Sonderbarer Bericht eines verschollenen Mannes, der durch fremdartige Kornzeichen in den zwischenweltlichen Wahnsinn abglitt.
Ob dieser Bericht an die Öffentlichkeit gelangt, liegt nicht in meiner Hand. Ich bin aufgrund der Form, die ich annahm, nicht mehr in der Lage, selbst ein Manuskript zu verfassen oder es auch nur einem Menschen zu diktieren. Deshalb werde ich versuchen, meine Worte und Gedanken auf anderen Wegen jemandem zu übermitteln, der sie zu Papier bringen kann; denn es ist mein Wille, dass jene, die mich kannten, von den Umständen meines Verschwindens erfahren, eine Erklärung des sonderbaren Fundes in meinem Haus erhalten und endlich von dem Gedanken ablassen können, ich wurde ermordet.
Sollte dieser Bericht in die Hände eines Fremden geraten, so wird es ihm sicherlich nicht schwer fallen, meinen Namen anhand der Zeitungsberichte über meinen Vermisstenfall zu ermitteln, doch für mich hat er jede Bedeutung verloren. Was ist schon ein Name, wenn man jenseits der stofflichen Welt wandelt? Was sind gesprochene Worte, wenn man keinen Mund hat, keine Kehle, die sie formen und artikulieren können? Alles, was mir bleibt, sind meine Gedanken und der Versuch, diese Zeilen durch die Hand eines anderen zu manifestieren, um zu berichten, was sich in den letzten Monaten vor meinem Übergang zugetragen hat.
Es begann mit diesen unbeschreiblichen Zeichen in den Feldern bei meinem Haus. Sie erschienen stets über Nacht, und als es das erste Mal geschah, lebte ich seit kaum einer Woche in diesem Landstrich. Ich sah es, als ich morgens auf dem Weg zur Fabrik mit dem Fahrrad über eine Anhöhe fuhr. Doch mehr als seine runde Form und einige sich kreuzende Linien, bestehend aus niedergedrücktem Weizen, erkannte ich von diesem Standpunkt aus nicht. In der Abendausgabe der Zeitung entdeckte ich am selben Tag eine Luftaufnahme des Musters. Ich hatte schon einiges von derartigen Kornkreisen gehört, jedoch niemals viel davon gehalten. Etwas anderes als kreative Scherzbolde, die sich mit Seilen und Brettern des Nachts daran gemacht hatten, Kreise und Figuren in die Felder zu drücken, vermutete ich auch hierbei zunächst nicht. Doch musste ich mir selbst eingestehen, dass dieses Exemplar eine besondere Faszination auf mich ausübte.
Von einem perfekt gezirkelten Doppelkreis begrenzt, vereinten sich die Geraden und Kurven im Inneren zu einer irrwitzigen und dennoch auf unaussprechliche Weise wohlgeordneten Erscheinung. Für eine genauere Beschreibung, die dem Leser ein wirklichkeitsnahes Bild vermitteln könnte, fehlen mir die Worte. Wenn ihm die „Blume des Lebens“ ein Begriff ist, so wird er sich die etwaige Grundstruktur des Kornbildes vor Augen führen können. Doch als wäre die Abbildung dieses komplexen Symbols nicht schon Aufwand genug gewesen, war es zusätzlich durchzogen von einer Vielzahl an Geraden, Winkeln und Kurven, die sich zu nur schwer definierbaren geometrischen Formen vereinten, dabei jedoch eine exakte Symmetrie innehielten. In Archiven der lokalen Zeitung kann das Bild sicher eingesehen werden.
Ich betrachtete es lange. Auch nachdem ich die Zeitung weggelegt hatte, musste ich weiter darüber nachdenken. Die gesamte Nacht und den darauf folgenden Tag ließen mich diese Gedanken nicht mehr los, denn unentwegt sah ich vor meinem inneren Auge dieses Bildnis, das in seiner Ästhetik so manches übertraf, was ich bisher in Kunst und Symbolik erblickt hatte und zugleich auf eine nicht näher bestimmbare Art und Weise zutiefst befremdlich wirkte, und grübelte darüber, worum es sich bei den fernen Assoziationen handelte, die es in mir hervorrief. Und ich ahnte nicht, dass meine anfängliche Bewunderung sich schnell zu einem neurotischen Fanatismus entwickeln würde, der schon bald beinahe an Wahnsinn grenzte.
Ich träumte in den nächsten Nächten von dem Kornkreis. Ich sah ihn von hoch oben, betrachtete jede Linie, jede Kurve. Doch als ich mich nähern wollte, verschwammen die Zeichen. Mein erster Gedanke nach meinem Erwachen war, den Ort am Folgetag zu besuchen.
Noch im Morgengrauen ging ich die grasige Anhöhe hinab, die zum Feldrand führte, und folgte einer Traktorspur bis in die Formation hinein. In seiner Gesamtheit maß das Bild bestimmt gute 50 Meter im Durchmesser. Die plattgewalzten Weizenhalme, die die großen Außenkreise bildeten, erschienen mir im ersten Licht der Sonne wie breite, goldene Flüsse, während die schmaleren Linien im Inneren meist gerade genug Platz boten, um auf ihnen entlang zu gehen. Ich folgte ihnen bis ins Zentrum. Die Halme lagen allesamt derselben Richtung folgend flach am Boden; nicht abgeknickt, sondern vielmehr am Boden weiterwachsend, als wären sie bereits in diesem widernatürlichen Winkel aus der Erde gekommen. In Form eines Wirbels bildeten sie den Mittelpunkt des Kreises.
Als ich dort im Feld stand, inmitten dieses formvollendeten Gebildes genauester Geometrie und höchster Ästhetik, begann ich erste Zweifel daran zu hegen, dass dieses Muster das Werk von Menschen war. Nur mithilfe von Seilen und Brettern binnen weniger Stunden etwas derart Grandioses in den Weizen zu zeichnen, erschien mir – zumal es in der Dunkelheit der Nacht geschehen sein musste – kaum noch denkbar. Vielmehr musste ich mir titanische Zirkel, Gradmesser und Parabelschablonen vorstellen, die aus großer Höhe geführt worden waren, wenn ich versuchte, mir Mittel und Wege einer solchen Konstruktion vorzustellen. Welche Kraft den Kornkreis tatsächlich geschaffen haben könnte, überstieg mein Vorstellungsvermögen.
