, dein Pferd und du, hinüber könnt. Dann reite in dieselbe Richtung bis die Sonne untergeht. Legt euch schlafen und wenn die Sonne aufgeht, wirst du ein Zeichen finden, das dir den Weg nach Osten weist.“ Genau so machte er es. Denn er zweifelte nie auch nur einen Augenblick daran, dass Siana nicht die Wahrheit sprach.

Als er am Morgen aufwachte, wusste er im ersten Moment nicht, wo er war. Als er sich hingelegt hatte, war er in einem kleinen Wald mit weichem Boden. Doch nun lag er mitten in einem Kreis mächtiger Steine. Er setzte sich auf und sah sich um. Die Steine standen, ja, er sagte sie standen, nicht lagen, so, dass er und nochmal zwei seiner Grösse bequem nebeneinander hätten dazwischen stehen können. Und da fiel ihm ein, dass die Sonne im Osten aufgeht. Er suchte die Lücke in der er die aufgehende Sonne finden würde und da stand ein Junge. Er sagte, dass es ein Junge gewesen sein müsse, auf jeden Fall, obwohl er nur die Umrisse von ihm gesehen hatte. Da die Sonne direkt hinter ihm aufging, konnte Kobral nur einen dunklen Fleck wahrnehmen. Die Sonnenstrahlen brachen golden den Schatten in scharfe Umrisse – und es müsse ein Junge gewesen sein. Kobral stand sofort auf und ging auf den Jungen zu. Sein Pferd wieherte leise, er drehte sich zu ihm um, schnalzte leise, damit das Pferd ihm folgte. Als er sich wieder dem Jungen zuwandte, war er nicht mehr da. Kobral war ein wenig enttäuscht. Hatte er sich doch auf menschliche Gesellschaft gefreut. Und während er dastand und den Horizont absuchte, stupste ihn das Pferd an die Schulter.

„Ja. Ich weiss. Wir müssen weiter!“ und er setzte sich auf das Pferd. Schnell wie der Wind jagte das Pferd los, direkt in die wärmenden Sonnenstrahlen hinein. Während sie dahingaloppierten dachte der alte Kobral bei sich, dass es schon wunderlich wäre – er verspürte keinen Hunger und keinen Durst. Und da erinnerte er sich, wie Siana sagte: „Du brauchst nichts mitzunehmen, alter Freund, du wirst weder Hunger noch Durst haben, du wirst wohl aber müde sein und schlafen – überlasse es deinem Pferd, wann es Ruhe braucht und wann es weiter geht und lenke es nur, wenn die Gefahren allzu menschlich sind.“ Er wusste, dass Siana ihm stets die Wahrheit sagte, deshalb tat er, was sie ihm sagte. Ãœberliess seinem Pferd die Sache, den Weg zu finden. Und von Menschen war keine Spur zu sehen. Jedenfalls nicht an jenem Morgen. Und auch nicht an jenem Tag. Es war der fünfte Tag.

Kurz bevor die Sonne im Westen unterging kam er zu einem Berg. Einem riesigen Berg, wie er sagte. Ohne einen Weg hinauf und darum herum zu reiten erschien ihm törricht. Denn Siana sagte, „acht Tage gegen Osten“ – würde er um den Berg herum reiten, würde er mindestens zwei Tage lang nach Süden oder Norden reiten – und das war nicht der Befehl. Und er erinnerte sich daran, seinem Pferd die Führung zu überlassen. So sprach er zu seinem Pferd: „Such dir den Weg, alter Junge – immer nach Osten!“. Er schwört bei der Sonne, dass das Pferd leise wieherte, als hätte es ihn verstanden. Was ihn auch nicht wirklich wunderte – schliesslich war es das Pferd, das ihm Siana vor vielen Lenzen schenkte. „Ein Pferd von Siana – das muss ein besonderes Pferd sein“, dachte er bei sich und gleich darauf schlief er auf dem Rücken seines Pferdes ein und konnte deshalb nicht sagen, welchen Weg es eingeschlagen hatte.

Ein Sirren dicht an seinem Ohr hatte ihn wieder aufgeweckt. Vor Schreck wäre er schier hinunter gefallen als er die Augen öffnete um zu sehen, was das für ein seltsames Geräusch war. Das erste was er sah waren graue Felsen auf der einen Seite und eine tiefe Schlucht auf der anderen Seite. Der Weg war so schmal, dass er sich ernsthaft fragte, wie es kommen konnte, dass sie beide noch nicht längst unten im Tal lagen. Er wagte einen Blick nach unten und es wurde ihm ganz seltsam im Magen. Er konnte kein Ende sehen. Nur graue Felsen – ohne Ende. Wieder sirrte es neben seinem Ohr. Und kurz darauf machte es „klack“ – er wandte den Kopf gegen den Berg und sah einen zitternden Pfeil im Stein stecken. „Nanu“, dachte er, „es gibt Pfeile die im Stein stecken bleiben?“ bis ihm klar wurde – wo ein Pfeil war, war auch ein Mensch. Und dieser Mensch schoss, wie schon gesagt, Pfeile auf ihn. Er hiess das Pferd still zu stehen, was törricht war, das wusste er, aber wenn er so schaukelte, konnte er nichts sehen. Das Pferd gehorchte äusserst widerwillig, was ja auch verständlich ist, aber es tat es. Kobral sah sich um. Nichts als graue Einöde – doch da entdeckte er einen dunklen Fleck auf der anderen Seite, ein wenig unterhalb auf der gegenüberliegenden Seite. „Keine Ahnung, wie weit weg die andere Seite da ist, ich weiss es nicht, aber weit weg genug, um nicht erkennen zu können, was für ein Fleck, der sich im Ãœbrigen sehr schnell bewegte, das hätte sein können. Und schon sirrte wieder ein Pfeil an seinem Ohr vorbei und blieb zitternd im Gestein stecken. Während er seinem Pferd die Fersen in die Flanken drückte, ganz vorsichtig natürlich, dachte er darüber nach, ob dies nun eine „allzu menschliche Gefahr“ darstellte – oder ob er seinem Pferd die Führung immer noch überlassen soll. Da sirrte es schon wieder. Der alte Kobral bemerkte, dass die Pfeil immer hinter seinem Kopf vorbeischossen. So, als wollte ihn der dunkle Fleck auf der anderen Seite antreiben, er solle doch schneller reiten. „Bei der Sonne!“, murmelte Kobral und drückte seine Fersen noch tiefer in die Flanken. Die Pfeile verfolgten ihn und sein Pferd, aber sie wurden nie getroffen. Die Pfeile kamen immer schneller und ein Gefühl sagte Kobral, dass er unbedingt schneller reiten musste. Auch sein Pferd schien dieser Meinung zu sein. Es keuchte und schnaufte, es schwitzte aber es lief so schnell wie es konnte auf dem schmalen Weg. Und da hörten sie beide zur gleichen Zeit diese Unheilvolle Geräusch, das ihnen das Blut in den Adern gefrieren liess. Kobral sagte, dass die Pfeile ihn fast schon verzweifelt vorwärts trieben und das Pferd sicher schon mit den Augen gerollt hätte – trotzdem ging es weiter und weiter, bis sie plötzlich auf eine weite Ebene kamen. Nichts als Steine. Wohlan riesige Steine. Gross wie kleine Berge. Aber sonst nichts. Kein Baum – einfach nichts. Dachte er. Doch er hatte sich gründlich geirrt. Denn gerade, als sich seine Augen enttäuscht von der Einöde auf den Hals seines Pferdes wandten, mit diesem schrecklichen Geräusch, für das es keine Beschreibung gibt, ausser dass es einfach schrecklich war, im Ohr, glaubte er sich schon verloren. Und einen klitzkleinen Moment dachte er: „Siana hat mich belogen!“. Doch genau in jenem Augenblick wurde er vom Rücken seines Pferdes gehoben, einige Zischlaute folgten und jemand, oder etwas, wie er sich berichtigte, schob ihn hinter einen der grossen Steine. Herrlich kühl war es da, und er wollte schon aufatmen, doch er wurde weiter gedrängt in den Spalt, den er zuerst gar nicht gesehen hatte. Er dachte noch bei sich, dass der Spalt viel zu eng für ihn und sowieso für sein Pferd wäre, doch der Spalt öffnete sich und sie konnten fast schon bequem durch spazieren. Hinter ihnen schloss sich der Spalt wieder, bis kein Tageslicht mehr zu sehen war. „Nanu?“, dachte sich der alte Kobral, „wo bin ich denn nun?“ Als er sich umsah bemerkte er, dass sie nicht alleine waren. Allerlei Schatten huschten an den Wänden umher, was Kobral sagte, dass irgendwo Licht sein musste. Der Farbe nach tippte er auf ein grosses Feuer. Denn hier drin wirkte alles seltsam orange, fast schon rot.

