Nach einem langen Arbeitstag stieg Nora endlich in ihren Wagen. Auf dem kurzen Weg zur Hintertüre des Hotels hinaus zum am Grundstück grenzenden Parkplatz durchnässte der Regen sie bereits bis auf die Haut. Das störte sie jedoch nicht weiter, wichtig war in diesem Moment nur eines - Freiheit. Nachdem Nora den Anlasser betätigte und die Anlage des Autos laut aufheulte, trat sie das Gaspedal durch und fuhr in Richtung Heimat.
Da sie in einem unscheinbaren Dörfchen jenseits aller Zivilisation wohnte, musste sie bereits etwa 45 Minuten für ihren Nachhauseweg einplanen. Dieser Umstand war Nora nur recht. So konnte sie ohne auf irgendwelche genervten Nachbarn zu achten ungestört zum Ausklang des Tages ihrer Musik zuhören. Am liebsten hörte sie Punkrock, bei dem sich die Musiker ihre Sorgen oder die Probleme der sozialen Gesellschaft aus der Lunge schreien. Lediglich der Rhythmus des Geschreis musste stimmen. Und das muss man laut hören, sonst ist es einfach nicht dasselbe, denn ein leiser Schrei ist sogesehen doch gar kein Schrei. Jedenfalls sah Nora das so.
Während sie an diesem Donnerstag Abend die dunklen Straßen entlang fuhr und wie jedes Mal ihren Feierabend in stillen Gedanken genoss, wurde der Regen zunehmend heftiger. In Strömen floss das Wasser an den Seiten der Bordsteinkanten entlang, sodass es von den Rädern des Wagens getroffen in den Kurven an die Fenster hochspritzte.
In ihren Gedanken versunken bemerkte Nora das Unwetter allerdings erst so richtig, als sie, durch die glatte Straßenoberfläche ins Rutschen gebracht, versehentlich einen Bordstein streifte. "Huch.. ", murmelte sie für sich und lenkte den Wagen schleunigst wieder in die richtige Position auf ihre Fahrbahn.
Wenige Minuten später waren sowohl der Regen als auch der aufgezogene Sturm gänzlich verklungen. Je näher Nora ihrem Heimatdorf kam, desto trockener wurde die Umgebung. Irgendwann schlug ihr durch die Lüftung bald ein eisiger Hauch entgegen.
Seit Jahren schon waren eng aneinander grenzende Wetterunterschiede jedoch normal. Jedenfalls wurde es gezwungenermaßen für die Menschen dieser geschundenen Erde nach langem Umdenken zum Normalfall. Durch die Atomkriege wurde die Welt nicht nur für das Auge sichtbar entstellt, auch die Atmosphäre änderte sich. Nie dagewesene meteorologische Phänomene entstanden in sämtlichen Kontinenten. Und ausnahmslos überall gingen Menschen und Tiere an unbekannten Krankheiten zugrunde.
Aufmerksam beobachtete Nora nun ihre Umgebung. Es war nicht ungewöhnlich, dass sich in besagten Grenzgebieten Wurmlöcher bildeten. So zumindest nannte man die deutlichen Verzerrungen in der Luft, die nunmehr seit anderthalb Jahren auf dieser Erde auftauchten. Nora wusste nicht, was geschehen würde, wenn sie in eines der Wurmlöcher hineingeriete. Man sprach von Fällen, in denen nichts weiter geschah, doch gab es auch bekannte Alternativen, die grausamer nicht sein könnten. Die einen zerriss es innerlich, den anderen zerfetzte es gar den ganzen Körper. Seuchen und andere Krankheiten befielen den Unglückseligen, und aus dem Nichts entstanden Mutationen oder andere Veränderungen der Zellstruktur. Häufig fielen die Tiere den Luftverzerrungen zum Opfer, ganze Wildgebiete wurden schon ausgerottet. Für die Menschen war es jedoch ein Leichtes, den unübersehbaren Wurmlöchen einfach aus dem Weg zu gehen.
Jedes Mitglied der Gesellschaft musste wachsam bleiben, draußen war es nicht sicher.