Und noch etwas überkam mich im Inneren des riesigen Symbols. Mir war, als hätte sich mein allgemeines Selbstempfinden seit dem Augenblick, als ich den Außenkreis betreten hatte, merklich aus dem Bereich des Normalen verschoben. Ich fühlte mich leichter, freier, auf eine unbestimmbare Weise verknüpft mit dem, was mich umgab, und zwar in einer Art, die jenseits der bloßen Berührung meiner Sohlen und dem flachgedrückten Weizen lag. Das Gefühl war schon bald so überwältigend, dass ich meinte, die Formation verlassen zu müssen. Im Außenkreis empfand ich den Effekt jedoch bereits als deutlich schwächer, und ich stellte fest, dass er mit jedem Schritt, den ich wieder in Richtung des Mittelpunkts machte, an Intensität zunahm.
Der Kreis zog mich immer mehr in seinen Bann. Im Laufe der nächsten Wochen besuchte ich ihn immer wieder, und selbst als sich die Halme langsam wieder aufrichteten und seine komplexen Muster bald kaum noch sichtbar waren, ließen mich die unterschwellige Symbolik und das abnormale Selbstempfinden im Kreisinneren nicht los. Das Bild im Korn bedeutete für mich Faszination in ihrer reinsten Form. Ich spürte starke Assoziationen mit etwas vage Vertrautem, gleich einer fast vergessenen Erinnerung, konnte sie jedoch nicht näher bestimmen und mich nur noch schwerlich mit etwas anderem beschäftigen, als darüber nachzudenken, was genau der Kornkreis in mir ausgelöst hatte.
Ich träumte nun in vielen Nächten davon, wie ich das Feld überblickte und durchstreifte. In meinen wachen Stunden begann ich bald, das Zeichen auf jedes Stück Papier zu kritzeln, das mir in die Finger kam – in einer vereinfachten, etwas unbeholfenen Version natürlich, zumal die Komplexität des Originals mein zeichnerisches Können überstieg. Selbst die Wände meines Schlafzimmers wurden schließlich zur Leinwand meiner fanatischen Gedankenwelt, die sich nunmehr um nichts anderes mehr drehte. Bei der Darstellung, die ich mit dicker, pechschwarzer Farbe an die Wandschräge gegenüber meines Bettes zeichnete, ging ich sogar mit größter Sorgfalt zu Gange und benutzte einen Faden als Zirkel und eine Wasserwaage, um die inneren Muster möglichst symmetrisch darzustellen. Nicht weniger als zwanzig Tage arbeitete ich an dem Meisterwerk, und als es vollendet war und die Wandschräge in ihrer gesamten Höhe bedeckte, war es, als fiele mir ein Gewicht von der Seele: Die Darstellung war perfekt.
Mit dem Abschluss des Wandbildes endeten meine ständigen zwanghaften Kritzeleien des Kornkreises, doch sehr bald darauf entwickelten sich bei mir einige neue, weitaus bedenklichere Verhaltensmuster. Unauslöschlich, fast schmerzhaft nagten die Gedanken an diese verfluchte, unbestimmte, nebelhafte Erinnerung an mir, die das unbeschreibliche Zeichen in mir weckte. Ich war diesem Muster schon einmal begegnet, das wusste ich nun! – Doch Ort, Zeit und Umstand dieses vergessenen Kontaktes blieben mir verschleiert.
Das Symbol an der Wand war nun das letzte, was ich des Nachts vor dem Schlafen erblickte, und das erste, was ich morgens nach dem Erwachen sah. In der Nacht der Fertigstellung begannen die Träume, und mit den Träumen fand wohl der höchste Irrsinn seinen Anfang. Sie kamen fortan in Abständen von vier oder fünf Nächten, und sie folgten alle demselben Prinzip. Zu Beginn blickte ich stets aus großer Höhe auf ein ganz unberührtes Kornfeld und konnte in den umliegenden Hügeln oft sogar mein kleines, eingeschossiges Haus sehen. Bald näherte ich mich dem Feld jedoch im Sturzflug, um es dann in sonderbaren Bahnen zu überfliegen. Dabei formte ich, ganz ohne jede Berührung der Halme, ein Kornmuster, das sich in jedem einzelnen Traum ganz neu entwickelte. Ich war an keinen Körper gebunden, sondern bewegte mich frei durch die Luft und drückte den Weizen durch meine bloße Hitze dort nieder, wo ich es bestimmte. Die Visionen waren ausgesprochen lebhaft und echt, und jedes Mal, wenn ich erwachte, sah ich das im Traum geschaffene Symbol noch so deutlich vor mir, dass ich es grob skizzieren konnte. Es handelte sich um derart phantastische Muster, dass ich mich fragen musste, welches verschlüsselten Winkels meines Unterbewusstseins ihre Konstruktion entsprungen sein mochte.
Was mich jedoch zu dieser Zeit in die allerheilloseste Verwirrung stieß, waren die Entdeckungen, die ich stets nach diesen Träumen auf meinem morgendlichen Weg über die Hügel machte. In den Feldern nämlich, die zwischen meinem Haus und der Fabrik lagen, waren nun immer wieder neue Kreismuster zu sehen. Unbegreiflich genug war der Umstand, dass ausgerechnet jedem meiner Träume eine Neuentstehung zu folgen schien – das wahre Ausmaß des Wunders eröffnete sich mir jedoch erst in seiner ganzen verstörenden Gewalt, als ich in der Zeitung Luftbilder der neuen Formationen sah und erkannte, dass die Kornkreise exakt jenen glichen, die ich im Traum selbst in die Felder gedrückt und nach dem Erwachen auf meinen Skizzenblock gezeichnet hatte!
Himmel, seit dieser Zeit zweifelte ich vollends an der Ordnung und Richtigkeit der Dinge! Hätte ich schon damals jemandem von meinen Erlebnissen erzählt, so hätte er mich auf der Stelle für verrückt erklären müssen – und doch konnte ich es nicht sein, konnte ich mir nichts davon einbilden, denn diese verfluchten Kornbilder waren Nacht für Nacht gigantisch und unverrückbar in die Felder geprägt worden, ganz wie fantastische Illustrationen meiner beständig wiederkehrenden Träume! Und mit einem Schlag sah ich die Antwort auf die Frage, die mich so viele Wochen seit der Entstehung des ersten Musters gequält hatte, ganz klar vor mir. Jene verschwommene Erinnerung, dieses vage Gefühl, den ersten Kornkreis schon zuvor einmal gesehen zu haben, rührte aus nichts anderem als einem Traum her. Ich selbst hatte das grandiose Muster im Traum erschaffen, nur wenige Stunden, bevor ich es real und greifbar in dem Weizenfeld gesehen hatte, und die Götter allein wissen, welches unaussprechliche Gesetz der Natur für derartige Grenzüberschreitungen verantwortlich sein mag!