„Wer seid ihr?“, fragte eine Stimme. Kobral drehte den Kopf hin und her – doch er konnte niemanden sehen. Nur die Schatten. Ihm wurde ein wenig mulmig. „Man nennt mich den alten Kobral – und das ist mein Pferd, ein Geschenk von Siana.“, sagte er laut.

„Siana schickt dich?“, fragte die Stimme.

Kobral nickte und fügte schnell ein „Jaah“, hinzu. Er wusste ja nicht, ob die Stimme ihn sehen konnte oder nicht.

„Dann sei unser Gast, alter Kobral, wir dachten uns schon, dass du von Westen kommst. Dein Pferd, weißt du.“

„Mein Pferd?“, hakte Kobral nach.

„Dein Pferd kommt von hier“, sagte die Stimme und lachte dann leise.

„Nanu!“, rief der alte Kobral aus, „das Pferd kommt von hier?“, und er erinnerte sich daran, wie Siana ihm das Pferd vor vielen Lenzen brachte und ihm sagte: „Sei gut zu deinem Pferd. Es ist das Beste Pferd auf der ganzen Welt!“ – und wie sie die Wahrheit gesprochen hatte, dachte er, es war wirklich das beste Pferd, das man sich wünschen konnte. „Du darfst ihm aber keinen Namen geben“, hatte Siana gesagt, „es ist einfach dein Pferd.“ Und daran hatte er sich gehalten.

„Ngum…“, flüsterte die Stimme und Kobral sah, wie die Augen seines Pferdes zu leuchten begannen, so wie wenn Augen leuchten, wenn man alte Freunde wieder trifft. Es wandte den Kopf und sah Kobral an. „Folge mir“, sagte das Pferd. Ja, richtig. Das Pferd sprach zu ihm. Dann setzte es sich in Bewegung und Kobral folgte ihm. Es führte ihn in eine grosse Höhle hinein und der Anblick verschlug ihm die Sprache. „Wie soll ich das nur je jemandem beschreiben, was ich hier sehe!“, dachte er bei sich. Da erklang schon die Stimme die ihm sagte: „Du darfst vom Berg erzählen, und von der Einöde. Davon dass du in einem Spalt verschwunden bist und dass dein Pferd sprechen kann. Das kann es jedoch nur hier. Merk dir das! Du darfst aber nie jemandem erzählen, was du jetzt gerade siehst. Das ist ein Geheimnis, das noch lange Zeit eines bleiben muss.“

„Gut.“, sagte Kobral nur. Er war sehr damit beschäftigt sich umzusehen und sich zu wundern. Plötzlich fiel ihm das Geräusch wieder ein, das er draussen gehört hatte.

„Was war das für ein Geräusch?“, wollte er wissen.

„Das war das Geräusch von Nichts.“

„Das Geräusch von Nichts. Nanu, es hörte sich nicht sehr wie Nichts an.“

„Ja. Das ist mir durchaus klar, dass es sich nicht nach Nichts anhört. Aber es ist das Nichts. Es ist das Nichts vor dem uns Siana vor vielen Monden warnte. Sie sagte, das Nichts würde kommen und alles verschlingen, wenn wir nicht aufpassen.“

„Ähm“, machte Kobral, „kommen hier etwa doch Menschen vorbei?“, dieser Gedanke kam ihm ganz plötzlich. Er wusste auch nicht woher.

„Ja. Dann und wann verirrt sich ein Mensch hier her. Einsame Wanderer, die den Weg zurück nicht finden. Die meisten von ihnen haben aber kein gutes Herz, deshalb lassen wir sie auch vorbei wandern, ohne uns zu sehen oder zu hören.“

„Und warum mich nicht?“, fragte er nun ein wenig argwöhnisch geworden.

