Beschreibung
Die Musikpädagogin Paula Kramer fährt nach Italien, um Julian zu vergessen. Als sie in Cannobio ein altes Medaillon öffnet, erblickt sie ein Bildnis, das ihre Züge trägt. Doch es stellte Paola Cederna dar, die vor dreihundert Jahren in Cremona gelebt hat. Von der unheimlichen Ähnlichkeit betroffen, ändert Paula ihre Pläne und begibt sich auf die Suche, die ihre Existenz verändert. Immer tiefer gerät sie in Paolas Leben hinein. Als sie Miguel begegnet, droht ein altes Schicksal sich zu wiederholen
Prolog aus dem Buch ... und die Zeit stand still
Mit heißen, trockenen Fingern streicht er über den goldÂgelben Lack des Instruments. Zeichnet die vollendeten ProÂportionen der Geige nach. Hebt sie unters Kinn, die rechte Hand greift nach dem Bogen. Er legt ihn auf die G-Saite, zieht ihn mit festem Strich vom breiten Ende bis zur Spitze durch. Der volle Ton schwingt durch das spärlich möblierte Zimmer. Dringt in den Spieler. Bricht ihn von innen auf.
Er beginnt das Adagio aus der ersten ViolinsoÂnate von Bach zu spielen - die Töne quellen aus dem glänzenden Leib der Stradivari. Die Saiten vibrieren unter dem fordernden Strich. Die MeÂlodie steigt im Zimmer empor, füllt es aus, lässt Wände und Mauern zurückweiÂchen. Bis er meint, unter freiem Himmel zu stehen, weit weg vom engen WohnÂviertel im Frankfurter Ostend, im Norden Spaniens, am Strand von Berria. Hört die Stimme seiÂner Mutter "Miguel, komm doch!“ Sieht einen Jungen durch die sonÂnenwarÂmen Dünen rennen. Hartes Dünengras sticht in seine nackÂten Füße.
Er vernimmt das Rauschen des Atlantiks. Das Gurgeln, wenn sich die hintereinander herlauÂfenden Wellen am FelsengeÂstein brechen, zuÂrückbrandend in die heranjagende See. Hoch über ihm wirft sich eine Möwe steil aufsteigend dem Sonnenlicht entgegen. Ihr kreischender Schrei im klaren Blau des Himmels.
In dem Jungen die Sehnsucht nach Musik, nach der Empfindung klarer Töne und dem Himmel vor Sonnenaufgang.
Zitternd lässt er die Violine sinken. Streicht mit dem HandÂrücken der rechten Hand, die noch immer den Bogen durch die Luft führt, wirres dunkles Haar aus der Stirn.
Durch das gardinenlose Fenster leuchten die letzten Strahlen der unterÂgehenden Sonne. Von der Straße GeräuÂsche der Großstadt.
Er hört die schweren Schritte auf der Treppe, noch bevor stürmisch an der Tür der Wohnung geÂläutet wird.
Der schrille Ton der Klingel zerreißt die ErÂstarrung. Durchzuckt den lauschend vorgebeugÂten Körper.
Der Mann schaut sich gehetzt um.
Flucht? Zu spät....
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1. Kapitel aus \"und die Zeit stand still\"
Zum Abschluss ihres Studiums schenkte der Vater Paula einen himmelblauen Volkswagen und die Mutter eine Reise nach Italien. Paula hatte Musik studiert. Seit ihrem neunten GeÂburtstag hatte sie gewusst, dass sie in einer Welt aus Klängen und Tönen leben wollte.
„Warum willst du nicht Geigerin werden?“
Was sollte sie der Mutter antworten? Dass sie sich manches Mal tatsächlich im Rampenlicht vor begeisterten Zuhörern in vollen KonzertsäÂlen sah? Dass sie prickelnd die sinnliche VerÂführung des Berühmtseins spürte? Doch da war gleichzeitig die Angst vor Öffentlichkeit und das unüberwindliche Lampenfieber. So hatte sie entschieden, die Laufbahn einer MusikpädagoÂgin einzuschlagen.
Allein mit ihrer Geige war Angst nicht wichtig. Das Instrument war ein Teil von ihr. Und... oft fragte sie sich beklommen, woher ihr die GeÂwissheit kam, dass sie schon immer Geige geÂspielt hatte. In ihrem jetzigen Leben und daÂvor und davor...