Nur noch mit größter Mühe war ich in den letzten Wochen meiner Arbeit nachgegangen, und bald nahm ich mir meinen restlichen Urlaub. Die meiste Zeit saß ich nun in meiner Kammer auf dem Bett und starrte entrückt ins Zentrum des Wandbildes. Mitunter vergaß ich dabei sogar völlig, zu essen und zu trinken, und in solchen Fällen schrak ich dann zu späterer Abendstunde ganz plötzlich aus einem nur halbwachen, tranceähnlichen Zustand auf, als mir mein nagender Hunger und brennender Durst schlagartig bewusst wurden. Die Pflege von Haus und Körper vernachlässigte ich ab dieser Zeit natürlich auch in abscheulichster Weise.
In den hellen Tagesstunden ging ich oft in die Kornfelder und setzte mich auf einen Stuhl, den ich einige Zeit vorher aus dem Haus getragen und in den Mittelpunkt des am nächsten gelegenen Kornkreises gestellt hatte – ein fast unbeschreibliches Piktogramm, das entfernt an die schemenhafte Darstellung des Sonnensystems erinnerte, jedoch mit zwölf „Planeten“, von denen jeder zweite auf derselben gedachten Linie lag. Dort saß ich dann bis zum Sonnenuntergang und genoss die außergewöhnlichen Empfindungen, die ich schon bei meinem ersten Besuch des anfänglichen Musters erlebt hatte. Doch von Mal zu Mal wurde das unnennbare Gefühl der Körperlosigkeit und Transzendenz schwächer, und immer stärker sehnte mein Geist diesen Erfahrungen nach. Mit dem allmählichen Verschwimmen der Kreise verschwanden auch sie schließlich völlig, was in mir die rastlose Frustration und Nervosität eines Abhängigen auslöste, der auf Entzug seiner Droge gesetzt worden war.
Mein Geist war besessen; ich war zu nichts anderem mehr in der Lage, als über die Kreise zu grübeln. Zu erkennen, dass ich offenbar über eine Kraft verfügte, die ich mir nicht erklären konnte, machte mir große Angst. Elf Mal waren die Träume gekommen, nachdem ich das Wandbild gezeichnet hatte, und elf Kornkreise waren seitdem in den Feldern aufgetaucht. Die große Frage nach Bedeutung und Erklärung all dessen umklammerte mein Denken und Handeln, formte selbst all meine gewöhnlichen Träume, bestimmte meinen ganzen Alltag; doch zu einem Ergebnis kam ich nicht. Die Verzweiflung darüber erreichte eines Nachts schließlich einen Punkt, an dem ich alle Kraft eingebüßt hatte, mein gesamtes Leben auf diese aussichtslose Suche zu richten. Nur mit der Antwort würde ich wieder vollkommen sein, sagte ich mir, doch wenn ich sie nicht finden kann, so hat meine Existenz in dieser Welt keinen Sinn. Ich beschloss also, diesem Kampf ein Ende zu machen.
Es war August, und am Nachthimmel entlud sich ein Sommergewitter. Ich ging, vom schwülen Wind getrieben, den Weg über die waldigen Hügel in Richtung der Stadt entlang. Bald regnete es in langen, schweren Fäden. Wenn ein Blitz niederfuhr, sah ich, wie sich der Weizen auf den Feldern gleich einer sturmgehetzten Wasserfläche in chaotischen Wogen bewegte. Etwa eine halbe Stunde würde ich gehen müssen, dann wäre ich an der alten Steinbrücke, von der ich mich in einen schnellen, kalten Tod stürzen würde.
Eiligen Schrittes betrat ich die Stadt und folgte der Straße zum Fluss. Es waren nicht viele Menschen unterwegs, und wem ich begegnete, den sah ich nicht an. Mein Geist war wie vernagelt; ich sehnte mich der Brücke entgegen und der Befreiung aus meinem Gedankenkerker. Doch nach einigen Biegungen musste ich vor einer Straßensperrung stehen bleiben. Ich dachte keine Sekunde über diese ungebetene Verzögerung nach, sondern schlug wie fremdgesteuert einen Umweg ein, verfiel in einen Laufschritt, rannte bald; ich sah die Brücke schon am Ende der schmalen Straße über dem befreiend tosenden Fluss aufragen, da blieb ich unvermittelt stehen. Mir war ganz plötzlich, als hätte sich in diesem Moment eine unsichtbare Leine gestrafft, an der ich bisher durchs Leben geführt worden war. Nun gebot sie mir, innezuhalten; und ich hörte, sah und spürte, wie der Regen ringsum auf das Pflaster prasselte, die Ziegeldächer hinunterrann und meine Kleidung bis auf die Haut durchnässte.
Ich sah mich in der nur schwach beleuchteten Gasse um und erblickte zu meiner Linken, nur wenige Schritte hinter mir, ein kleines Antiquariat, aus dessen Fenstern stiller Kerzenschein drang. Ich konnte die Wirkung, die der Laden auf mich hatte, weder leugnen noch bestimmen; sie war jedoch stark genug, um meinen Suizidwillen auf einen Schlag zu ersticken. Ich trat an die Tür, kaum in der Hoffnung, dass zu so später Stunde noch geöffnet sein würde; doch als ich die Klinke hinabdrückte, konnte ich eintreten. Drinnen war es trocken und warm. Ich legte meinen Mantel ab.
Langsam ging ich durch einen dunklen, stickigen Flur bis zu einer halboffenen Tür, aus der das Kerzenlicht flackerte, klopfte zaghaft an den Rahmen und steckte meinen Kopf in den Raum. Niemand antwortete, doch Augenblicke später entdeckte ich den offenkundigen Besitzer der Buchhandlung. Er saß tief schlafend in seinem Sessel hinter einem schweren Schreibtisch, auf dem sich Schriftwerke und Papierstöße stapelten, und atmete in tiefen, gleichmäßigen Zügen. Ich schätzte ihn auf jenseits der Siebzig, und er sah recht sympathisch aus, wie er dort schlummerte. Er würde es mir sicher nicht allzu übel nehmen, wenn ich mich ein wenig in seiner Sammlung umsähe, dachte ich mir und trat leise ein.