„Weil Siana ihre Versprechen gehalten hat. Sie ist die würdige Herrin von eurem Land, alter Kobral! Mehr werde ich dir aber nicht verraten, weil du auch gar nicht mehr wissen musst. Du sollst dich ans Feuer setzen und ein wahres Festmahl geniessen und dich dann am Feuer ausruhen. Wenn die Nacht hereinbricht werden wir dich zum Ausgang bringen und in zwei Tagen wirst du beim blauen Schmetterling ankommen.“

„Wunderbar!“, sagte Kobral und setzte sich ans Feuer. Mancheiner hätte noch viele Fragen gestellt, aber nicht Kobral. Denn er hatte von Siana gelernt, dass die Antworten schon vor den Fragen in unseren Herzen sind. Wer Geduld hat, braucht nur auf sein Herz zu hören. Und Kobrals Herz sagte ihm, dass alles in bester Ordnung war und Ngum und er in Sicherheit. Er ass, bis er nicht mehr konnte, legte sich hin und schlief, bis er wieder aufgeweckt wurde. Es war übrigens Ngum, der ihn weckte. Die beiden wurden weiter in den Berg hinein geführt, es ging stetig abwärts und manchmal rutschten sie sogar auf dem losen Geröll. Gerade als Kobral sich insgeheim fragte, wie lange und wie tief das wohl noch gehen würde, sah er Sonnenlicht. „Bei der Sonne!“, murmelte er zufrieden.

„Wir wünschen euch eine gute Reise! Auf dem Rückweg werdet ihr nicht hier vorbei kommen – das heisst, wir werden uns wahrscheinlich nie wieder sehen!“ – das machte Kobral ein wenig traurig. Es gefiel ihm hier und die Lebewesen hier waren sehr liebenswürdig. Aber mehr durfte er ja nicht verraten. Es tat ihm auch ein wenig leid um Ngum. Schliesslich war das sein zu Hause.

Als sie aus dem Berg hinaus traten verschlug es Kobral den Atem. Vor ihm erstreckte sich eine riesige Wiese mit kniehohem Gras und wilden Blumen deren Duft so wild und süss in die Nase stieg, dass er lachen musste. „Die Wiese der Ewigkeit“, brummelte Ngum. „Es wird herrlich sein, darüber zu galoppieren! Komm. Sitz auf, alter Kobral, der Tag ist noch jung!“ Kobral musste sich noch daran gewöhnen, dass sein Pferd sprechen konnte. Deshalb zögerte er auch einen Moment, bevor er sich auf den starken Rücken setzte und Ngum die Führung übergab.

Sie waren schon eine Weile unterwegs, was Kobral aber überhaupt nicht lange vorgekommen war. Ngum und er unterhielten sich aufs Prächtigste. Ngum wusste alles über die Blumen und Gräser, und erzählte natürlich voller Stolz seinem Reiter davon.

„Mir wird langsam klar, weshalb die sie die Wiese der Ewigkeit heisst“, meinte er.

„Sieh mal da vorne, da kommt der Wald. Kannst du ihn erkennen?“

Kobral schirmte seine Augen mit der Hand ab. „Oh ja!“, rief er dann, und: „Die Bäume müssen ja riesig sein!“

„Ja. Das sind sie. In diesem Wald leben, so sagt man, die Einhörner. Und Gnome und all diese Geschöpfe.“

„Einhörner?“, fragte Kobral nach.

„Ja. Einhörner. Aber wir werden keines sehen. Noch nie hat sie jemand gesehen. Deshalb weiss man ja auch nicht wirklich, ob sie tatsächlich da sind.“

„Hat dieser Wald einen Namen?“

„Oh ja, natürlich. Das ist der Wald der anderen Geschichten.“

„Nanu? Andere Geschichten?“

Ngum wieherte leise. „Das fragte ich auch, als ich noch viel jünger war. Und meine Mutter sagte mir, dass da die Fantasie anderer Menschen wohne. Mehr weiss ich leider auch nicht darüber, meine Mutter wollte nicht mehr darüber sagen, ausser, dass wir jederzeit in den Wald, durch den Wald und aus dem Wald kommen, ohne einer Gefahr zu begegnen. Ausser jemand anderer hat gerade eine Geschichte zu erzählen, in der wir vorkommen sollten. Das geschieht aber äusserst selten, sagte sie.“

„Ob Siana mehr darüber weiss?“, fragte sich Kobral laut.

„Ganz sicher weiss Siana alles darüber. Wer weiss… vielleicht erzählt sie es uns wenn wir wieder zurück sind?“

„Ngum, mein gutes Pferd, wir werden sie fragen!“

Nun kam der Wald immer näher. Und die beiden schwiegen. Sie hatten keine Lust womöglich noch von einem Geschichtenerzähler gehört zu werden und in seiner Geschichte zu landen. Sie hatten schliesslich einen Auftrag zu erfüllen. Während sie durch den Wald gingen wurde ihnen klar, wie gut ihre Entscheidung war, zu schweigen. Sie hörten viele Stimmen die Geschichten erzählten. Schnappten hie und da Worte, ja ganze Sätze auf, die sie aber beim Verlassen des Waldes wieder vergessen hatten.

„Schlaf ein wenig, Kobral“, sagte Ngum. „Ich gehe einfach immer weiter!“

„Danke mein Bester!“, erwiderte Kobral und schlief im selben Moment ein. Sein Kopf senkte sich langsam in Ngums Mähne und er begann zu schnarchen, was Ngum wiederum ein leises Wiehern entlockte, das doch wie ein Lachen klang. Derweil glitt Kobral in einen seltsamen Traum.

Er war in einer ganz anderen Welt, das erkannte er schnell. „Nanu?“, habe er gedacht, was ist denn da los? Er fuhr mit einem komischen Ding, er wusste leider nicht mehr wie es hiess, auf einer breiten Strasse. Gerade vier solcher Dinge hätten nebeneinander Platz gehabt. Man sitze in diesen Dingern und müsse mit den Füssen auf Platten drücken und es wäre ein Heidenspass. Jedenfalls sei er also gefahren und neben ihm sass Siana, die ihn ganz ernst angesehen habe. Da er immer wieder nach vorne sehen hätte müssen, weil er sonst in ein anderes Ding gefahren wäre, hätte er sie nicht die ganze Zeit ansehen können, wie er das gern getan hätte. Doch jedes Mal, wenn er sie wieder angesehen hätte, hätte sie jünger ausgesehen. Als sie ein etwa ein fünfjähriges Mädchen gewesen wäre, hätte sie die Hand ausgestreckt und gesagt: „komm mit!“ und dann hätte er noch gesehen, wie er in das vordere Ding gekracht wäre und er hätte es irgendwie gewusst, dass er Tot wäre. Und dass Siana ihn hierher geholt hätte.

Als er erwachte und sich umsah, sah er Ngum ein paar Schritte von ihm entfernt und graste friedlich.