Eigentlich gab es keinen wirklich sicheren Ort mehr.
Plötzlich schlug Nora aus dem Nichts ein gleißendes Licht entgegen. Nicht etwa, wie man meinen könnte, das Scheinwerferlicht eines entgegenkommenden Wagens, sondern vielmehr ein deutlich unnatürliches, neonfarbenes Licht, das seine Farbe in Sekundenschnelle stetig zu wechseln schien.
Während sie die von den grellen Farben überrumpelten Augen zusammenkniff, vollbrachte Nora eine Vollbremsung, die jeden halbwegs unachtsamen Fahrer der sich hinter ihr befunden hätte, einen Unfall einbringen würde der sich gewaschen hatte. Zum Glück war das zu dieser späten Stunde aber eher ungewöhnlich und somit auch nicht der Fall, sodass Nora sich beruhigt Zeit nehmen konnte, um sich die schmerzenden Augen zu reiben.
Anschließend blinzelte sie milde verwirrt auf. Da sie durch die nun leicht angefrorene Frontscheibe nicht viel erkennen konnte, öffnete sie die Fahrertüre, um einen erneuten Blick auf das seltsame Licht zu werfen. Ein eiskalter Schauer, den sie eben bloß durch den Lüftungsschacht spürte, schlug ihr nun erbarmungslos entgegen. In dem angestrengten Versuch, Genaueres zu erkennen, hielt sie eine Handfläche knapp über die verengten Augen. Das Strahlen des Lichts verblasste allmählich ein wenig, sodass nun kaum mehr als eine glühende flackernde Kugel aus Materie unmittelbar vor Noras Auto in der Luft hing. Sie seufzte. 'Das hat mir gerade noch gefehlt.'
Nora ärgerte sich innerlich wie so oft über ihr ständiges Pech, das sie in ihren Augen gepachtet zu haben schien. Allerdings war sie auch besonnen genug, dies mit äußerlicher Gelassenheit auszugleichen, also griff sie nach dem Eisschaber und stieg aus.
In aller Seelenruhe, die wiederrum von der gröhlenden Männerstimme aus den Boxen der Anlage begleitet wurde, kratzte sie das Eis von den Fenstern, ohne die Materienkugel großartig zu beachten. Immerhin war dies schon das dritte Mal, dass Nora eine solche Luftverzerrung erblickte. Beim ersten Mal war es noch schockierend und es verleitete es leider Gottes ein Hirsch dazu, genau hinein zu laufen, was diesem einen grausamen blutigen Tod einbrachte. Beim zweiten Mal verblieb bloß das Erstaunen über die plötzlichen Lichtverhältnisse und dieses dritte Mal war hingegen auch schon recht langweilig, zumal es niemanden gab, mit dem Nora darüber hätte diskutieren oder wahlweise panikieren können.
Irgendwann beeilte sie sich dennoch etwas damit, ihre Fenster zur besseren Aussicht frei zu bekommen, da sie bemerkte dass sich das Eis ziemlich zügig nachbildete, sobald sie sich für eine Weile einer anderen Stelle widmete. Außerdem wurde auch ihr selber beinahe zu kalt, was bemerkenswerterweise schon etwas heißen wollte, denn sie hatte es schon immer gerne etwas kühler.
Nach dieser unwillkommenen zusätzlichen Arbeit gesellte sich Nora wieder zu ihrem Lenkrad ins Innere des Wagens und rieb sich die kalten Finger, bevor sie das Auto erneut startete.
Sie machte nun einen großen Bogen jenseits der eigentlichen Fahrbahn, um den Folgen einer Berührung mit dem Wurmloch zu entgehen. Obwohl der Boden zur Glätte ansetzte, gab Nora ordentlich Gas. Sie konnte es kaum erwarten, in der geliebten Ruhe ihres Zuhauses anzukommen. Noch wusste sie nicht, dass ihr dieses Glück in jener Nacht nicht vergönnt war.
