Das Leben von Josef war bisher ohne große Besonderheit oder Auffälligkeiten verlaufen und er hatte eigentlich auch keine großen Ambitionen, was daran zu ändern. Er wollte nie im Rampenlicht stehen oder von allen Leuten bewundert werden. Er wollte nur ruhiges, unauffälliges Leben führen und war mit diesem Lebensablauf auch zufrieden.
Auch sein Tagesablauf gleicht fast schon einem Stundenplan. Aber an einem Tag hatte er frei und wollte mal etwas, für seine Verhältnisse, außergewöhnliches machen. Er wollte in dem naheliegendem Wald spazieren gehen.
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An diesem Tag war es allerdings ziemlich trist und tiefe Wolken hingen am Himmel. Trotzdem entschloss er sich zu diesem Spaziergang, zog seinen Mantel an, setzte den Hut auf und holte sein Fahrrad aus dem Keller.
Josef entschied sich für einen Wald, der weiter weg von der Stadt lag, weil er der Meinung war, dort könnte er seine Gedanken in Ruhe ordnen und würde auch nicht bei zufälligen Begegnungen von Leuten, die er kannte, belästigt werden.
Am Waldrand stieg er ab und kettete sein Rad an einem auffälligen Baum, deren Äste, die viele große Blätter hatten und auch fast bis zum Boden hingen, an. Die Blätter verdeckten auch teilweise das Fahrrad, so dass man dieses nicht sofort entdecken konnte.
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Nun lief er tief in den Wald hinein und dachte über sein Leben nach. Er überlegte auch, was gewesen wäre, wenn er mal in einer anderen Stadt wohnen würde, wie er dann leben, was mit ihm dort passieren würde, aber solche Gedanken verscheuchte er dann immer schnell, weil er wusste, dass es nur Spekulationen sind.
Nach einiger Zeit bog er von dem ausgetretenen Pfad ab, aber er sah sich noch mal um, um sich besondere Kennzeichen zu merken, damit er sich auf dem Rückweg nicht verlaufe. Sein Orientierungssinn war eigentlich sehr gut, aber bei diesem trüben Licht war es nur vernünftig, so viele Anhaltspunkte wie möglich zu sammeln.
Vor der nächsten Abzweigung wuchs am Wegesrand eine große Anzahl von weißen Pilzen, was Josef auch zur Orientierung half. In seinen Gedanken versunken, wanderte er langsam weiter, als ganz plötzlich über ihn was hinweg flog. Er hob seinen Kopf nach oben, konnte aber nur ganz kurz was Schemenhaftes sehen, bevor es verschwand. War das etwa eine Eule, fragte er sich. Eine Eule in unserer Gegend? Josef schüttelte den Kopf, dachte, dass er sich vielleicht nur getäuscht hatte und ging weiter, immer bei jeder Abzweigung darauf bedacht, sich irgendein Merkmal einzuprägen.
Plötzlich packte irgendetwas seinen Hut. Josefs Kopf ruckte hoch und er sah eine Eule, die mit seinem Hut davonflog. Sofort machte er sich an die Verfolgung, aber die Eule flog schneller und war bald außer Sichtweite.
Nach kurzer Zeit unterbrach Josef seine vergebliche Verfolgungsjagd, da er einsah, dass es eh keinen Sinn hätte nach dem Hut zu suchen, denn er würde sich nur verlaufen und den Weg zurück nicht finden. Als er sich umsah um festzustellen, wo er sich befand, entdeckte er, dass er auf einem kleinen Wegkreuz stand. Josef schaute in alle vier Richtungen und wollte schon umkehren, als er noch mal nach links blickte und in der Ferne etwas bemerkte, was wie sein Hut aussah. Er wandte sich in die Richtung und tatsächlich, es war sein Hut. Glücklich setzte er ihn wieder auf und ging weiter. Je weiter er ging umso dunkler wurde es im Wald.