„Du hast mich abgeworfen?“, fragte er entrüstet. „Aber Ngum! Das ist nicht nett!“

„Nicht nett, hmmm?“, machte Ngum, „na, ich fand es auch nicht nett, wie du auf meinem Rücken rumgerutscht bist und mit deinen Füssen in meine Seiten gedrückt hättest wie ein irrer. Mal da, mal da – das hat weh getan! Bei der Sonne!“

„Oh.“, machte Kobral, „das tut mir leid, Ngum. Ich hatte einen äusserst seltsamen Traum!“

„Aha.“, machte er und wieherte leise. „Komm, steig auf, wir müssen weiter. Kannst mir ja unterwegs erzählen!“. Kobral stieg auf und weiter gings im Trab. Kobral erzählte seinen Traum. Als er fertig war, meinte er: „Nanu? Ich kann mich so genau daran erinnern? Wie das? Wie das?“, und dann schwiegen Ngum und er. Sie mussten nachdenken.

Nach diesem Teil machte er eine sehr lange Pause. Er war ziemlich erschöpft. Und wir hatten so viele Fragen, das kannst du mir glauben. Doch Siana bat uns, damit zu warten bis zum Ende der Geschichte. Weil sie sicher war, dass wir am Ende alles verstehen würden.

Kobral und Papilio Azureus

Der letzte Morgen brach an. Sie schwiegen beide noch immer, das war auch ganz gut so. Sonst hätten sie das leise Geräusch nicht gehört. Es klang wie der Flügelschlag eines riesigen Vogels – aber noch sehr weit weg.

„Wie lange müssen wir weiter reiten?“, fragte Ngum. Kobral konnte aber gerade nicht sprechen. Denn in jenem Moment stieg die Sonne direkt aus dem Wasser, das vor ihm lag. Der Anblick raubte ihm den Atem und er weinte, ein bisschen. Ngum blieb ganz still stehen. So sahen sie beide zu, wie die Sonne langsam aus dem Meer stieg – und das Rauschen von den grossen Wellen kam.

„So, sagte Siana, spricht der Schmetterling!“

„Oh!“, machte Ngum. „Ich hoffe nur, man versteht dann auch etwas.“

„Sie sagte, wenn wir am Meer ankommen, müssen wir dem Ufer folgen bis zu einer Flussmündung. Dem Fluss folgen – und dann sind wir am Ziel.“

„Na dann. Lass uns weiter ziehen.“ Kobral sagte nicht viel dazu, er stieg auf Ngums Rücken und drückte leicht in die Flanken. Die Sonne brannte immer stärker auf ihre Köpfe und das erste Mal seit sie unterwegs waren, verspürten beide einen unbändigen Durst. Die Zunge klebte am Gaumen und sie fühlten, wie sie an Kraft verloren. Obwohl sie so dicht am Wasser waren, lief Ngum weiter und weiter. Als sie bei der Flussmündung ankamen, rannte er weiter einige Meilen weit, bevor er sich ins Wasser stürzte und trank. Kobral rutschte von ihm herunter direkt ins kalte Wasser hinein.

„Gutes Pferd!“, sagte Kobral nachdem er ausgiebig getrunken hatte. „Ngum, du bist wahrhaftig der Beste!“

„Warum?“, wollte er wissen.

„Weil wir nicht darüber reden mussten, ob wir das Wasser trinken oder nicht. Wir wussten beide, dass wir das nicht dürfen!“

„Und ihr seid der Quelle sehr nah!“, sagte da eine Stimme über ihnen. Ihre Köpfe schossen hoch – doch da waren nur Bäume. Ein wirres Geäst und undurchdringliches Blätterdach.

„Willkommen, meine Freunde, gesandte Sianas.“ Ein riesiger Schmetterling kam in schaukelndem Sinkflug (wie er es nannte), anmutig wie die schönste Frau, die Kobral je gesehen hatte und setzte sich vor ihnen auf einen Stein.

„Mein Name ist Papilio Azureus.“

„Nanu?“, machte Kobral, „also dich hätten wir noch nicht erwartet.“

Papilio lachte leise. „Ach, ich weiss – wenn Siana jemanden schickt, dann drängt die Zeit ein bisschen. Und da dachte ich mir, ich komme euch entgegen.“

„Das ist unglaublich nett von dir, Papilio Azu… nanu, ich kann mir den Namen wohl nicht merken!“, er lachte ein bisschen. Papilio lachte auch. „Macht nichts. Nenn mich doch einfach Papi. Das ist ganz einfach.“

„Ja, das ist wirklich sehr einfach Papi. Das ist übrigens Ngum, mein Pferd.“

„Hallo Ngum!“, sagte Papi und schlug ein bisschen mit den Flügeln, „Es freut mich, euch kennen zu lernen!“

„Die Freude ist ganz meinerseits!“, entgegnete Ngum und schnaubte ein wenig.

„Nun denn“, sagte Papi, nachdem er zwischen ihnen hin und her gesehen hatte, „lasst uns rauf gehen. Ich habe Euch etwas zu sagen und vor allem etwas zu geben. Denn leider müsst ihr Euch schon bald wieder auf den Weg machen.“

„Aber Siana sagte, wir sind 17 Tage unterwegs…“

„Ihr werdet 17 Tage unterwegs sein – wenn ihr euch heute noch auf den Weg macht. Wenn nicht – na dann wird die Reise wohl einige Monde dauern.“

„Nanu? Was erwartet mich wohl auf dem Rückweg?“

„Das, mein Freund, wirst du sehen, wenn du unterwegs bist. Nun lasst uns hinauf gehen.“

„Ich kann nicht fliegen, mit Erlaub das sagen zu dürfen.“, brummelte Ngum.

Papi sah ihn zuerst völlig irritiert an, dann begann er zu lachen. „Natürlich nicht auf einen Baum, Ngum, nein nein. Ihr müsst nur noch ein Stück dem Bach folgen und dann abbiegen – hinaus aus dem Wald, auf die Ebene hinaus. Wir müssen bis zum Rande gehen, damit wir auf das Land hinunter sehen können. Da werde ich euch sagen, was ich zu sagen habe und euch geben, was ich euch zu geben habe.“

„Dann lasst uns gehen“, meinte Ngum mit einem Schnauben, „bin ich froh, dass ich nicht fliegen muss!“, fügte er hinzu. Kobral lachte. „Ach Ngum! Du bist das beste Pferd!“ und sie machten sich auf den Weg, hinauf auf die Ebene.