Sie hatte die Reise nach Italien immer wieder verschoben. Wollte sich zuerst einen festen Platz am Konservatorium in Frankfurt schaffen. Als sie ihr Ziel erreicht hatte, waren drei Jahre vergangen. Jetzt endlich war die Zeit für einen ausgedehnten Italienaufenthalt gekommen.
Sie fuhr bis nach Cannobio am Lago Maggiore. Suchte sich in einer kleinen Pension ein ZimÂmer.
Einige Tage später war Markttag in Cannobio. Paula betrat eine kleine schummrige WerkÂstatt. Im Raum hing der Geruch nach Alter und Staub. Ein weißhaariger Mann - gebückt unter dem runden Schein einer hellen Lampe - eine Lupe vors Auge geklemmt, betrachtete ein altes Schmuckstück.
Er blickte kaum auf, als Paula eintrat. Ziellos schaute sie sich um, nahm hier eine mit Perlen besetzte Dose in die Hand, griff dort nach einem Mörser aus Messing.
Unversehens fiel ihr Blick auf ein fein ziselierÂtes, altsilbernes Medaillon, das... scheinbar achtlos zwischen Broschen, Armreifen und lanÂgen Ketten auf einem Bord in einer Vitrine lag. Etwas - ging von ihm aus, das sie anzog und... gleichzeitig packte sie eine sonderbare UnÂruhe.
Blödsinn... das ist nur ein simples SchmuckÂstück, versuchte sie sich zu beruhigen.... Sie wandte sich ab..., doch wie magisch angelockt drehte sie sich wieder zu der Vitrine um. Das Silber schimmerte schwach im Schein der spärlichen Beleuchtung des Ladens. Sie streckte die Hand aus, berührte vorsichtig das Medaillon, hielt inne..., doch dann nahm sie es entschlossen in die Hand.
Ohne seine Arbeit zu unterbrechen, sagte der Mann, den sie längst vergessen hatte: „Sie haÂben einen sicheren Griff, dieses Medaillon ist aus einem wertvollen Familienbesitz.“
Die Rückseite des Schmuckes war glatt und schmiegte sich kühl in Paulas Handfläche, wähÂrend es ihr selbst unerträglich heiß wurde.
Sie hob das Medaillon dicht an ihre Augen, als fiele ihr plötzlich das Sehen schwer. Eingehend betrachtete sie die verzierte Vorderseite, entÂdeckte ein großes P. Zögernd versuchte sie, den Deckel zu öffnen. Er widerstand ihrem VerÂsuch. Hilflos schaute sie zu dem alten Mann, als sie auch schon seine knarrende Stimme hörte:
„Es lässt sich nicht öffnen.“
P! Warum trägt es gerade ein P...?
Wem hat es gehört?
Wer hat es wann getragen?
Der Alte ließ ihr keine Zeit, darüber nachzudenÂken. Er trat dicht an sie heran, murmelte: „Es ist eine Arbeit aus dem 17. Jahrhundert.“
Paula schloss fest die Hand um das Medaillon. Zaudernd fragte sie nach seinem Preis, erschrak über die Höhe der Summe. Wenn sie so viel daÂfür ausgab, konnte sie sich eine Woche ihres Urlaubs streichen. Sie wollte handeln... gab es auf. Sie musste es besitzen, gleichgültig was es kostete, es war wie ein Zwang, gegen den sie sich vergeblich wehrte. Sie griff nach einer silÂbernen Kette, hielt mitten in der Bewegung inne.... Sie konnte sich nicht vorstellen, das Medaillon einfach um den Hals zu tragen.
Aber warum denn nicht?
Sie hatte sich einen Schmuck gekauft, nichts weiter. Und doch war da etwas Fremdes, BeÂdrohliches.