Er lief etwas gedankenverloren weiter als plötzlich eine leise und ganz tiefe Stimme, die man schon als Grabesstimme bezeichnen konnte, „JOSEF, JOSEF“ rief. Er blickte um sich, konnte aber niemanden entdecken. Anscheinend war ich schon so in meinen Gedanken versunken, dass ich mir das eingebildet habe, sagte er zu sich, schüttelte den Kopf und setzte seinen Weg fort.
Kurz darauf hörte er wieder diese Stimme, doch war sie nun etwas lauter, „JOSEF, JOSEF“.
Nun war Josef zwar ein Mensch, der es nicht so schnell mit der Angst zu tun bekam, aber es wurde ihm doch sehr unheimlich zumute, vor allem, weil die Stimme auch seinen Namen kannte.
Also beschloss er umzukehren. Aber nach ein paar Schritten hörte er ein weiteres Geräusch. Doch dieses kannte er, es war der Ruf einer Eule. Als er nach oben blickte, saß auf einem Ast tatsächlich eine.
Sie blickte ihn von oben an und Josef wusste nicht, ob dieser Blick was Gutes versprach oder zum Angriff läutete.
Eine Weile schaute sich Josef bewegungslos den Vogel an und beschloss dann, weiterzugehen. Doch gerade in dem Moment, hob die Eule ab und flatterte genau vor Josefs Gesicht und versperrte ihm den Weg. Dabei sah sie ihn mit großen Augen an. Die ganze Sache hatte etwas Furchteinflößendes an sich. Josef machte aber keine Anstalten sie zu verscheuchen. Er wusste, dass Eulen Raubvögel sind und wenn sie provoziert werden, dann auch angreifen können. Deshalb versuchte er ihr langsam nach links auszuweichen, aber die Eule folgte seinen Bewegungen und blieb immer wieder direkt vor ihm in der Schwebe. Das gleiche wiederholte sich, als er rechts an ihr vorbeigehen wollte. Nun drehte er sich um und ging schnell weg, doch auch hier verfolgte ihn die Eule, überholte Josef, in dem sie über seinen Kopf flog und blieb wieder vor ihm schweben. Josef fühlte sich immer unbehaglicher und sein Puls fing an zu rasen.
„Was willst du vor mir?“, fragte er schließlich laut, obgleich er im selben Augenblick wusste, dass er keine Antwort bekommen würde. Eulen können schließlich nicht reden.
Also drehte er sich wieder um und bog nach rechts in der Hoffnung, dass der Vogel ihn diesmal in Ruhe ließ. Doch auch da passierte das Gleiche. Nun blieb Josef noch die letzte Richtung übrig. Er schlug also diesen Weg an und überlegte dabei auch, was er tun könne, falls die Eule ihm wieder den Weg versperrt.Â
Doch diesmal passierte das Unerwartete. Die Eule verfolgte ihn nicht, sondern blieb an Ort und Stelle in der Luft schweben und Josef nahm mit Genugtuung wahr, dass sie sich schließlich von ihm abwandte und weg flog.
Josef beruhigte sich langsam, sein Puls wurde wieder langsamer und sein Atem regelmäßiger. Dann blieb er stehen und versuchte seine Gedanken zu sammeln. Warum benahm sich diese Eule so unnatürlich? Vor allem, wieso war sie überhaupt da? Eulen sind doch eher nachts aktiv und schlafen tagsüber. Gut, es war ein trüber Tag und im Wald ist es immer etwas finsterer, aber dennoch. Wahrscheinlich bildet diese Eule hier eine Ausnahme.
„Wenn ich in dieser Richtung weitergehe, werde ich mich bestimmt verlaufen, denn das ist nicht meine Richtung“, sagte er zu sich. Dann schaute er um sich herum und hielt nach der Eule Ausschau, ob sich diese doch nicht in seiner Nähe befand, aber konnte nichts sehen oder hören.
Gerade als Josef den ersten Schritt zurück gehen wollte, ertönte wieder diese tiefe Stimme „JOSEF, JOSEF“ und noch mal „JOSEF, JOSEF“.