„Was ich nicht verstehe, Papi“, begann Kobral, als sie aus dem Wald traten, „ich dachte du bist uns entgegen gekommen?“

„Aber ja, Kobral. Hätte ich gewartet hättet ihr noch durch die Donnerschlucht hindurch gehen müssen. Durch den Wasserfall am Ende. Kommt, ich zeige ihn euch.“

Er flog vor ihnen nach Süden. Je näher sie dem Abgrund kamen, umso deutlicher hörten sie das Donnern der Wasserfälle. Als sie hinunter sehen konnten, waren sie äusserst froh, dass Papi ihnen entgegen gekommen war. Dieser Weg wäre wahrlich sehr beschwerlich gewesen. Dann führt Papi sie wieder zurück nach Norden, weg von den Wasserfällen. Sie gingen ein gutes Stück weg vom Abgrund bis sie zum Wald kamen, da nahmen sie den Weg der sie ostwärts führte, bis sie ans Ende der Ebene traten und sich das Land zu ihren Füssen ausbreitete wie ein grüner Teppich. Über diesem Teppich schillerte ein silbernes Band und trennte das satte Grün vom tiefen Blau des Himmels.

„Die Sonne steht gleich richtig“, sagte Papi, „zweimal am Tag, an solchen Tagen wie heute, geschieht es zweimal.“

„Was geschieht zweimal?“, wollte Kobral wissen.

„Siehst du den dunklen Strich, der da durch den Wald führt?“

Kobral konnte ihn sehen.

„Gleich wird…“, er schwieg, weil in diesem Moment war jedes Wort überflüssig. Der schwarze Strich wurde rot. Ein solch tiefes Rot, wie es weder Kobral noch Ngum je gesehen haben.

„Das ist der Rubinfluss“, flüsterte Papi. „Ist es nicht wunderschön?“

„Das ist wahrlich wunderschön, Papi! Wahrlich! Du hast ein wundervolles Land!“

„Es ist das Land der Schmetterlinge, Kobral. Von hier bis zum Meer und von hier“, er drehte sich gegen Osten, „bis der Wald aufhört.“ Dann wandte er sich nach Süden – „Vom diesem Berg im Süden zu diesem Berg im Norden.“, er hatte sich gegen Norden gewendet. Ngum und Kobral mit ihm.

„Es ist ein fruchtbares, gutes Land, Kobral. Und es wird deins sein. Doch erst wirst du die Botschaft zu Siana bringen müssen. Und mein Geschenk. Es wird bestimmt nicht einfach werden, für euch beide. Doch wenn du zurückkommst, Kobral, soll das Land dir gehören!“

Kobral sah sich nocheinmal um. Das Land war riesig gross. Es verwirrte ihn auch, dass er ein solches Land besitzen sollte. Doch er schwieg. Siana, da war er sich sicher, würde ihm schon sagen können, was das zu bedeuten hatte.

„Du hast eine Botschaft für uns Papi?“, fragte er.

„Ja. Eine Botschaft. Hört zu: „Der Stein ist nicht die Mitte, es ist der Osten, der Stein ist nicht das Herz, es ist das Blut – in meiner Mitte steht der Junge mit reiner Seele – erst dann ist alles eins. Am Tage des Verrates erbleicht der Stein und es beginnt von vorne.“

„Phuuu“, machte Kobral und wischte sich die Stirn ab, „da muss ich mich gehörig ins Zeug legen, um das behalten zu können!“, er sah zu Ngum. „Du hilfst mir oder?“, Ngum nickte. „Natürlich!“, so prägten sich beide die Botschaft ein. Als sie die Worte im Kopf hatten, stieg Papi hoch hinauf, drehte ein paar weite Kreise und kam wieder herunter.

„Sie sind gleich da.“, sagte er. „Sie werden euch nun einen Stein bringen, den ihr an Siana übergeben sollt. Euer Rückweg, das habe ich bereits erwähnt, wird kein einfacher sein. Vergesst die Botschaft nicht, verliert den Stein nicht – und gebt nicht auf!“. Von oben herab sanken acht Schmetterlinge, die einen Stein trugen. Kobral sah ihnen erstaunt zu. So etwas gab es nicht. „Nanu“, dachte er, „ich wusste gar nicht, dass Schmetterlinge so stark sind!“, da lag der Stein auch schon vor seinen Füssen. Langsam bückte er sich, hob ihn auf und drehte ihn zwischen den Fingern. „So etwas Schönes! Ngum, sieh doch – er ist blutrot!“ Er warf einen letzten Blick darauf und liess ihn dann in seiner Tasche verschwinden.

„Und nun ist es Zeit, zu gehen, liebe Freunde. Bis zum Waldrand werde ich euch begleiten – danach müsst ihr selber weiter.“ Er schwang sich in die Luft und flog in Richtung Wald. Ngum und Kobral folgten ihm. Sie warfen einen letzten Blick auf das wunderschöne Land zwischen ihnen und dem Meer – dann traten sie auch schon in den Wald.

„Lebt wohl und kommt bald wieder!“, rief Papi.

„Leb wohl Papi! Auf Wiedersehen!“, riefen die beiden zurück. Sie drangen tiefer und tiefer in den Wald hinein. Schweigend gingen sie nebeneinander. Sie hatten eine Menge nachzudenken.

Neun Tage später waren sie wieder zu Hause. Kobral erzählte nicht viel von diesen Tagen. „Das würde ewig dauern, das zu erzählen. Aber ich kann euch sagen – ich sah ein paar Dinge, die ich lieber nicht gesehen hätte. Wir trafen den Schattenjungen noch einmal, und auf Nichts sind wir auch gestossen. Und Ngum und ich haben uns geschworen, dass wir davon nicht  mehr reden wollen.“

Damit war die Geschichte zu Ende.“ Ozian rupfte ein paar Grashalme aus und sah Badma an.

„Ozian?“, machte diese träge, sie lag auf dem Rücken und hatte die Augen geschlossen, „Du erzählst wunderbar!“ Sie setzte sich auf und küsste ihn. „Vielen Dank!“

„Ich habe es so erzählt, wie es Kobral erzählte.“

„Was geschah danach?“, wollte ich wissen.

„Siana fragte Kobral, ob er zurück ins Land von Papi gehen wolle. Ob er das Land haben wolle. Er wollte natürlich mehr darüber wissen, was das bedeutet und so weiter. Da sagte Siana, „ich will dir alles erzählen, was du wissen musst. Doch werde ich das nicht hier tun und auch nicht heute. Sondern morgen, wenn wir ausgeschlafen sind.“ Sie lächelte ihm zu und er nickte. Ich glaube, es kommt ihm gerade sehr gelegen. Jedenfalls ging er dann nach Hause. Ich glaube er war ziemlich müde.“

„Das glaube ich gern! Aber es ist schön, dass er wieder da ist. Ich glaube, das war für Siana sehr wichtig.“

Ozian nahm mich in die Arme und flüsterte in meine Haare, „ja, es war sehr, sehr wichtig!“. Ich wünschte mir, dass wir für immer so sitzen bleiben könnten.