Der Alte beobachtete die junge Frau aufmerkÂsam. Langsam breitete sich auf seinem über und über mit Runzeln bedecktem Gesicht ein warmes Lächeln aus:
„Dieses Schmuckstück hat auf Sie gewartet.“
Paula zuckte zusammen. War der Alte verrückt geworden? Alles in ihr spannte sich, war AbÂwehr. Am liebsten würde sie schnell die dämmÂrige Werkstatt verlassen, aber der Mann hielt sie noch einen Augenblick am Arm fest:
„Der Verschluss ist nicht kaputt, irgendwann lässt er sich öffnen - irgendwann.“ Â
Sie ballte die Hand mit dem Medaillon zur Faust, blickte zweifelnd auf den Mann. Was wollte er ihr sagen? Oder war er vielleicht nur einfach verwirrt? Langsam öffnete sie die Faust und schrie leise auf, als plötzlich der Deckel des SchmuckÂstücks aufsprang. Sie erstarrte - das Medaillon war nicht leer. Es barg das winzige, ovale Bild einer jungen Frau. Kurze dunkelblonde Locken rahmten ein schmales Gesicht, große braune Augen, ein sinnlicher Mund, das Gesicht strahlte eine wundersame Lebendigkeit aus. Paula zitterte, fast wäre ihr das Medaillon aus der Hand gerutscht.
Das Bild....
Das war sie selbst...!
Jemand hatte sie gemalt...!
Erschrocken starrte sie auf das kleine Porträt. Empfand nur atemlose Bestürzung über die verblüffende Ähnlichkeit.
Hilflos wandte sie sich dem Mann zu, er stand regungslos mit geschlossenen Augen hinter dem niedrigen Ladentisch.
Paula spürte eine unheimliche Spannung im Raum. Etwas ungeheuer Lebendiges, UnfassÂbares schwang in dem Laden, seine Kraft drohte sie zu verschlingen.
Sie schaute wieder auf das Bild, versuchte beÂhutsam, es aus seinem Rahmen zu lösen. Fürchtete, es würde zu Staub zerfallen. Als sie es endlich in Händen hielt, überfiel sie wieder dieses Zögern. Wovor hatte sie nur so schreckÂliche Angst?
Vorsichtig wendete sie das kleine Porträt um, las ‘Per Paola’ und dazu die Jahreszahl 1697.
Paola - Paula!
Entsetzen packte sie und einen Augenblick lang stürzten Gegenwart und Vergangenheit ineinÂander: diese Ähnlichkeit, der gleiche Name...
Sie drehte und wendete das Medaillon hin und her, hielt es ins Licht der Nachmittagssonne und fand noch etwas. Jemand hatte irgendwann winzige Buchstaben ins Silber der Innenseite des Schmuckes gekratzt. Sie entzifferte Paola Cederna, oder Caderna, war sich nicht ganz siÂcher.
Sie wandte sich dem alten Mann zu, wunderte sich über die liebevolle Besorgnis, die sie in seiÂnen nun weit geöffneten Augen zu entdecken glaubte.
„Woher haben Sie es?“ Ihre Stimme zitterte vor Erregung. Leise fügte sie hinzu: „Bitte..., ich muss es wissen.“
Der Alte sah Paula fragend an: „Kennen Sie ItaÂlien gut?“
„Ich kenne es gar nicht.“
„Fahren Sie nach Cremona!“
„Cremona...?“
„Ja, in die Stadt der Geigen, in ihre Stadt.“
Wen meinte er? Wusste er, dass sie Geige spielte? Oder... sprach er von dieser fernen PaÂola?
Drängend beschwor sie ihn: „Was wissen Sie von diesem Medaillon?“
Statt einer Antwort murmelte er nur: „Gehen Sie jetzt, gehen Sie! Und... - passen Sie auf sich auf, Sie sind in Gefahr.“
2. Kapitel aus \"und die Zeit stand still\"
An den Geruch des Meeres würde er sich immer erinnern. Vielleicht hatte die Mutter einen Spaziergang mit ihm am Strand gemacht. Im nordspanischen Berria, seinem Heimatdorf. Vielleicht auch seinen Kinderwagen in den Schatten der vorspringenden Felsen gestellt, wo Miguel zwischen Bewusstsein und Schlafen nur das Rauschen des Wassers vernahm, wenn die Wellen in die dunklen Höhlungen des Felsengesteins drangen und mit lautem Schmatzen zurückschwappten.