Das düstere, enge Zimmer wirkte wie ein Überbleibsel aus dem 15. Jahrhundert. Die Luft war trocken und staubig. Entlang der Wände reihten sich massive Holzregale aneinander, die bis unter die Decke reichten und mit vielen hundert Büchern gefüllt waren. Etliche von ihnen waren so alt und abgegriffen, dass ich ihre Titel im Licht des verzierten Kerzenleuchters nicht entziffern konnte. Vorsichtig zog ich einige Werke hervor.
Wie herrlich war dieser angesammelte Schatz für einen Bücherfreund wie mich! In diesem unscheinbaren Geschäft lag das niedergeschriebene Wissen aus Jahrhunderten. Da waren vielbändige Schriften über die Anatomie der Tiere, staubige Wälzer über die Theorie des Klangs, zerschlissene Abhandlungen über altgermanische Naturkulte und modrige, mit prächtigen Schnitten illustrierte Berichte über Expeditionen in die entlegensten Winkel der Erde. Ich konnte meinen Blick kaum lösen von dieser Vielzahl faszinierender Zeugnisse längst vergangener Zeiten, und ich hätte wohl jedes einzelne Werk aus diesen Regalen nehmen und betrachten wollen, wäre ich nicht nach einiger Zeit auf ein Buch gestoßen, das mein Interesse stärker erweckte als jedes andere. Es zeigte unmissverständliche Spuren jahrzehntelanger, wenn nicht längerer Benutzung. Das schwarze Leder seines Einbands war rissig, der Buchrücken so abgegriffen, dass man den Titel nur erahnen konnte, und die Seiten vergilbt und teils zerfallen. Der Grund für meine gesonderte Aufmerksamkeit lag in dem Muster, das auf der Vorderseite des Buches ins Leder geprägt worden war, denn hierbei handelte es sich um die schon früher erwähnte „Blume des Lebens“. Dieses geometrische Kreismuster gilt in zahllosen Kulturen der Erde als Heiligtum oder Schutzbringer, und obwohl es den Eindruck höchster Komplexität weckt, ist es dennoch – nur mithilfe eines Zirkels – recht einfach zu konstruieren.
Als ich auf das Symbol blickte und in Gedanken die Linien und Formen hinzufügte, die zur Darstellung des ersten Kornkreises noch fehlten, wurde mir schlagartig bewusst, dass ich seit meinem Betreten der Buchhandlung gerade zum ersten Mal wieder an die unbestimmbaren Feldmuster denken musste. Der Augenblick, in dem ich von der Straße hereingekommen war, stellte das Ende meiner monatelangen, quälenden und zwecklosen Grübeleien dar und lenkte mich in eine neue Richtung, die mir das Gefühl hab, letzten Endes tatsächlich noch auf die richtige Spur gekommen zu sein.
Ich trug das Buch ins Licht und las den Titel: „Von den Welten und ihrer Verflechtung“, verfasst im Jahre 1672 von dem englischen Philosophen und Astronomen Charles Bolton. Bei diesem Exemplar handelte es sich um einen Nachdruck, der 1932 erschienen war. Ich weiß heute, dass der Autor seit der Veröffentlichung seiner Thesen als Ketzer verschrien und gehetzt worden war, jedoch auf unergründlichen Wegen der Verfolgung hatte entkommen können. Seltsam berührt blätterte ich die Seiten um, gefesselt von rätselhaften geometrischen Skizzierungen und kaum definierbaren Darstellungen verzerrter Formen und Wellen, und war erstaunt über die offenkundigen Ähnlichkeiten mit der Kornkreissymbolik. Obwohl ich nicht viel davon verstand, beschloss ich, das Buch zu erstehen, um es in aller Ruhe studieren zu können. Womöglich erhielt ich dann tatsächlich Antworten auf all die Unklarheiten, die mich so lange gepeinigt hatten.
Just in dem Augenblick, als ich mich mit dem Buch umdrehen und den Verkäufer wecken wollte, trat ebendieser direkt vor mich und jagte mir damit einen furchtbaren Schrecken ein. Grundlos – wirkte der alte Mann im Wachzustand doch ebenso freundlich und unbekümmert, wie ich in bereits zuvor eingeschätzt hatte. Er sah, dass ich an einem seiner Stücke Interesse hegte, handelte nicht lange und verkaufte es mir zu einem Preis, der weit unter dem von mir erwarteten Betrag lag.
Mein Haus wieder zu betreten, entfachte ein merkwürdiges Gefühl in mir. Wäre ich nicht durch meinen unvorhergesehenen Wegwechsel auf die Buchhandlung gestoßen, so triebe ich jetzt schon leblos dem Meer entgegen. Vom langen Marsch entkräftet, doch beseelt von neuer Hoffnung, beschloss ich, mir jetzt etwas Schlaf zu gönnen. Im Vorübergehen sah ich auf dem Telefon, dass mein Vater vor etwa zwei Stunden angerufen hatte. Er hatte sicher wissen wollen, weshalb ich schon seit Wochen nicht mehr von mir hören ließ – wie tragisch kurios, dachte ich mir, dass er mich so knapp verpasst hatte, als ich entschlossen in die Stadt aufgebrochen war. Es hatte wohl etwas mit meiner bedenklichen geistigen Verfassung zu tun, dass ich zu dieser Zeit Gespräche mit anderen Menschen als mir selbst einfach nicht ertragen konnte. Ich zog die Telefonleitung heraus und ging zu Bett.
Die Träume, in denen ich selbst Feldmuster schuf, waren nach dem insgesamt zwölften – den allerersten Kornkreis mit eingeschlossen – nie wieder aufgetaucht. Jedoch kamen dieser Tage weitere luzide Träume, in denen ich neuerlich körperlos durch die Luft schwamm und die Landschaft um mein Haus herum aus großer Höhe betrachtete. Nun aber machte ich mich nicht daran, Muster in die Felder zu zeichnen, sondern war im Stande, völlig frei und losgelöst über die nächtlichen Landschaften zu schweben, in welche Richtung und wie weit es mich auch trieb. Wie ein Vogel, doch ungleich schneller überflog ich Wälder, Hügel und kleine Seen, sah bald die Lichter der Stadt in der Ferne und folgte dem schwarzen Flusslauf, der sich schlangengleich am Boden wand und den Halbmond glänzend reflektierte. Dort sah ich die Brücke, von der ich mich in den Freitod hatte stürzen wollen. Doch ich flog weiter, über ganze Landstriche und Meere, immer dem östlichen Horizont entgegen, bis ich die Sonne sehen konnte. In diesem Augenblick erwachte ich jedes Mal aus meinem herrlichen Traum, doch ich behielt stets die Erinnerung daran, als hätte ich ihn leibhaftig erlebt. Manchmal hatte ich beim Erwachen für einen winzigen Augenblick den Eindruck, als erlösche ein Licht in meinem Zimmer, das mir im Schlaf ins Gesicht geschienen hatte; doch das erklärte ich mir mit meiner abgebrochenen Traumvision des Sonnenaufgangs.
