BELLA ITALIA
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Lustlos blätterte ich durch den Reiseführer, den mein Vater mir aufgedrängt hatte. ›ROM – Die kulturellen Höhepunkte‹ stand in großen Lettern auf dem Einband. Als ich gerade die zwanzigste Kirche intensiv begutachtete, schellte es an der Tür unserer Ferienwohnung. Ich hieß die kleine Unterbrechung nur allzu gern willkommen und machte mich auf den Weg.
Kaum schwang die Tür auf, drängten sich auch schon meine zwei älteren Schwestern, Megan und Ellen, samt Tüten und Taschen in den Flur.
»Halt das mal, Grace.«
»Und das hier auch.« Na toll. Ich fungierte wieder als Taschenhalter.
Einen Augenblick später taumelte ich schwer beladen mit den Ergebnissen einer Shoppingtour in das Wohnzimmer. Das Geplapper meiner Schwestern ging mir schon jetzt auf die Nerven und ich verschwand zügig in unserem geräumigen Badezimmer. Verloren betrachtete ich mich im Spiegel. Meine sonst so blasse Haut hatte einen leichten Braunton angenommen; die italienische Sonne half wohl doch ein wenig nach. Rund um mein schmales Gesicht kringelten sich rot – blonde Locken, die ich lässig zu einem Zopf zurückgebunden hatte.
»Grace! Mum und Dad sind zurück! Wir wollen in einer Viertelstunde los«, rief Megan Richtung Badezimmertür.
Ich seufzte. Es blieben einem nicht mal zehn Minuten für sich.
Mein Vater ist von den antiken Gemäuern und römisch – katholischen Kirchen vollauf begeistert. Deshalb wunderte es mich nicht, dass wir an diesem Tag die Vatikanstadt aufsuchten. Als ich den ersten Schritt über die Türschwelle unseres Hauses setzte, schlug mir die brütend heiße Luft entgegen. Kein Lüftchen regte sich, die Straßen flimmerten in der Hitze. Trotz des luftigen Sommerkleids brach mir nach einer gefühlten Minute der Schweiß aus. Wenn jemand nach meiner Meinung gefragt hätte – was natürlich keiner tat – wären wir ans Mittelmeer gefahren, doch mein Vater hatte auf einen Kultururlaub bestanden. Dabei schien ihm das Wetter ganz egal zu sein. So krochen wir also im Gänsemarsch zu der nächsten Bushaltestelle. Die Busfahrt entwickelte sich zum Horrortrip: Dicht aneinandergedrängt standen wir eine halbe Stunde in dem schaukelnden Gefährt bei 50° ohne Klimaanlage. Ich lauschte den fröhlichen Gesprächen der Italiener, obwohl ich kein Wort verstand.
»Wir steigen die Nächste aus!«, rief meine Mutter mir zu.
Erleichtert, der Enge und der Hitze des Busses zu entkommen, nickte ich.
Mit quietschenden Reifen kam das Fahrzeug schließlich zum Stehen. Wir standen direkt vor der Stadtmauer, die die Vatikanstadt umgab. So weit das Auge reichte tummelten sich Touristen mit Fotoapparaten und Reiseführer herum. Essensgerüche wehten zu uns herüber.
»Ah, wunderbar!«, schwärmte Dad. »Lasst uns keine Zeit vertrödeln, wir haben heute viel vor.«
Megan, Ellen und ich versuchten uns ein Lächeln abzuringen, das allerdings wie Eis in der Sonne zerschmolz.
Seufzend bildete ich das Schlusslicht unserer kleinen Karawane, die sich mühsam durch die Menschenmassen voran kämpfte.
»Wir werden als Erstes die Vatikanischen Museen besichtigen. Hierbei handelt es sich hauptsächlich um ein Kunstmuseum. In dem Reiseführer stand, dass sie dort auch Führungen anbieten und …« Dad redete wie ein Wasserfall, sodass ich nach dem zweiten Satz nur noch mit halbem Ohr lauschte. Stattdessen nahm ich meine Umgebung genauer unter die Lupe: Ich hatte mir den kleinsten Staat der Welt immer als verschlafenes Städtchen, als Ruheoase vorgestellt. Nichts von meinen Ãœberlegungen bewahrheitete sich. Selbst an einem derartig heißen Tag waren die Straßen vollgestopft von Touristen, aber auch Einheimischen. Cafés und Restaurants säumten die Straßen, boten den Besuchern Erfrischungen an und machten diesen Sommer sicherlich das Geschäft ihres Lebens. Sehnsüchtig stellte ich mir vor, wie es wäre, im Schatten eines Hauses zu sitzen und einen kalten Eiskaffee zu schlürfen.
Während meiner Überlegungen war ich stehen geblieben, ohne es zu merken. Schnell suchte ich nach dem bunten Top meiner Schwester, dem ich schon die ganze Zeit folgte. Plötzlich kam es mir vor, als hätten sich die Menschen verdoppelt. Mit klopfenden Herzen hielt ich weiterhin Ausschau. Routinehalber tastete ich nach meinem Handy in der Hosentasche, nur das ich keine Hosentasche an meinem Sommerkleid fand. »Verdammt!«, entfuhr es mir. Fremde Stadt, fremde Sprache, kein Handy, keine Karte und die Familie aus den Augen verloren. Wow, das klang typisch nach mir.