Nun bekam er doch eine gewisse Panik und schrie, wer da sei. Aber außer einem eigenen schwachen Echo, kam keine Antwort. Stattdessen wieder „JOSEF, JOSEF“. Das klang wieder etwas lauter und eindringlicher. Auch das „O“ wurde länger ausgesprochen. Er fing an in die andere Richtung zu laufen, als ihm die Eule mit hoher Geschwindigkeit entgegen flog. Josef duckte sich und die Eule flog hoch über ihn weg. Er rannte weiter, doch sie verfolgte ihn beharrlich. Josef duckte sich erneut und die Eule flog wieder hoch über ihn hinweg, was ihn doch einigermaßen erstaunte. Wenn die Eule ihn wirklich angreifen wollte, warum stürzte sie sich nicht direkt auf ihn? Dennoch blieb er in einer etwas geduckten Haltung, damit, so seiner Meinung nach, es die Eule schwerer haben würde, ihn anzugreifen.
Als die Eule wieder einmal nicht zu sehen war, fing er sich wieder und bekam ein ruhigeres Gefühl, doch dann kam wieder die Stimme „JOSEF, JOSEF“.
„Bist du das, Eule, die mich immer ruft? Was soll das?“, rief Josef und lief der Eule hinterher. Dabei vergaß er völlig sein eigentlich starkes Realitätsbewusstsein, dass Eulen nicht sprechen können, oder etwa doch?
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Er musste wieder mal tief durchatmen, sein Herz schlug ganz schnell, das Ganze kam ihm nicht geheuer vor. Alles hatte den Anschein einer witzigen Jagd, worüber er natürlich nicht lachen konnte. Dann schaute er sich noch mal um, um zu sehen, dass er sich nicht verlaufen hatte. Aber zu seiner Erleichterung entdeckte er einen markanten Baum, den er schon mal gesehen hatte. Sein Stamm war von Tieren halb abgeknabbert, also wusste er, dass er sich wieder auf dem richtigen Weg befand. Dennoch hielt er nach der Eule Ausschau, denn ihr Verhalten bereitete ihm Sorgen. Er hatte mal gehört, dass wenn Menschen sich völlig anders als sonst verhalten, können sie besonders gefährlich werden. Und bei Tieren ist es noch eindeutiger. Vielleicht ist diese Eule auch krank und will wissen, warum Josef in ihr Revier eingedrungen ist. Diese Gedanken kreisten ihn im Kopf herum und er beschloss dann doch auf dem Weg weiter zu gehen.
Nach dem ersten Schritt ertönte wieder die Stimme „JOSEF, JOSEF“. Er schaute sich noch mal um, entdeckte nichts und wollte weiter gehen, da flatterte die Eule schon wieder vor ihm und gleichzeitig hörte er erneut „JOSEF, JOSEF“. Doch das kam eindeutig von der anderen Seite, also kann es die Eule nicht gewesen sein.
„Aber wenn es die Eule nicht war, was oder wer ist es denn sonst?“, fragte er sich halblaut. Es kam ihm alles so unlogisch vor. Und sollte er aus dem Wald wieder raus kommen, dürfte er natürlich niemanden seine Geschichte erzählen, denn keiner würde ihm glauben und ihn für einen Träumer oder Spinner halten.