Diese Träume gaben mir eine ungeahnte positive Kraft, die mich den ganzen Tag über bei angenehm sorgloser Laune halten konnte.
Meine Studien des erworbenen Buches indes blieben nur von mäßigem Erfolg gekrönt. Boltons Theorien zum Aufbau des Multiversums mochten einem Astrophysiker oder einem außerordentlich vielschichtigen Denker verständlich sein, doch sie überstiegen mein Vorstellungsvermögen von Raum und Zeit so dermaßen, dass ich keinem seiner Gedankengänge bis zum letzten Schluss folgen konnte. Ich meinte jedoch, seine Grundhypothese in groben Zügen erfasst zu haben, zumal sie sich im Allgemeinen kaum von der so populären Theorie der Parallelwelten unterschied: Neben der uns bekannten Welt, so behauptete Bolton, existiere eine unbegrenzte Zahl an alternativen Realitäten, sodass praktisch jede erdenkliche Form eines Zustandes an irgendeinem Ort in der Unendlichkeit auch tatsächlich bestehe – von kleinsten, im Grunde unmerklichen Abweichungen von unserer hiesigen Realität bis hin zu den bizarrsten Welten eines gänzlich anders gearteten Universums. Es gäbe jedoch, wie der kühne Ketzer schrieb, gewisse verborgene Schnittstellen zwischen jenen verschiedenen Existenzen sowie Mittel und Wege, diese aufzuspüren oder sogar zu erzeugen. Der Übertritt in eine andere Sphäre geschehe nicht immer unmittelbar, sondern gehe oft schleichend vonstatten, sodass der Reisende mitunter erst einige Zeit nach der Durchquerung eines Portals von den Veränderungen Notiz nähme. Boltons Worte stellten in dieser Passage unmissverständlich eine Warnung vor den psychischen Schrecken eines solchen allmählichen Übergangs dar und machten nicht mehr den Eindruck, als handle es sich bei seinem Werk um eine rein theoretische Abhandlung.
Während ich die letzten Kapitel des Bandes las, entdeckte ich zwischen den hintersten Seiten ein loses Blatt Papier; eine brüchige, vergilbte Handschrift mit nur wenigen Zeilen. Der Vorbesitzer des Buches musste das Blatt darin vergessen haben, vermutete ich und las die knappe Botschaft.
Kreuzung 2 Meilen östlich von Northbury Hill, dort den Waldweg durch die Hügel hinauf. Nach 70 Schritt links ab – bald am Ziel. Entferne dich dann nicht zu weit!
Das interessierte mich. Ich nahm eine Karte des Landstrichs zur Hand und suchte das Dorf Northbury Hill; ich fand es etwa fünf Meilen von meiner Bleibe entfernt. Auch die besagte Kreuzung war eingezeichnet, jedoch nichts in den hügeligen Wäldern umher, auf das sich der Schreiber bezogen haben könnte. Ich beschloss, der Sache am Folgetag nachzugehen.
Bereits am frühen Morgen erwachte ich aus einem meiner außergewöhnlichen Träume und fand keinen Schlaf mehr, sodass ich mich dazu entschied, sofort aufzubrechen. Draußen hatte sich kalter Nebel übers Land gelegt, doch das hielt mich nicht auf. Mit dem Rad fuhr ich bis zu der besagten Kreuzung. Dort entdeckte ich tatsächlich einen Weg, der von der Straße ab sanft bergauf in den Wald führte, und folgte ihm zu Fuß. Gerade rechtzeitig entsann ich mich der erwähnten 70 Schritte und begann zu zählen. Schließlich bog ich im rechten Winkel nach links und bahnte mir einen Weg durchs Unterholz, und in mir wuchs eine angenehme Aufregung heran. Der Nebel kroch verstohlen um die Stämme und erstickte den Wald in verschleiernder Stille. Ich hoffte auf meine Orientierung und achtete darauf, die Richtung einzuhalten.
Nach einigen Minuten Marsch schälten sich zwischen den Bäumen plötzlich mehrere übermannshohe Schemen aus dem Dunst. Ein paar weitere Schritte, und ich sah mich von ihnen umzingelt. Doch sie bewegten sich nicht. Erst nach einem kurzen Augenblick der schaurigen Verwirrung erkannte ich, dass ich im Inneren eines Steinkreises stand.
Ich wusste, dass vorzeitliche Kultstätten dieser Art im ganzen Land zu finden waren, doch von dieser hatte ich noch nie etwas gehört oder gelesen. Konnte es sein, dass diese Menhire, unter den dichten Baumkronen verborgen, noch nie den Blick eines Fachmannes auf sich gezogen hatten? Wer außer dem Vorbesitzer des Bolton-Werkes und nun mir mochte diesen Ort überhaupt kennen? Mir krampfte sich der Magen zusammen, als mir der Gedanke kam, kaum eines Menschen Fuß könnte diese Anlage seit drei-, vier- oder gar fünftausend Jahren betreten haben – seit dem Tag, an dem sie von den sternenkundigen Priestern der Vorzeit verlassen worden war, deren Urväter sie auch errichtet hatten.
Ich trat näher an einen der großen, aufrechten Monolithen heran. Er überragte mich um fast einen halben Meter, maß in der Breite eine gute Armlänge und war etwa 40 Zentimeter tief. Die zum Zentrum weisende Seite war geebnet worden. Ähnlich wie dieser waren auch alle anderen Steine geformt – ich zählte insgesamt zwölf –, abgesehen von einzelnen Exemplaren, bei denen Ecken oder größere Stücke abgebrochen waren. Ehrfürchtig legte ich meine Handfläche auf den rauen, von blassgelben und türkisgrauen Flechten überwucherten Stein vor mir. Dabei meinte ich zu ertasten, dass es eine gewisse, kaum noch erkennbare Gravur in der geraden Fläche gab, ganz verwaschen von der Kraft des Windes und des Regens ungezählter Jahrhunderte. Ich strengte meine Augen an, kratzte hier und da etwas Moos ab und fuhr die flachen Rillen mit meinen Fingern nach, bis ich begriff, dass sie ein komplexes Muster in Kreisform bildeten – und, bei allen Göttern, ich kannte dieses Muster!