Er machte seine ersten Schritte auf dem harten nassen Sand, der zurückblieb, wenn bei Ebbe die Wasser weit hinausgetragen wurden. Später, schon ganz sicher auf seinen stämmigen Jungenbeinen, suchte er Muscheln, große, glatte, braun gestreifte Muscheln. Er hielt eine von ihnen lauschend ans Ohr, rief aufgeregt: „Mama, ich habe das Meer eingefangen!“ Aber nur er vernahm das Rauschen als Musik.
Als er heranwuchs, wurde auch seine Welt größer und weiter. Da war das Dorf mit seinen in den Wind geduckten Häusern, grauen Steindächern, kargen Vorgärten. Dazwischen vereinzelt Ferienhäuser mit rot gestrichenen Gartenzäunen und geschlossenen Fensterläden, die sich nur zwei Sommermonate lang öffneten.
Das Gefängnis mit seinen hohen Mauern, Wachtürmen und den vielen Gebäuden, die er nur sehen konnte, wenn er die schmale, ungepflasterte Straße zum Leuchtturm Caballo hinaufging. Tief unten gurgelte das Meer. Erst ängstigte den Jungen der schroffe Abgrund. Später kletterte er in den Felsen. Suchte sich einen verborgenen Platz und hörte auf die Bewegung des Meeres. Er dachte sich eine Melodie zum Geräusch der Wellen aus. Saß hoch oben im Gestein. Manchmal morgens schon vor Sonnenaufgang und abends, wenn das Meer das Licht aufgesogen hatte. Er liebte den Sturm. Duckte sich zwischen die Felsen. Unter sich die leere Weite des verlassenen Strandes und die aus dem Wasser ragenden Riffe, an denen sich die aufgewühlte See mit heranrauschenden Wellen steil aufrichtete. Gischt schickte ihre glitzernden Schaumspritzer bis hoch in die Felswand. Der Junge lauschte, suchte nach Bildern und fremden Rhythmen.
Lag das Meer glatt und regungslos unter einem unwirklich durchsichtigen Himmel, war ihm, als hörte er den feinen Ton einer Geige. Zuerst hielt er das Gehörte für Sinnestäuschung. Eine Geige im Gefängnis! Aber immer öfter wartete er darauf. Einmal war es eine Melodie. Ein andermal nur der durchdringende Schrei eines einzigen Tones. Immer wieder die gleiche Note. Der Junge starrte hinunter in den Gefängnishof. Zwischen den bis unters Dach braun geklinkerten Häusern mit ihren vergitterten Fensterhöhlen konnte er Männer in blauen Drillichanzügen ausmachen. Woher nur kam der Geigenton...?
Wenn im grellen Sonnenlicht das Gewehr eines auf den breiten Mauern hin und her patrouillierenden Wachsoldaten aufblitzte, fühlte sich der Junge beobachtet und hatte Angst. Wusste nicht, wovor.
Eines Tages entdeckte Miguel am entlegensten Teil des Strandes den Friedhof. Niemand vom Dorf war dort begraben. Fremde Namen auf den schmalen Grabkammern. Aber auch auf der Steinplatte des großen Mausoleums mit seinen beiden Engeln aus rostendem Metall. Kein Mensch besuchte je die Gräber. Nur der Junge saß, den Stamm einer zerzausten Zypresse im Rücken, auf den sandverwehten Wegen. Dachte sich Geschichten zu den fremden Namen aus. Federico Jiménez oder Antonio RodrÃguez und Juan González. Nur Männernamen. Männergräber. Vergessen im Schatten der drohenden Gefängnismauern.
Aus dieser Nähe konnte er die Geige noch deutlicher vernehmen. Sie weckte eine seltsame Sehnsucht in ihm. Manchmal fühlte er sich ganz leicht. Dann wieder spürte er eine große Leere in sich, die sich nur langsam mit den traurigen Tönen der fremden, unsichtbaren Geige füllte.
Fortsetzung 2. Kapitel
Miguel setzte sich neben seinen Vater auf die sonnenwarmen Steine der Kaimauer. Sollte er den Vater fragen?
Ja, ihn konnte er nach dem Gefängnis fragen, von dem die Leute im Dorf nur flüsterten und vor dem an den Sonntagen lange Reihen wartender Frauen standen, beladen mit zugedeckten Töpfen, Körben und schweren Einkaufstaschen.