Szene 02 (Nora)
Kurz bevor sie in den angrenzenden Wald ihres Heimatdorfes Rivers Hill einbiegen wollte, entdeckte Nora einen Fußgänger, der eine knappe Geste machte zum Anzeichen, dass er einsteigen wollte. Nicht dass Nora derartige Passanten jemals beachten würde, denn um diese Uhrzeit war es nicht selten vorgekommen, dass Fußgänger unglücklich über die nächtliche Kälte wurden und kurzerhand doch noch eine Mitfahrgelegenheit anstelle der in dieser Gegend früh eingestellten öffentlichen Verkehrsmittel suchten. Doch Noras Ansicht nach waren diese Leute es selber Schuld, wenn sie jetzt noch unterwegs waren, sobald die Sonne hinter dem Horizont verschwand.
Auch diesmal wäre Nora eigentlich geradewegs an dem Menschen auf dem Bürgersteig vorbei gebrettert, wäre ihr nicht in letzter Sekunde aufgefallen, dass er ihr bekannt vorkam.
Die schnelle Fahrt endete aufgrund der ohnehin leergefegten Straßen abrupt in einer Vollbremsung unmittelbar neben Zack, einem recht kleinwüchsigen jungen Mann, der im Dunkeln noch unheimlicher aussah, als er schon bei Tageslicht wirkte. Wobei das nicht gerade an mangelnder Schönheit sondern vielmehr an seinen Gesichtszügen lag, die Bände sprachen. Aus dem einen Auge, das seine ins Gesicht fallenden Haare preisgab, blinzelte er Nora mit hochgezogener Braue an, während sie die Beifahrertüre aufstieß.
Da er doch wie so oft schwieg, ergriff Nora ausnahmsweise das Wort, nachdem sie die Lautstärke des Gröhlens aus ihrer Musikanlage leiser gestellt hatte. "Was machst du hier..?" Aufrichtige Skepsis schwang in ihrer leisen Stimme mit, denn bei genauerer Betrachtung fiel ihr auf, dass ihr ehemaliger Mitschüler ziemlich verstimmt zu sein schien. Nicht, dass er nicht sowieso schon üblicherweise den Eindruck machte als würde er jedem, der es wagt ihn anzusprechen, ins Gesicht spucken, doch im Moment meinte Nora in seinen Augen eine milde Traurigkeit zu erkennen. Doch sie konnte sich auch irren, immerhin war es Nacht und Zack stand sogesehen mitten auf einer Endlosstraße im Nichts. Er musste einen weiten Weg zurückgelegt haben, weshalb er sicherlich auch bloß erschöpft war.
Sie wartete geduldig ab, bis er sich, zunächst etwas zögernd, zu ihr ins Auto setzte. "Zack… Alles in Ordnung?"
Zack brauchte eine Weile, bis er sich dazu entschied, Nora zu antworten, allerdings übertonte seine Stimme kaum die ihre und er hielt sich kurz. "Ich glaube nicht.."
Es folgte erneut eine stille Pause, in der niemand sprach. Obgleich Zack eindeutig in Gedanken versunken war, wartete Nora nämlich immer noch eine Erklärung ab, ihr war bewusst, dass man mit ihm Geduld haben musste, immerhin war es für diesen stummen Zeitgenossen eine Seltenheit, seine Stimme zu benutzen. Noch seltener aber war die Tatsache, dass er freiwillig Hilfe in Anspruch nahm. Je länger die Stille anhielt, desto mehr festigte sich das Gefühl der leichten Besorgnis in Nora. Zwar vergingen eigentlich nur einige Minuten, jedoch hatten diese es in sich und zogen sich hin, ähnlich wie die Übungen aus der Grundschule, in denen die Kinder die Sekunden zählen müssen, während sie auf einem Bein stehen.
Endlich sah Zack aus seinen Gedanken auf und Nora direkt an. "Nimm mich mit nach Rivers Hill." Was wie ein Befehl klang, war in Wirklichkeit eine simple Frage. Als eine der wenigen aus Zacks Umfeld konnte Nora das auch als solche auffassen, weshalb sie nickte. "Okay." Sie hielt sich ebenso knapp wie er, drehte die Musik wieder auf, diesmal jedoch nicht ganz so laut, und fuhr abermals in dieser Nacht los.