Wie vom Schlag getroffen schreckte ich zurück, als sich mir unversehens die Erinnerung an einen Traum aufdrängte, den ich erst vor wenigen Tagen gehabt hatte. Es war der letzte gewesen, der mich einen Kornkreis hatte schaffen lassen; und das Symbol, das ich nun auf diesem uralten Stein erkannte, glich in jedem Detail dem Piktogramm, das ich am Morgen danach in einem der Felder entdeckt hatte.
Gelähmt vor Schreck und Verwirrung starrte ich lange Sekunden auf die Ritzzeichnung. Verzerrte Bilder schossen mir durch den Kopf und es begannen Zweifel an mir zu nagen, ob ich mich tatsächlich tief in den Wäldern inmitten eines urzeitlichen Steinkreises befand oder noch immer bloß träumte; doch ich kam nicht dazu, meine Gedanken zu ordnen, denn nach wenigen Augenblicken übermannte mich eine schreckliche, fast schmerzhafte Schwere, die mich zu Boden zwang und reglos liegen ließ. Noch ehe ich versuchen konnte, wieder Herr über alle Sinne zu werden, entschwand mein Geist in die Leere und ich wurde in Schwärze gehüllt.
Als ich die Augen öffnete, hatte sich der Nebel verzogen und die Sonne stand hoch am Himmel. Ich fühlte mich, als wäre ich aus einem langen, äußerst bizarren und lebhaften Traum erwacht, ohne mich daran erinnern zu können. Sonderbar berührt stand ich auf und blickte um mich. Die Luft war klar, die Blätter der Bäume raschelten im sanften Wind und die Vögel sangen in den Kronen, doch irgendetwas war anders, als es sein sollte – das spürte ich mit jeder Bewegung, mit jedem Atemzug und mit jedem Schritt, den ich tat. Ich sah auf die Uhr und stellte fest, dass ich gut zwei Stunden geschlafen hatte. Stumm, grau und mächtig umringten mich die zwölf Monolithen und richteten ihre verwitterten Gravuren auf mich. Dieser Ort war mir zutiefst unheimlich und mich verlangte danach, ihn schnellstmöglich zu verlassen. In welche Richtung ging es zurück zum Waldweg? Ich versuchte, mich zu besinnen und erkannte schließlich eine Baumgabelung, die ich beim Betreten des Kreises flüchtig bemerkt hatte; dorthin wandte ich mich und stapfte zurück, bis ich auf den Weg stieß und schließlich die Kreuzung erreichte, an der ich mein Fahrrad abgestellt hatte. Doch es war verschwunden.
Ich hätte erbost sein müssen, doch ich war nicht in der Stimmung dazu. Es war mir ganz gleichgültig und ich fühlte mich immer seltsamer. Bald vergaß ich, in welche Richtung ich gehen musste, und wanderte lange einfach ganz ziellos durch den Wald. Irgendwann bemerkte ich, dass ich weder Hunger noch Durst verspürte und auch noch keine Spur an Kraft verloren hatte, obwohl ich nun schon seit geraumer Zeit über Stock und Stein gegangen war, ohne Orientierung und ohne jedes Ziel – und ohne jegliches Zeitgefühl. Gelegentliche Blicke auf meine Armbanduhr riefen nichts als weitere Verwirrung hervor, denn manchmal schienen die Zeiger zu stehen und manchmal zu rasen; noch nicht einmal am Stand der Sonne hätte ich die ungefähre Tageszeit abschätzen können; es war mir einfach unmöglich, den Einfallswinkel des Lichts zu bestimmen, so absonderlich verändert war mein Selbstempfinden und so durcheinander mein Geist. Mittlerweile war mir, als wäre meine ganze Umwelt seit meinem Erwachen im Innern des Steinkreises um ein kleines Stück verrückt worden, ganz so, als wäre ich selbst plötzlich wie ein Misston in der sonst so harmonischen Musik des Universums, wie ein Verlorener in einer Welt, die zugleich vertraut und völlig unbekannt war. Anders kann ich es kaum beschreiben.
Wie ich vor mich hin wankte und geistesabwesend sann, war mir plötzlich, als hörte ich jemanden meinen Namen rufen. Ich folgte der Stimme, die von weiter her durch den Wald drang, als sich andere zu ihr gesellten, die bald im Durcheinander kaum mehr zu verstehen waren, und dann erblickte ich zwischen den Bäumen einen Trupp von vielleicht zwei Dutzend Männern, die sich durch das Unterholz näherten. Viele von ihnen suchten den kniehoch überwucherten Boden nach irgendetwas ab, und als sie dann erneut meinen Namen riefen, wurde mir bewusst, dass ihre Suche mir galt. Erschreckend überkam es mich: Himmel, wie lange hatte ich inmitten der alten Steine gelegen, dass man mich schon vermisste? Waren es keine zwei Stunden, sondern womöglich mehrere Tage gewesen, und was war in dieser Zeit mit mir geschehen? Blankes Entsetzen schnürte mir die Kehle zu!
Ich blieb stehen und begann zu winken, dann zu rufen. Gerade teilten sich die Suchenden fächerförmig auf, kaum noch zwanzig Schritt von mir entfernt. Einige gingen links an mir vorüber, andere rechts, wieder andere kamen direkt auf mich zu – nun mussten sie mich doch sehen! Doch niemand nahm Notiz von mir. Ich riss die Arme in die Luft und rief immer und immer wieder, ohne jede Aufmerksamkeit zu erlangen! Aufgebracht sprang ich einem von ihnen, der nur wenige Meter neben mir mit suchendem Blick durch das Gestrüpp stieg, in den Weg und schrie ihm ins Gesicht, aber er – und ich sank in endloser Verzweiflung zu Boden, als er es tat – verzog keine Miene und schob mich im Gehen beiseite, ohne mich oder die Berührung auch nur im Geringsten wahrzunehmen.