„Du solltest zu Siana“, flüsterte er.

„Ja, ich weiss“, flüsterte ich zurück.

Siana wartete schon auf mich. „Entschuldige, Siana“, beeilte ich mich zu sagen, „Ozian hat mir Kobrals Geschichte erzählt!“

„Schon gut. Wir müssen uns heute nicht so beeilen. Nimm eine Decke mit, wir werden draussen schlafen.“ Ohne Fragen zu stellen ging ich ins Haus, holte eine Decke, rollte sie fest ein und steckte sie in einen Beutel. Dann zog ich mir die guten Schuhe an und war in kürzester Zeit wieder bei Siana. Wir gingen denselben Weg wie die letzten beiden Abende und doch war alles anders.

 

Helen

Siana stand im See, aufrecht und still wie ein Bild. Ihre Hände hatte sie ausgestreckt, die Handflächen nach oben gedreht. Ihr Blick auf einen Punkt am Horizont gerichtet. Sie murmelte leise vor sich hin, ich konnte kein Wort verstehen. Ich konnte auch den Blick nicht abwenden. Obwohl ich das Gefühl hatte, etwas sehr geheimnisvolles mitzuerleben. Fast als wäre es ein Zauber. Siana sah so wunderschön aus, dass es mir die Tränen in die Augen trieb. Das dunkle Haar fing die roten Strahlen auf und sah aus, als wäre es glühende Kohle. In ihrem hellen Gesicht spiegelten sich das Funkeln des Wassers. Der Ausdruck darauf war feierlich und ernst, die Augen waren geschlossen, solange sie hochaufgerichtet stand. Sie trug ein weisses Kleid, das in der Taille mit einem feinen Gürtel zusammengehalten wurde. Die Tasche, aus grobem, dunklem Stoff, hob sich in klaren Umrissen von dem Kleid ab. Siana senkte ihr Gesicht, öffnete die Augen und sah mich an. Ich dachte sofort an Karamel. Das Karamel, das Siana vor einiger Zeit mit den Kindern gemacht hatte. Sie hatten Zucker und Wasser zusammen erhitzt und als alles flüssig war, leerte Siana es vorsichtig auf ein dunkles Blech. Das Licht des Feuers gab dieser zählen Flüssigkeit eine Farbe, wie ich sie noch nie gesehen hatte – und jetzt hatten ihre Augen dieselbe Farbe. Ihr Blick war intensiv und voll auf mich gerichtet. Sie zog mich zu sich hin, ich konnte nicht anders, ich musste zu ihr gehen. Als ich vor ihr stand, liess sie ihre Hände sinken, griff in die Tasche und nahm eine kleine, silberne Schale heraus. Sie beugte sich zum Wasser, schöpfte mit der Schale ein bisschen heraus und streckte mir die Schale hin.

„Trink, Badma“, sagte sie mit dunkler, aber äusserst angenehmer Stimme. Ich streckte meine Hände aus, nahm die Schale, führte sie zu meinem Mund.

„Was wird geschehen?“, flüsterte ich.

„Du wirst heute nicht sehen, sondern fühlen“, erwiderte sie. Ihre Augen waren immer noch auf mich gerichtet, sie lächelte. Ich hob die Schale an meine Lippen und trank. Das Wasser schmeckte köstlich. Es – ich kann es nicht mehr beschreiben, aber ich dachte in jenem Moment, dass ich noch nie besseres Wasser getrunken hatte.

„Das Wasser der Wahrheit“, begann sie leise, „aus dem See der Wahrheit löscht deinen Durst nach dem Wissen deiner Herkunft. Wenn du es trinkst, wirst du mehr über dich erfahren, als du dir je hättest vorstellen können.“

Ich begriff ihre Worte nicht sofort, ich war immer noch damit beschäftigt die Schale gänzlich zu leeren.

„Wenn die Sonne untergeht, werden wir zum Ufer zurück kehren und uns auf die Wiese legen, um zu schlafen. Und dann machen wir uns auf den Weg.“

Um diese verwirrende Geschichte zu verstehen, erzähle ich sie, als hätte ich zugesehen. In Wahrheit war ich aber selbst Helen.

 

„Esther?“, Helen starrte zu den Bergen hinüber, sie sassen bei Esther auf der Terrasse, hatten grosse Tassen vor sich auf dem Tisch.

„Ja?“, ihre Stimme klang klar, so klar wie der Morgen war.

„Er wird sterben, nicht wahr?“

Esther schwieg lange, bevor sie langsam sagte: „Ja, er wird sterben.“ Helen wusste, dass Esther noch mehr sagen wollte. Aber sie schwieg. Der Schmerz, der sich in ihrer Brust ausbreitete nahm ihr schier den Atem und Tränen brannten in ihren Augen.

„Warum? Er ist noch so jung!“, flüsterte sie irgendwann.

„Ich weiss.“, sagte Esther mit ihrer klaren Stimme. „Es wird ihm gut gehen, da wo er hinkommt.“

Es klang wie ein Versprechen. Tröstlich irgendwie.

„Wohin wird er gehen?“, fragte Helen eine Weile später.

„Seine Seele“, Esther hielt inne und sah Helen an, „seine Seele wird auf die Reise gehen.“

„Aber wohin?“

„Das weiss ich nicht“, antwortete Esther. Helen war nicht sicher weshalb, aber dieses Mal glaubte sie ihrer Freundin nicht.

„Ich glaube, du weißt genau, wohin er gehen wird.“, sagte sie deshalb.

„Du hast Recht. Aber ich kann es dir nicht, noch nicht, erklären. Wir Menschen verstehen es erst, wenn wir selbst da sind.“

„Ich glaube, ich weiss, was du meinst.“, Helen schloss die Augen, lehnte sich zurück. Bilder tauchten vor ihren Augen auf, von einem See und von einer Frau, die neben ihr stand und ihr eine Schale reichte. Doch das Bild verschwamm und verschwand ganz.