„JOSEF, JOSEF“ und sofort wieder, „JOSEF, JOSEF“. Das war neu, dass es zweimal hintereinander kam. Und Josef hatte den Eindruck, dass die Stimme, zwar immer noch dunkel war, jetzt aber weniger furchteinflößend, sondern fast schon weinerlich klang.Â
Aus einer inneren Eingebung heraus versuchte Josef anstatt vor der Stimme wegzulaufen, dieser zu folgen und strengte sich besonders an, was zu hören. Aber ausgerechnet jetzt blieb sie stumm. Als er sich umdrehte, sah er, wie ihm die Eule ganz ruhig und langsam folgte. Nun stand er wieder vor einem Wegkreuz und schaute in allen Richtungen. Als er nach rechts bog, ertönte wieder „JOSEF, JOSEF“. Also wäre er falsch gegangen, war sein Gedanke und nun war er ziemlich sicher, dass man ihn irgendwohin führen wollte. Nur war er sich nicht im Klaren, wohin und warum. Die Eule flog, wie ein Hund seinem Herrchen folgend, hinterher. Und immer wieder musste er sich entscheiden, wohin er gehen soll und wenn er falsch lag, kam ein „JOSEF, JOSEF“.
Nach einiger Zeit allerdings stand er plötzlich vor einer Wand aus dichten kleinen Nadelbäumen, durch die es keinen Weg gab und auch keine Abzweigung.Â
Wohin hat man mich nur hingeführt, dachte er bitter. Die Stimme meldete sich nicht und auch die Eule war nicht mehr zu sehen. Es war gespenstisch still. Konnte er es wagen, wieder umzukehren?Â
 Josef setzte sich erst einmal hin und atmete tief durch. Dabei verspürte er auf einmal den Wunsch, die Eule wiederzusehen. Er brauchte einen Hinweis oder einen Anhaltspunkt, was er machen sollte.
Plötzlich erklang genau hinter ihm ein Geräusch. Josef sprang auf und wich sofort aus, weil er dachte, ein Tier würde aus dem Dickicht herausspringen, aber es kam kein Tier und es war wieder ruhig.
„Langsam, Josef“, sagte er zu sich, „nicht, dass du noch verrückt wirst. Du brauchst jetzt einen klaren Kopf. Schließlich kann ich nicht für immer hier bleiben.“
Da kam das Geräusch schon wieder. Es klang wie ein kleines Schluchzen. Josef hörte noch mal genau hin und das Schluchzen wiederholte sich. Vielleicht ist dort ein verletztes Tier und braucht Hilfe, dachte Josef, nahm allen Mut zusammen und kroch langsam in das Dickicht hinein. Immer wieder stachen ihn die harten Nadeln der kleinen Bäume, aber er kümmerte sich nicht darum. Als er die dichte Baumreihe hinter sich gelassen hatte und nach vorne blickte, stockte ihm plötzlich der Atem und er traute seinen Augen nicht.
Er sah ein kleines Mädchen, das auf einem Baumstumpf gekrümmt saß und bitterlich weinte. Vorsichtig und langsam kroch Josef zu ihr. Als das Mädchen ihn erblickte, erschrak sie heftig, sprang auf und versuchte wegzulaufen.
„Nein, warte doch, ich tu dir nichts.“, versuchte Josef sie zu beruhigen. Tatsächlich blieb das kleine Mädchen stehen, drehte sich um und sah Josef an. Dieser versuchte ein möglichst freundliches Gesicht zu machen und zu lächeln. Dann fragte er. „Wer bist du und wie kommst du hierher?“
„Ich bin Elvira, und wollte schöne Beeren. Harald sagte, hier gibt es schöne Beeren, ich wollte es seiner Mami geben. Sie will Kuchen machen.“
„Wer ist Harald?“, fragte Josef, mit der Absicht, sie von ihrer Angst abzulenken.
„Harald auch im Kindergarten. Seine Mami macht leckeren Kuchen. Ich bekomme immer ein großes Stück, wenn ich zu ihm komme. Ich wollte große Beeren sammeln. Aber es gibt keine hier.“ und sie fing wieder an zu weinen.
Josef nickte und fragte auch nach der Stimme, ob Elvira sie auch gehört habe. Sie schüttelte den Kopf, allerdings sagte sie dann auch, dass eine Eule immer wieder da war.