Ich rief ihnen noch lange nach und versuchte, ihnen zu folgen, doch mir verschwamm die Sicht. Im Wald setzte eine Veränderung ein, für die es mir sehr schwer fällt, eine bildliche Beschreibung zu finden. Die Komplexität der Dinge übersteigt mein Erinnerungsvermögen, doch ich glaube, dass ich für diesen Umstand wohl dankbar sein sollte. Mit einem Mal nämlich wandelte sich alles um mich herum in wogenden, obszönen Impulsen und nahm kaum beschreibbare Formen an. Der Wald wirkte bald wie eine gänzlich fremdartige, bizarre Szenerie, wie man sie auf Erden niemals antrifft; was ich sah, kann ich nur als titanische Tunnel und Säle unbegreiflichster Architektur beschreiben, deren verstörend verzierte Deckengewölbe über mir das Licht halb brachen, halb verschluckten und mich in völliger Hilflosigkeit isolierten. Und wie die drogengenährten Phantasien eines Wahnsinnigen prangten, glühten und gleißten überall, wohin ich mich auch drehte, diese verdammenswürdigen Zeichen!
Und als ich den letzten Mann aus dem Blickfeld verloren hatte – dort, zwischen den basaltenen Säulen zyklopischer Galerien, die gerade noch Baumstämme gewesen waren – tauchten nicht weit von mir die Schatten verstörend formloser Gestalten auf, die sich grässlich wanden und mir ihren unbestimmbaren Pesthauch ins Gesicht bliesen. Und durch eine Öffnung, die weit über mir einen Blick in den Himmel zuließ, erkannte mein gepeinigter Verstand vor dem Hintergrund unendlicher, schwarzer Leere eine Vielzahl zitternder Augäpfel, ein jeder so groß wie ein Mond und triefend vor grässlichen Sekreten! Krank vor Furcht und Entsetzen schloss ich die Lider vor dem Irrsinn und stolperte blind schreiend umher, bis mich grässliche Krämpfe schüttelten. Wie im Fieber brach ich zusammen und versank in gnädiger Bewusstlosigkeit.
Ich kann unmöglich sagen, wie lange mich die traumlose Schwärze umfing, doch als ich erwachte, dämmerte der Abend und ich fühlte mich schrecklich. Bäuchlings lag ich im Dornengebüsch, die Hände zerschunden und das Gesicht starr vor Schmutz und geronnenem Blut, doch ich spürte unmittelbar, dass die Welt um mich herum wieder die alte war. Keine Spur war von der kosmischen Befremdlichkeit geblieben, die Bäume waren nichts als Bäume und ihre Kronen keine Bögen aus feuchtem, behauenem Stein – und unerträglich nagten Hunger und Durst an mir. Doch die Erinnerung an die rätselhafte Wanderung war klar und deutlich.
Unter starken Schmerzen und mit einem Gefühl, das mich an die Nachwirkung exzessiven Alkoholgenusses erinnerte, erhob ich mich ächzend und sah mich um. Die Brombeerbüsche, in denen ich erwacht war, waren in einem großen Radius zu Boden getrampelt und gedrückt worden; ganz so, als hätte ich in meinem Rausch den unbeholfenen Versuch angestellt, ein Kreismuster daraus zu schaffen.
Langsam wankte ich in Richtung eines Baches, den ich in der Nähe rauschen hörte, und folgte seinem Lauf, bis ich eine einspurige Schotterstraße erreichte. Nach wie vor wusste ich nicht, wo ich mich befand, und humpelte die Straße hinab. In meiner zerrissenen Kleidung steckten unzählige Dornen, meine Arme und Hände waren über und über mit blutigen, aufgequollenen Rissen übersät und ich konnte mich wohl glücklich schätzen, dass ich bei meinem wahnwitzigen Kriechen durch das tückische Geäst nicht das Augenlicht verloren hatte.
Nach vielleicht zwanzig Minuten erreichte ich ein Dorf, dessen Namen ich noch nie gehört hatte. Erschöpft betrat ich eine kleine Tankstelle. Ich muss einen grausigen Anblick geboten haben, denn das Gesicht des Tankwarts gefror zu einer erschrockenen Leichenmaske, als er mich sah. Entgegen meiner Erwartung fragte er mich nicht danach, was mich so zugerichtet hatte, sondern bot mir nur an, mich zu waschen. Ich lehnte ab, bat stattdessen um Wasser und Essen und wurde unverzüglich bedient. Hastig schlang ich die Mahlzeit herunter und bat den jungen Mann im Anschluss, mir auf einer Karte zu zeigen, wo ich mich befand. Als er es tat, durchfuhr mich ein tiefer Schreck, und ich musste mein Gesicht in den Händen vergraben, um meine grenzenlose Verzweiflung nicht ungestüm herausbrechen zu lassen, denn ich befand mich in einem Landstrich, der mehr als acht Tage Fußmarsch von meinem Haus entfernt lag! Entferne dich dann nicht zu weit, sah ich in diesem Augenblick die kryptische Warnung auf dem alten Papier vor mir und verstand schlagartig, was es damit auf sich hatte.
Ich konnte nicht darüber nachdenken, was diese unaussprechlichen Zeichen aus mir, meinem Geist und meinem Leben gemacht hatten, worin der verstörende Zusammenhang zwischen allem Erlebten bestand oder warum mich dieses Schicksal überhaupt ereilt hatte. Ich sah mich einzig dazu in der Lage, die Tankstelle wieder zu verlassen, mich an den Straßenrand zu stellen und auf einen Wagen zu hoffen, der mich in die Nähe meines Hauses bringen könnte. Doch so weit kam es nicht, denn der Tankwart hatte in seiner Sorge um meinen Zustand offenbar schon einen Krankendienst gerufen, der einige Zeit später eintraf und mich aufnahm.
Die Sanitäter untersuchten im Wagen meine Wunden und stellten fest, dass sie nicht lebensgefährlich waren. Um aber Entzündungen vorzubeugen und mich von der Dehydrierung zu kurieren, wollten sie mich für eine oder zwei Nächte ins Krankenhaus bringen. Als wir dort eintrafen, schien eine gewisse Aufregung unter dem Personal loszubrechen, und erst der zuständige Arzt teilte mir den Grund dafür mit. Wie er mir angesichts meiner Ungläubigkeit schwor, hatte ich nicht weniger als zwei Wochen als vermisst gegolten – und wie lange ich womöglich schon vor der entsprechenden Meldung aus meinem Haus verschwunden war, wusste niemand. Für mich war das alles völlig unbegreiflich, denn meine Armbanduhr zeigte noch immer das Datum an, an dem ich den Steinkreis betreten hatte! Ich hielt es nicht für ratsam, jemandem von meiner Wahrnehmung der Zwischenzeit zu erzählen. Stattdessen behauptete ich einfach, mich bei einer Wanderung hoffnungslos im Wald verirrt zu haben.