Ich stellte mich auf Zehenspitzen, um eine bessere Sicht zu bekommen. Innerlich betete ich, dass eine meiner Schwestern oder Mum bemerken würde, dass ich fehlte – und mich dann hoffentlich auch suchten. Meine Suche blieb erfolglos. »Bloß keine Panik, Grace«, murmelte ich vor mich hin. Dabei stand ich kurz davor, loszuheulen. Warum musste so etwas immer mir passieren?!
Verzweifelt setzte ich mich in einen schattigen Treppeneingang, um nachzudenken. Wie weit war es zu den Vatikanischen Museen? Sollte ich mich bis dorthin durchfragen und dann hoffen, dass meine Familie da auf mich wartete?
Unentschlossen stand ich auf und ging ein Stück die Straße hinunter bis zur nächsten Kreuzung. Vielleicht gab es eine Ausschilderung, der ich folgen konnte.
»Mi scusi, signorina!«
Erschrocken wirbelte ich herum. Eine Handbreite entfernt stand der hübscheste Junge, den ich je gesehen hatte. Er war einen Kopf größer als ich und schaute mit seinen nussbraunen Augen auf mich herab.
Für einen Moment verschlug es mir die Sprache.
Ȁhm, ich spreche … i don‘t speak italien, sorry«, brachte ich schließlich heraus. Nicht einen Moment konnte ich den Blick von ihm abwenden und versank förmlich in seinen Augen.
»Kein Problem, zum Glück kann ich deutsch«, antwortete der Junge und grinste mich an. Nicht der Hauch eines Akzentes verriet ihn.
»Oh.« Ich lächelte schüchtern. Es kostete mich einige Anstrengung, doch schließlich fragte ich:»Kannst du mir den Weg zu den Vatikanischen Museen beschreiben?«
»Wie wär‘s, wenn ich dich dorthin bringe?«, schlug mein Gegenüber charmant vor.
Ich wollte schon ablehnen, aber wie durch ein Wunder willigte ich ein.
Er zwinkerte mir zu. »Da wir jetzt gemeinsam herumlaufen: Wie heißt du?«
Bei dem Zwinkern wurden meine Beine weich wie Pudding. Scheiße, er war so hinreißend! »Ich heiße Grace und du?«
»Claudio.«
Wir sprachen noch eine Weile, bis in der Ferne die Museen in Sicht kam. Genug Zeit für mich, meinen neuen Begleiter zu begutachten. Er sah aus wie ein italienisches Model mit seinen schwarzen, gewellten Haaren und dem muskulösen Körper, der sich unter sein T-Shirt abzeichnete. Mit größter Selbstbeherrschung widerstand ich dem Drang durch seine Haare zu streichen und meine Arme um seinen Oberkörper zu legen. Wie sich herausstellte, war er siebzehn, also ein Jahr älter als ich. Nach weiteren fünf Minuten entdeckte ich Ellen im Schatten eines Baumes nahe dem Museumseingang. Ein Gefühl des Widerwillens ergriff mich. »Da drüben ist meine Schwester«, erklärte ich Claudio.
»Sie hat dich bestimmt schon vermisst.« Und dann beugte er sich zu mir herab und hauchte mir einen Kuss auf die Wange.
Im ersten Moment wusste ich nicht, wie mir geschah. Es hatte sich so gut angefühlt.
»Am Besten ich schreibe dir meine Handynummer auf«, bot Claudio an.
Ich nickte. »Ich rufe dich dann an.«
Er schloss mich für eine kleine Ewigkeit in seine Arme. »Ich würde mich sehr freuen, dich wieder zu sehen, Grace.«
Oh ja, wenn‘s nach mir ginge, würdest du noch heute bei mir einziehen, Süßer, dachte ich vergnügt. Stattdessen sagte ich: »Tschüss, bis morgen.«
Freudestrahlend lief ich zu Ellen hinüber.
»Da bist du ja, Grace!«
»Wo sind die anderen?«, fragte ich fröhlich.
Ellen musterte mich misstrauisch von oben bis unten. »Warum plötzlich so gut gelaunt? Schließlich bist du anderthalb Stunden alleine durch eine fremde Stadt geirrt. Zu deiner Frage: Megan, Mum und Dad haben sich aufgeteilt und suchen nach dir.« Sie begann auf ihrem Handy herumzutippen und die anderen zu informieren, dass ich wieder da war.
»Ich hab die Stadt mit anderen Augen kennengelernt, Ellen«, eröffnete ich ihr.
Meine große Schwester stieß einen Seufzer aus. »Vielleicht lässt du deine Augen nächstes Mal lieber auf uns gerichtete.«
Selbst der kleine Seitenhieb ließ mich unberührt. Glückselig dachte ich über die plötzliche Wendung meines Sommers in Italien nach. Sofort musste ich an meine beste Freundin Lorna denken, die tatsächlich an Liebe auf den ersten Blick glaubte. Bisher hatte ich mich immer darüber lustig gemacht, doch nach der Begegnung mit Claudio und dem flüchtigen Kuss geriet meine Gewissheit ins Wanken.
Nun, wie auch immer: Viva l'Italia e l'Amore!