„Eine Eule“, wiederholte Josef und war sich sicher, dass es genau diese Eule war, die auch ihn verfolgte. „Eine Eule, was hat sie gemacht? Hattest du Angst vor der Eule?“
„Ich habe keine Angst vor Eulen. Sie hat immer gesungen, ich war nicht alleine. Manchmal ist sie weggeflogen und kam wieder, wenn ich geweint habe.“
„Na gut, jetzt bin ich da und bringe dich zu deinen Eltern. Hab keine Angst.“, sagte Josef und obwohl er nicht mehr wusste, wie er aus dem Wald wieder herausfinden soll, sagte er das mit überzeugter Stimme.
Der erste Schritt war natürlich aus diesem Dickicht herauszukommen und wieder einen Waldweg zu finden. Beide robbten unter den Bäumen hindurch und kamen schließlich nach einigen Mühen wieder heraus. Nun war wieder die Frage wohin man gehen müsste. Josef hatte ja einen guten Orientierungssinn, aber durch die ganze Aufregung und die Tatsache, dass es immer mehr dämmerte, versagte er bei ihm. Er hoffte, dass ihm die Stimme noch einmal helfen wird, aber egal in welche Richtung er ging, es blieb ruhig. Plötzlich rief das kleine Mädchen und deutete in eine Richtung „Eule, da, Eule“.
Wieder ein Zeichen, dachte Josef, nahm Elvira an die Hand und folgte der Eule, die fast schon wie ein Pfadfinder arbeitete. Doch zum Entsetzen Josefs und des Mädchens flog sie nach einer Weile schnell davon.Â
„Komm zurück, Eule“, schrie Josef und blickte dann peinlich berührt Elvira an, weil er sich, seiner Meinung nach, sehr kindisch benahm.
Aber als das Mädchen in eine andere Richtung zeigte, sah auch Josef, dass die beiden das Ende des Waldes erreicht hatten. Schnell rannten sie die letzten Meter heraus und Josef entdeckte einen Polizisten mit einem Schäferhund und ein junges Paar, das anscheinend die Eltern waren. Als diese das Mädchen sahen, stürmten sie auf Elvira zu und umarmten sie stürmisch.
Kurz darauf kam Elviras Mutter zu Josef und bedankte sich eifrig. „Sie können sich gar nicht vorstellen, welche Sorgen wir uns gemacht haben.“
„Wie haben Sie das Mädchen denn gefunden?“, fragte dann der Polizist.
Nun musste Josef überlegen, war er sagen sollte, denn die Sache mit der Stimme und der Eule würde alles sehr verdächtig machen. Man hörte ja die ganze Zeit über Kindesentführungen und Kindermisshandlungen und wie sehr empfindlich dabei reagiert wird. Er musste daher sehr behutsam vorgehen. Schließlich griff er die Worte des kleinen Mädchens auf und erzählte ihm, er wollte Beeren sammeln und habe gehört, dass es im Wald viele davon gab.
Der Polizist nickte zustimmend, sprach auch davon, dass der Wald was besonders sei, denn es verlaufen sich dort viele Kinder, aber bisher kamen alle wieder zurück und das, obwohl dieser Wald riesig ist.Â
Nachdem die Formalitäten mit dem Polizisten abgeschlossen waren und auch die Eltern mit Elvira glücklich davonfuhren, wollte sich Josef auf den Weg zu seinem Fahrrad machen, als plötzlich vor ihm ein alter Förster stand.
„Sie wollten also Beeren sammeln“, wiederholte der Förster Josefs Bericht.
„Ja, natürlich“, antwortete Josef, denn auch ihm gegenüber wollte er seine Geschichte mit der Eule nicht erwähnen. Doch der Gesichtsausdruck des Försters verriet, dass er ihm nicht glaubte.
„Sie haben doch keine Stimmen gehört?“, fragte der Forster fast schon aufreizend provokativ, „Und haben auch keine Eule gesehen.“
Josef erschrak ein wenig, fragte zögerlich, wie er denn darauf kommen konnte.
„Sie sind nicht der erste, dem das widerfahren ist.“, antwortete der alte Förster.