„Es ist ein Gefängnis für politische Gefangene.“ Der Vater kaute auf seiner Pfeife herum. Spuckte Tabakreste ins dreckige Wasser des Hafenbeckens.
„Was sind politische Gefangene?“
„Leute, die gegen die Regierung sind.“ Wie sollte er seinem Jungen erklären, dass es Macht gab, die Angst vor der Freiheit hatte. Freiheit der Rede. Freiheit der Gedanken. Oder gar Freiheit der Handlungen.
„Dürfen die Geige spielen?“
Der Vater blickte ihn verständnislos an: „Geige?“
Miguel erzählte ihm von der Musik, die er an manchen Tagen hörte, wenn er still auf dem Friedhof saß.
Der Vater schüttelte den Kopf, wusste keine Antwort. Er wollte ablenken:
„Magst du denn die Geige?“
Die Augen des Jungen fingen an zu leuchten: „Eines Tages werde ich ein berühmter Geiger,“ und seine Stimme klang so überzeugend, dass dem Vater die Worte, eines Tages, mein Lieber, wirst du Fischer wie ich, im Hals stecken blieben.
Statt dessen erzählte er seinem Ältesten vom Leben draußen auf dem Meer. Vom Fischfang. Von tosenden Stürmen und den riesigen Ozeandampfern, deren Wasserspuren die Fischerboote kreuzten. Er erzählte ihm aber auch von Delphinen, die sein Boot "Maria Theresa" meilenweit mit ihren tänzerischen Sprüngen und fließenden Bewegungen begleiteten.
In solchen Augenblicken wurde der Vater für Miguel der geheimnisvolle Held, der mit Riesenfischen kämpfte, dem Sturm trotzte und die sieben Weltmeere befuhr. Auch wenn er ihm nicht erklären konnte, was politische Gefangene sind.
Wochen später, als Miguel den Vater wieder aufs Schiff begleitete, an Bord zwischen Kisten, Stangen und Takelagen umherkletterte und später in die Kajüte gehen wollte, deren Geruch nach Meer und Salz, nach heißer Suppe und Ölzeug für ihn untrennbar mit dem Leben seines Vaters verbunden war, versperrte ihm der Vater die schmalen Stufen ins Schiffsinnere. Er lächelte verlegen:
„Wir haben in San Sebastian angelegt. Ich brauchte eine neue Seekarte. Da - das hab ich für dich gekauft,“ sagte er unsicher und reichte Miguel ein längliches Paket. Entzündete umständlich seine Pfeife und setzte sich auf die Bank des Ruderhauses.
„Nun mach schon auf,“ er stupste Miguel liebevoll vor den Bauch.
Der Junge drehte das Geschenk hin und her. Noch nie hatte der Vater ihm etwas mitgebracht. Er wunderte sich über die seltsame Form des Pakets. Riss endlich entschlossen das Papier auf: „Papa, Papa,“ er stotterte. Vor Ãœberraschung zitterte er so sehr, dass der Vater ihn in den Arm nahm und fest an seinen kratzenden Pullover drückte, der nach Fisch, Schweiß und Salzwasser roch:
„Wolltest du nicht berühmt werden,“ sagte er zärtlich.
Gemeinsam packten sie eine rötlich schimmernde Geige aus ihrem mit blauer Seide bezogenen Kasten.
Miguel war so aufgeregt, dass der Vater rief: „He Junge, pass auf, wenn die hinfällt, kann ich keine mehr kaufen!“
Lachend beobachtete er seinen Sohn, der sich abmühte, zwischen stinkenden Kisten und zerrissenen Netzen auf den Schiffsplanken das Gleichgewicht zu halten, während er gleichzeitig die Geige ungeschickt zwischen Kinn und Schulter klemmte und behutsam versuchte, den Bogen über die Saiten zu führen. Sein Gesicht glühte, die Augen strahlten und er stammelte: „Eine Geige, eine richtige Geige für mich allein.“
Danach war das Leben nie mehr so wie zuvor. Miguel ging seltener an den Strand. Saß nicht mehr stundenlang in der Felswand. Dafür ging er täglich zum Gefängnisfriedhof und dort zwischen Grabkammern, Kreuzen und rostenden Engeln lernte er seine Geige kennen. Ab und an vernahm er die andere Geige aus dem Gefängnis. Wollte ihr antworten. Aber immer seltener hörte er ihren dünnen Klang. Bis sie eines Tages völlig verstummte.