„Er hat doch gerade erst die Autoprüfung bestanden“, sagte Helen leise, „was zum Teufel wollte er auf der Autobahn?“

„Ich weiss es nicht, Helen. Ich weiss es wirklich nicht, wohin er wollte.“

„Was geschieht mit Sonja?“

„Sonja wird zu mir kommen.“

„Das ist gut. Ich denke – ja, ich denke, das ist das Beste für sie. Das arme Kind. Zuerst die Eltern und nun auch noch ihr Bruder. Kann sie das ertragen?“

„Ich werde mein Bestes geben, dass sie sich erholt. Die Narben werden immer bleiben, Helen, aber Sonja ist ein sehr starkes Mädchen. Sie schafft das schon.“

Helen hatte wieder den Eindruck, dass Esther noch etwas sagen wollte. Aber sie schwieg, wie schon vorhin.

Helen fühlte sich, als wäre sie in einen Strudel geraten, als würde sie sich schneller und immer schneller drehen, Bilder flogen vorbei, Wortfetzen drangen in ihr Bewusstsein, aber es ging so schnell, dass sie am Ende  nichts verstand und sich auch nicht mehr erinnern konnte, was sie gesehen hatte. Plötzlich stand sie wieder still.

Esther sass vor ihr auf dem Boden. Sie hatte die Beine weit von sich gestreckt, hielt ein Glas in der einen und eine Flasche in der anderen Hand. „Was tust du da?“, fragte Helen.

„Ich betringggge misch“, nuschelte Esther.

„Aber warum um Himmels willen?“

„Könntescht du disch mal enscheiden ob Teufffel oder Himmel?“

Helen sah ihre Freundin irritiert an. „Welchen Unterschied macht es?“, fragte sie.

„Ohhh“, stöhnte Esther leise und richtete ihre Augen auf Helen, „ein rieschiger, gaaaaans rieeeschiiiig!“.

„Du bist schon betrunken. Hör auf. Gib mir die Flasche!“

„Nein.“

„Gut. Dann sag mir, WARUM du dich betrinkst.“

Esther schwieg, fast schon ein wenig trotzig, wie Helen fand. „Wo ist Lukas?“, fragte sie einer Eingebung folgend.

„Keine Ahnung“, nuschelte Esther.

„Wann hast du ihn zum letzten Mal gesehen?“

„Weissch nischt.“

„So ein Quatsch, Esther. Du weißt genau, wann du ihn gesehen hast.“

„Du kennscht misch einfach su guud.“

„Also?“

„Vor einer Woche“, sie nuschelte nicht mehr so stark, das fiel Helen sofort auf.

„Oh.“

„Ja. Oh.“

„Und gehört? Oder gelesen?“

„Vor einer Woche!“, Esther hatte sich aufgerappelt und spie die Worte förmlich.

„Oh.“, machte Helen wieder.

„Ja. Oh.“, Esther stapfte durch die Küche. „Er – ich glaube, ich weiss nicht – ich denke…“, sie stützte sich auf die Spüle und starrte den Wasserhahn an. „Ich werde… ich werde ihn verlassen müssen!“, flüsterte sie dann.

„Fängt das wieder von vorne an?“, Helen zog die Stirn kraus. „Ich dachte, ihr hättet das geklärt?“

„Haben wir auch.“, gab Esther leise zurück, „aber – ich…“, sie drehte sich wieder zu Helen um. „Er war eine Woche einfach weg. Kein Wort – einfach weg.“

„Oho!“, machte Helen. Das klang nicht nach Lukas.

„Ja. Oho!“

„Hast du ihn gefragt, wo er war?“, wollte Helen wissen. Esther stürzten die Tränen aus den Augen.

„Nein“, schluchzte sie, „nein, ich habe ihn nicht gefragt. Ich will es gar nicht wissen. Jedenfalls nicht so genau“, sagte sie, schluchzte wild auf und weinte dann leise vor sich hin. Helen fühlte sich hilflos. „So viele Tränen!“, dachte sie und dann liess sie ihren eigenen freien Lauf.

„Warum muss dein Leben nur so sein!“, schluchzte sie, während sie sich auf den Boden gleiten liess. Esther zuckte die Schultern.

„Gibst du mir ein Glas, bitte?“, fragte Helen.

„Ich hole noch eine Flasche“, gab Esther unter Tränen zurück. „Diese hier“, sie deutete auf die Flasche, die auf dem Boden stand, „reicht wohl nicht mehr!“. Helen nickte. Esther rappelte sich auf und ging aus der Küche. Helen fühlte, wie sich der Kajal und die Wimperntusche lösten und in schwarzen Rinnsalen über ihr Gesicht liefen.

„Du siehst Scheisse aus“, stellte Esther fest, als sie zurück kam. „An solchen Tagen sollte Frau sich nicht schminken.“ Helen wusste, dass Esther nur einen Scherz machte, dennoch gab sie giftig zurück: „An solchen Tagen? Wie hätte ich heute Morgen wissen sollen, dass heute ein SOLCHER Tag ist?“

Esther zuckte wieder mit den Schultern, drückte ihr ein Glas in die Hand und füllte es.

„Prost“, sagte sie, als sie sich auch auf den Boden gesetzt hatte, ihr eigenes Glas gefüllt und nun hochgehoben, „auf all die Scheisskerle auf der Welt, auf Sonja und – auf uns.“ Sie sahen sich stumm an. Dann tranken sie mit grossen Schlucken ihre Gläser leer. Esther füllte sogleich nach. Als die Flasche leer war, holte sie gleich zwei neue. Sie sassen stundenlang auf dem Küchenboden und schwiegen. Beide in ihre eigenen Gedanken versunken. Irgendwann stand Esther auf und meinte: „Ich müsste ihn verlassen. Aber ich kann nicht. Ich liebe ihn. Mehr als alles andere auf der Welt!“

„Hat nicht er dich schon längst verlassen?“, fragte Helen. Genau darüber hatte sie nachgedacht. „Ich meine… Seit einiger Zeit verhält er sich sehr seltsam, finde ich, und ich frage mich…“

„Er hat mich verlassen – aber noch nicht richtig.“, sagte Esther. „Und wenn ich ihn verlasse – wird es ihn nicht sehr berühren, das ist mir klar, aber…“

Wieder hatte Helen das seltsame Gefühl, dass Esther mehr wusste, als sie sagte.

„Esther?“, Helen musste sich anstrengen, ihre beiden Augen auf Esther zu richten.

„Ja?“, Helen fragte sich, warum die Stimme von Esther so klar und vor allem völlig nüchtern klang.

„Was läuft hier?“

„Ich weiss nicht was du meinst.“ Helen zog die Stirn wieder kraus. Die Antwort wollte einfach nicht ins Gespräch passen. Da wurden einige Fragen und Antworten ausgelassen. Wie konnte Esther sagen, „ich weiss nicht, was du meinst“. Warum fragte sie nicht: „Was meinst du?“. Während Helen darüber nachdachte, was länger als sonst dauerte, weil ihr Hirn total vernebelt war, erhob sich Esther und ging wieder aus der Küche. Dieses Mal kam sie nicht wieder zurück. Und Helen war zu müde, um aufzustehen und sie zu suchen. Sie schlief ein.