Nur zögernd nickte Josef dann mit dem Kopf und fragte stockend, im Bewusstsein sich damit lächerlich zu machen, was es mit der Stimme und der Eule auf sich hat. Der Förster atmete tief durch und fing an.
„Es ist eine alte Legende, wenn Sie kurz Zeit haben, erzähle ich sie Ihnen“.
Josef stimmte zu, er war zwar, wenn es um Sagen und Legenden ging, immer ein wenig misstrauisch, weil doch dabei stets sehr viel dazu gedichtet wurde, aber diese Stimme und die Eule kamen ihm doch sehr merkwürdig vor.
„Also“, fing der Förster an, „es ist eine sehr alte Geschichte, die mir schon mein Großvater, als ich noch ein kleines Kind war, erzählt hat.
In dieser Stadt hat vor langer Zeit einmal ein Holzschnitzer gearbeitet, der eine kleine Tochter hatte. Er konnte die Leute in der Stadt und das Städtchen allgemein nicht ausstehen. Nur seine Frau und vor allem seine Tochter liebte er abgöttisch. Bei den anderen Menschen reagierte er stets unfreundlich und versuchte auch, ihnen immer etwas anzuhängen, kleine Diebstähle, Betrügereien oder ähnliches. Die Leute kamen aber dennoch immer wieder zu ihm, wenn sie Holzschnitzereien haben wollten. Das kam daher, dass er damals der einzige Holzschnitzer in der Stadt war. Und sie mussten zugeben, dass er wirklich ein sehr guter Holzschnitzer war. Er lieferte immer einwandfreie Ware und schnitzte wunderschöne Figuren, aber er verkaufte sie auch über den normalen Preis und versuchte dann beim Abrechnen auch noch ein paar Münzen dazu zurechnen. Bei manchen klappte es auch, weil einige Leute nicht rechnen konnten.
Eines Tages erkrankte plötzlich seine Frau. Sie bekam starkes Fieber und starb bald darauf.
Der Holzschnitzer konnte diesen Verlust nicht verwinden, konnte keine Menschen mehr sehen und er verließ mit der Tochter die Stadt, um sich hier in diesem Wald niederzulassen.
Da er sich mit Holz sehr gut auskannte und überhaupt ein geschickter Handwerker war, wusste er auch, wie man eine Hütte bauen kann. Sie lebten hauptsächlich von den Beeren und ab und zu konnte er einen Hasen fangen, in dem er eine Falle aufstellte. Er musste aber trotzdem immer wieder in die Stadt zurück, um Brot oder mal einen Schinken für sich und seine Tochter zu kaufen. Die Kaufleute zahlten ihm mit der gleichen Münze heim, indem sie ihm die Sachen zwar verkauften, allerdings zu erhöhten Preisen, was ihm äußerlich scheinbar nichts ausmachte, aber seinen Groll auf die Mitmenschen nur erhöhte.
Er nahm einige Male auch seine Tochter mit, damit sie wusste, welchen Weg man in die Stadt gehen muss, sollte er mal krank werden.
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Ein Jahr später lag der Holzschnitzer tatsächlich sehr krank im Bett und bat deshalb seine Tochter, ein paar Sachen für ihn einzukaufen, schließlich müsse sie jetzt den Weg kennen.
Es vergingen einige Stunden und die Tochter kam nicht zurück. Er machte sich langsam Sorgen, vielleicht ist sie mal falsch abgebogen und obwohl er sehr schwach war, machte er sich auf den Weg um sie zu suchen. Doch vergebens. Langsam wurde es auch dunkler und der Holzschnitzer beschloss in die Stadt zu gehen und fragen, ob jemand das Mädchen gesehen hat.
Tatsächlich sagte einer der Kaufleute, dass die Tochter bei ihm war, die Sachen gekauft hatte und wieder in Richtung des Waldes ging. Der Holzschnitzer lief wieder in den Wald zurück bis zur seiner Hütte, in der Hoffnung, dass seine Tochter bereits angekommen ist, aber das erfüllte sich nicht.  Er suchte trotz Dunkelheit weiter im Wald herum, achtete nicht auf den Weg und irrte selber hin und her. Dabei rief er immer wieder ihren Namen, bekam aber nie eine Antwort.