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Fortsetzung 2. Kapitel
Es war gegen Abend eines frühsommerlichen Tages, des Tages vor Miguels zehntem Geburtstag. Am Strand lagen die ersten Feriengäste. Kinder bauten Sandburgen. Miguel musste auf seinen kleineren Bruder aufpassen. Saß mürrisch und schlechter Laune auf seinem Badetuch. Lesen durfte er auch nicht, um Félix nicht aus den Augen zu verlieren. Er sah die leichten Segelboote, die den Hafen von Laredo ansteuerten. Hinten am Horizont die tiefliegenden vollbeladenen Tanker. Er beobachtete Ausflugsboote und Passagierdampfer. Und es kam ihm vor, als trügen alle in ihrem Schiffsinnern seine Träume und eine unruhige Sehnsucht nach etwas, das er sich nicht erklären konnte.Â
Plötzlich sprang Miguel entsetzt auf. Starrte zum Himmel empor. Nichts mehr vom sommerlichen Blau. Erst leuchtete er in einem beängstigenden Grün. Dann rasten schwarze Wolken wie eine dunkel-drohende Wand auf den Strand zu. Sehr langsam begann ein unheimliches Lärmen. Zuerst noch weit weg, schlich es sich über die wenigen kahlen BerghöÂhen entlang der faltig aufgebrochenen Felswände. Breitete sich brüllend und tosend über dem Wasser aus. In Sekundenschnelle hatte sich der Sommertag verwandelt. Sturm wirbelte Badetücher durch die Luft. Die wenigen Menschen versuchten ihre Taschen, Sonnenschirme und andere Habseligkeiten zusammenzuraffen. Rannten hinter Hüten und Luftmatratzen her.
Eine riesige Welle stürzte krachend mit ihren Wassermassen auf den Strand. Miguel rief verzweifelt nach Félix, als der Kleine auch schon schreiend angelaufen kam. Schützend legte Miguel beide Arme um den Bruder, schrie über den Lärm hinweg: „Das ist eine Galerna[1]“, und dachte an die Erzählungen des Vaters. Es war ein Sturm, der aus dem Nichts herauszuwachsen schien, Boote gegen die Felsen schleuderte, Menschen unter donnernden Wassermassen begrub, Dächer abdeckte, Gärten verwüstete, um dann genauso schnell, wie er aufgetaucht war, wieder zu verschwinden.
Unvermittelt war Dunkelheit hereingebrochen. Hinter sich hörte Miguel die lauten Rufe der Mutter. Sie rannte auf ihn zu, verÂsuchte Kopftuch und Regenjacke festzuhalten. Der Sturm peitschte ihnen die Gischt ins Gesicht. Hunde bellten. Von SanÂtonia klang das hämmernde Läuten der Kirchenglocken.
Warum war die Mutter so aufgeregt? Der Vater hatte doch schon viele Stürme überstanden? Da hörte er, wie sie einer Nachbarin zuschrie: „Pablo ist nicht weit draußen, er wollte heute abend schon wieder hier sein.“
Und Miguel verstand: Auf See war bei Sturm die Nähe des Landes viel gefährlicher als die Weite des Meeres.
Er blieb dicht bei seiner Mutter. Hielt noch immer den weinenden Félix umklammert. Wollte etwas sagen, irgendetwas. Aber der Sturm fetzte ihm die Worte von den Lippen.
Eine ungeheure Angst würgte Miguel. War es möglich...?Â
Er sah den Vater am Morgen, als er ihm die Geige geschenkt hatte. Spürte wieder den kratzenden Pullover an seinem Gesicht. Vernahm die Stimme des Vaters, als er von seinen Abenteuern erzählte. Glaubte über dem Lärm der Natur sein tiefes Lachen zu hören. Da wurde er still und wartete. Stumm gegen den Sturm gestemmt.
Tage später fanden sie am Strand Planken, Stangen, und Hölzer. Eines der Bretter trug den Namen Maria Teresa.               Â
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[1] Galerna                                            Plötzlich auftauchender Sturm in der Biskaya       Â