Es bestand keine Notwendigkeit, aus dem Jungen herauszukriegen, was ihn denn nun bedrückte. Sicher, sie hatten ein relativ gutes Verhältnis zueinander gehabt, vor allem wenn man bedachte, dass Zack sich für gewöhnlich mit nichts abgab außer mit sich selbst und der Bildung, und immerhin konnten die zwei in ihrer Schulzeit hin und wieder miteinander reden, obwohl sie beide im Normalfall nie besonders viele Worte verloren. Doch bauchte man kein große Ausmaß an Menschenkenntnis zu besitzen, um zu wissen, dass man mit Zack nicht über Probleme spricht. Da er sowohl ein Genie als auch hochintelligent ist, versuchten sich selbstverständlich immer wieder einige Schüler an einem Anfreundungsgespräch in der Hoffnung auf ein wenig Nachhilfe, aber meistens endeten die Versuche schon mit dem wohlbekannten Mörderblick Zacks sobald man das Wort an ihn richtet und ihm damit auf die Nerven geht.
Er ist ein schwieriger Typ und ständig schlecht gelaunt, weshalb er nie Freunde hatte. Als steter Einzelgänger verbrachte Zack die gesamte Schulzeit im Stillen als Außenstehender der Klassengemeinschaft, dennoch wusste Nora einiges über ihn, weil sie zufällig öfter aneinander gerieten, sei es in Gruppenaufgaben, auf Klassenfahrten oder aufgrund diverser Meinungen die sie in ihrer Gemeinsamkeit als Außenseiter teilten.
Nora war ebenfalls nicht besonders beliebt in ihrer Klasse gewesen, deshalb war es mehr oder weniger ein glücklicher Zufall gewesen, in der Parallelklasse einen Gleichgesinnten gefunden zu haben. Sie hatte in Erfahrung gebracht, dass Zack genau wie sie jedoch nicht immer nur alleine war. Sie selbst hatte einige wenige Freunde anderen Alters und Zack sprach von einem älteren Jungen, der ihn ständig aufsuchte, zutextete und umsorgte.
Nichts desto trotz war er Nora nun nicht gerade so wichtig, dass sie ihn zwingen würde, auszupacken. Erstaunlicherweise brauchte sie das auch gar nicht, denn mitten im Wald entschied Zack sich aus ihr unbekannten Gründen dazu, über seinen Schatten zu springen.
"Ich…werde es dir erzählen." Verwundert senkte Nora die Geschwindigkeit, um ihren Mitfahrer aus den Augenwinkeln anzublicken. "Mir was erzählen..?" Eigentlich war sie sich sicher, was er ihr mitteilen wollte, aber so offensichtlich es auch war, so war es nicht Noras Art, Leute zu irgendetwas aufzufordern. Und da Zack in ein erneutes Schweigen fiel, erwartete er scheinbar genau diese Aufforderung oder Erlaubnis dazu, sich ihr anvertrauen zu dürfen.
Zack seufzte. "..halte an." Erst nachdem Nora rechts angefahren war, setzte er an, weiterzusprechen. Als er merkte, dass sie ihm jedoch direkt ins Wort fallen wollte, hielt er eine seiner zierlichen Hände hoch, damit sie den Mund hielt. Nora runzelte bloß die Stirn, unterließ dann aber eine Unterbrechung. So dumm es auch war, in diesen gefährlichen Zeiten mitten in der Nacht, mitten im Wald, inmitten eisiger Kälte und einem behrarrlichen Funkloch, anzuhalten, so war Nora sich ziemlich sicher, dass Zack klug genug war und somit seine Gründe dafür hatte.
"…ich weiß, dass es keine gute Idee ist.., aber vor uns liegt im Moment keine Gefahr..", fing er an, und Nora hatte kaum Zeit, zu überlegen, weshalb er sich da so sicher war, "Ich…" Zack schluckte leicht. Sein Tonfall wurde kläglich, als er die zögerlichen Worte endlich über die Lippen brachte.
"Ich höre Stimmen…"