Irgendwann blieb er stehen, um zu verschnaufen und merkte voller Schrecken, dass er sich auch verlaufen hatte. Nun waren er und auch seine Tochter irgendwo im Wald allein. Er war gewiss kein gottesfürchtiger Mann, aber da fing er an leise zu beten und rief schließlich laut: „Dem nächsten, der mir über den Weg läuft, schwöre ich, dass ich, wenn ich meine Tochter wiederfinde, ab sofort ein guter und ehrlicher Mensch werde. Ich werde es schwören, hast du gehört? Ich schwöre es.“
Er blickte um sich herum, sah aber niemanden. Nur auf einem Baum saß eine Eule, die auf ihn herabblickte. Der Holzschnitzer war schon schwach vor Hunger und Erschöpfung und natürlich auch voller Sorgen wegen seiner Tochter, aber aus irgendeinem Grund, wiederholte er vor der Eule seine Worte.
Kurz nachdem der Holzschnitzer seinen Schwur beendete, erhob sich die Eule und flog davon.
„Halt, bleib hier!“, rief der Holzschnitzer der Eule nachschauend hinterher. Es schien so, als bliebe die Eule in der Luft stehen und den Holzschnitzer anschauen würde. Und es sah so aus, als ob sie andeuten würde, ihr zu folgen. Der Holzschnitzer tat es ohne viel Nachdenken. Nach einigen Abbiegungen sah er seine Tochter auf dem Moos schlafend. Sofort lief er zu ihr, hob sie hoch und umarmte sie.
„Endlich“, rief er überglücklich. Nur stellte sich das nächste Problem, wie er zu seiner Hütte kommen sollte. Er blickte die Eule an, die die ganze Zeit auf einem Baumstamm sitzen blieb. Der Holzschnitzer hob seine Tochter auf und bettete sie in seine Arme. Da erhob sich die Eule abermals und wiederum schien es so, als ob sie ihm den Weg zeigen wollte. Und tatsächlich, nach einer Weile sah der Holzschnitzer einen Weg, den er auch im Dunkeln erkannte. Bald darauf fand er auch seine Hütte. Die Eule allerdings flog davon und wurde von den beiden nie mehr gesehen.
Der Holzschnitzer löste sein Versprechen, kehrte in die Stadt zurück, änderte sein bisheriges Verhalten und alle verziehen ihm allmählich sein Vorleben.
Leider forderte das Leben im Wald seine letzten Kräfte, denn er erkranke genauso schnell wie seine Frau und lag im Sterben. Bevor er allerdings seinen letzten Atemzug machte, sagte er zu dem herbeigerufenen Pfarrer ins Ohr. “Ich möchte im Wald begraben werden und dort werde ich jedem helfen, dessen Kind sich dort verirrt, es wieder zu finden. Und wenn ich da zu schwach dabei bin, wird mir die Eule helfen.“ Der Pfarrer verstand zwar den genauen Sinn dieser letzten Worte nicht, aber er gab ihm seinen Segen.
Seitdem wird jedes Kind, das sich hier verläuft, gefunden und die Leute erzählen immer die gleichen Geschichten. Dass der Geist des Holzschnitzers den Namen der Leute ruft und versucht sie zum Kind zu leiten. Und da die Menschen meistens gleich aus Angst weglaufen, wenn sie diese Stimme hören, stellt sich die Eule ihnen in den Weg und führt sie zu dem Kind.“
Josef unterbrach ihn. „Sie glauben doch nicht, dass was an dieser Legende dran ist.“
Der Förster ging ganz langsam an Josef vorbei, drehte sich dann noch einmal um und rief zu ihm, „Wer sonst hat denn gerufen?“