„Badma… Badma…“, Sianas Stimme weckte mich. Sanft und doch sehr unangenehm. Mein Kopf war schwer und ich hätte gerne weiter geschlafen.

„Badma… hier, nimm…“, sie drückte mir eine Schale in die Hand. Da wurde mir bewusst, wie durstig ich war. Mit geschlossenen Augen hob ich die Schale an meinen Mund und nahm einen grossen Schluck. Als das Wasser meinen Gaumen und meine Zunge berührte, riss ich die Augen weit auf und spuckte das Wasser wieder aus. Es war bitter und schmeckte grauenhaft.

„Was ist das?“

„Die Wahrheit.“, sagte Siana schlicht.

„Muss ich das trinken?“, fragte ich.

„Nein. Jetzt bist du wieder hier und wach.“ Siana lächelte.

„Hier?“, fragte ich. Sie machte eine Handbewegung und erhob sich. „Nicht so wichtig. Komm, wir müssen nach Hause. Die Tiere warten!“

Ich war mir nicht sicher, ob ich wirklich bis nach Hause gehen konnte. So wie sich mein Körper anfühlte, mit den zittrigen Beinen und dem schwammigen Kopf.

„Steh auf und komm“, befahl Siana.

„Seit wann spricht sie so mit mir?“, dachte ich, dennoch erhob ich mich und ging ihr nach. Mit jedem Schritt ging es leichter und als wir zu Hause waren, fühlte ich mich wieder wie die alte Badma.

„Die Träume vergisst man nicht so leicht“, sagte Siana, bevor wir uns trennten, „denke nicht weiter darüber nach, wenn du kannst.“

Ich verzog mein Gesicht zu einem Grinsen. Ich hatte den ganzen Weg darüber nachgedacht, ich konnte nicht anders.

„Wirst du mir irgendwann erklären, was hier geschieht?“, wollte ich wissen.

„Sieh mal“, antwortete sie und deutete hinter mich. „Sie ist zurück!“, schon ging sie an mir vorbei, eilte der Gruppe entgegen.

„Wer?“, fragte ich, doch Siana hörte mich nicht mehr. Ich lief ihr nach. Und da sah ich die junge Frau mit dem flammend roten Haar, die inmitten einer Gruppe lachender Menschen daher schritt, als wäre sie eine Königin. Ihr helles Gesicht war still und ernst und die grünen Augen waren auf Sianas Gesicht geheftet. Siana blieb stehen, breitete die Arme aus und die junge Frau glitt anmutig hinein. Sie legte ihr Gesicht auf Sianas Brust, Siana schloss ihre Arme um sie und so blieben sie lange stehen. Sianas Augen waren weit geöffnet und auf einen Punkt im Nordosten gerichtet, den ich nicht sehen konnte. Und plötzlich sehnte ich mich danach, dass alles wieder so wäre, wie es noch vor ein paar Tagen war. Ruhig und leicht und schön. Doch ich wusste, es würde dauern, bis es wieder so sein konnte. Da gingen Dinge vor sich, die ich nicht begreifen konnte, von denen ich aber trotzdem wusste, was sie zu bedeuten hatten. Ozian war neben mich getreten.

„Wie geht es dir?“, fragte er leise.

„Ich weiss nicht“, flüsterte ich zurück, „ich habe Angst und doch keine Angst… ich… ich…“

„Schon gut, meine Liebste. Schon gut!“, er nahm mich in die Arme und die Tränen flossen in den weichen Stoff seiner Jacke. Er führte mich zurück ins Haus, in unser Zimmer.

„Schlaf ein bisschen“, sagte er und half mir aus den Kleidern zu schlüpfen. Bis zu jenem Moment liess ich ihn einfach machen. Doch als er sagte, ich solle schlafen, war ich wieder hellwach. Alles in mir sträubte sich.

„Nein. Nicht schlafen!“, keuchte ich, Schweiss drang mir aus allen Poren.

„Keine Sorge Badma, du wirst dich nicht an die Träume erinnern. Es ist nicht dasselbe schlafen wie draussen auf der Wiese!“, er schob mich sanft zum Bett.

„Warum…“, ich wusste nicht, wie ich die Frage stellen sollte. Aber mein guter Ozian wusste auch so, was ich fragen wollte.

„Meine Liebste, Badma mein Mädchen“, fing er an, „du wirst bald alles verstehen. Aber sei dir gewiss, solange Siana hier ist, sind wir alle in Sicherheit!“

„Es verändert sich. Oder?“

„Ja. Der Verrat ist nicht mehr weit…“

„Wer traut sich, Siana zu verraten?“, wollte ich wissen, während ich ins Bett sank und Ozian die Decke über mich zog. Er sah mich an und schwieg. Ich öffnete den Mund um nochmal zu fragen, doch es kam kein Wort über meine Lippen. Ich sah in seine Augen, die ruhig auf mich gerichtet waren. Moosgrün wie der Waldboden in der Dämmerung – und ich schlief ein.

 

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bloodredmoon

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bloodredmoon Re: -
Zitat: (Original von shirley am 27.07.2011 - 08:57 Uhr) So nun bin ich fertig. Ärgerlich, dass nun Schluss ist. Da ich gleich wie Badma nicht alles verstehe, bin ich um so gespannter, wie es weitergeht.



:-)))))
Vor langer Zeit - Antworten
shirley So nun bin ich fertig. Ärgerlich, dass nun Schluss ist. Da ich gleich wie Badma nicht alles verstehe, bin ich um so gespannter, wie es weitergeht.
Vor langer Zeit - Antworten
shirley Bin jetzt auf Seite 30. Mein Sohn ist gerade aufgestanden. Muss aufhören. Man ist das spannend.
Vor langer Zeit - Antworten
shirley Bin jetzt auf Seite 24....super schön und spannend.
Ein paar Flüchtigkeitsfehler haben sich eingeschlichen, zBsp: Seite 20 unten ( Arzneien).
Die Geschichte macht auf jeden Fall neugierig. Was ich nicht recht erlesen konnte ( oder hab ich es übersehen?), ist das Land in dem sie leben aus vergangenen Zeiten oder ist es eine Art Parallelwelt?
Werde baldmöglichst weiterlesen....
Vor langer Zeit - Antworten
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