Am übernächsten Tag wurde ich entlassen und man rief mir ein Taxi, das mich nach Hause brachte. Wie sich herausstellte, hatte mein Vater mich als vermisst gemeldet, nachdem er über eine Woche vergeblich versucht hatte, mich telefonisch zu erreichen. Als er schließlich persönlich nach dem Rechten gesehen hatte, hatte er mein Haus mit unverschlossener Tür aufgefunden, so wie ich es sonst nur bei kürzerer Abwesenheit hinterließ. Die Nachricht von meiner Rückkehr musste ihn schon erreicht haben, denn den ganzen Nachmittag klingelte nun im Halbstundentakt mein Telefon. Ich hob nie ab; auch nicht an den folgenden Tagen. Mein körperlicher Zustand war zwar auf dem Weg der Besserung, doch meine Erlebnisse und Trugbilder nach dem traumlosen Schlaf im Steinkreis hatten sich wie Messerschnitte tief in meinen Geist gegraben.
Bald träume ich wieder oft, wie ein Vogel übers Land zu fliegen, bis ich die Sonne sehen konnte, nun jedoch mit einer ganz ungeahnt gesteigerten Intensität. Die Träume waren so realistisch, dass ich manchmal das Gefühl hatte, der Flugrichtung folgend nach vorne aus dem Bett geschleudert zu werden, wenn ich plötzlich erwachte. Und fast jedes Mal hatte ich auch wieder beim ersten Augenaufschlag den Eindruck, als hätte mich im Schlaf ein fast kosmisches Glühen eingehüllt.
Ich begann, meine früheren Gewohnheiten wieder aufleben zu lassen und starrte über Tage und Nächte sinnentrückt auf das Kornbild, das ich an die Wandschräge in meiner Schlafkammer gezeichnet hatte. Mir fehlen schlicht die richtigen Worte, um nachvollziehbar zu beschreiben, was zu dieser Zeit in mir vorging. Meine Gedanken hatten sich in surrealen Erinnerungen verloren und führten mich nur noch im Kreis herum.
Die verflochtenen Welten!
Die Schnittstelle!
Der kriechende Übergang!
Die zeitlose Wanderung!
Die beweglichen Tunnel und das farblose Gewölbe!
Die zerflossenen Augen!
Die amorphen Schatten…
Ich hatte das deutliche Gefühl, dass ein wichtiger Teil von mir nicht ins Diesseits zurückgekehrt war, sondern noch immer in der unfasslichen Zwischenwelt unter den Schatten wandelte. Und wenn ich lange ins Zentrum des Bildes blickte, dann spürte ich eine Verbindung zu jenem verlorenen Teil. Ich fühlte mich vollständiger und ertrug es bald nicht mehr, mich außerhalb meiner Schlafkammer aufzuhalten. Ohne Lebenszweck und völlig in mich versunken fristete ich mein Dasein nun unentwegt auf meinem Bett. Die Trance schützte mich jedoch nicht vor den Signalen meines Körpers, und ich litt in höchstem Maße Schmerz, Hunger und Durst, ohne etwas dagegen tun zu können. Mein Zustand war bald scheußlicher als bei meiner Einlieferung ins Krankenhaus.
Viele Tage vergingen, bis mir langsam und schleichend die Erkenntnis ins Bewusstsein sickerte, dass ich es auch hier nicht länger ertragen konnte. Das bloße Gefühl der Ganzheit, was mir das Bildnis in geringem Maße geben konnte, genügte mir nicht mehr! Ich sehnte mich danach, endlich eine echte Verbindung mit dem fehlenden Teil einzugehen, und zu diesem Zweck musste ich selbst auf seine Seite wechseln – denn sogar in den unbegreiflichen Gewölben war ich freier als hier!
So kam also die Nacht, in der viele Anwohner des Landstrichs bei der Polizei meldeten, sie hätten eine gleißende Lichtkugel am Nachthimmel gesehen, die in mein Haus einschlug; die Nacht, in der die örtliche Feuerwehr zu meinem Haus gerufen wurde, weil der Dachstuhl in Flammen stand und teilweise eingestürzt war; und die Nacht, in der die Männer nach mir suchten und das, was sie fanden, als Hinweis auf ein Gewaltverbrechen deuteten.
Doch ich will selbst erzählen, was ich in dieser Nacht sah.
Ich kann es kaum noch einen Traum nennen, was ich erlebte. Gerade war ich eingeschlafen, da fand ich mich schon im nächtlichen Wald wieder, umringt von den namenlosen Monolithen des vergessenen Kultplatzes. Das schon vertraute Gefühl der Körperlosigkeit mischte sich überdeutlich mit dem Empfinden, eine gewaltige Hitze auszustrahlen, die die Äste und Blätter in den Baumkronen zum Zittern brachte. Dann erhob ich mich in die Luft, schoss pfeilschnell den tief hängenden Wolken entgegen und überflog, von grenzenloser Energie erfüllt – oder daraus bestehend! – die tiefschwarzen Hügel und Felder, bis ich die Silhouette meines Hauses in der Ferne erkannte. Da wusste ich, wohin es mich trieb!
Wie ein brennender Meteorit jagte ich über den Himmel, durchschnitt die Luft mit meinem feurigen Schweif, durchschlug das Dach meiner Kammer und zerrte meinen schlafenden Körper durch das überirdisch glühende Portal an der Wand, wo die Sphären sich berührten!
Ich verlor etwas, als ich hinüberging, doch hier bin ich darauf nicht angewiesen. Es ist möglich, seine stoffliche Hülle durch eine Schnittstelle zu bringen, aber hier ist sie nichts weiter als eine Last! Ich habe andere Wege gefunden, zu existieren, gänzlich freie und grenzenlose Wege. Es gibt nicht nur die grässliche Ebene der wankenden Schatten und morbiden Gewölbe; sie ist nicht bedeutsamer als ein einziges Molekül in einem unermesslichen Ozean. Ich durchquere die Unendlichkeit, besuche Orte jenseits jeder menschlichen Vorstellung und werde Zeuge der fremdartigsten Geschehnisse. Ich bin nun ein Wanderer zwischen den Welten, und nach einer Heimkehr strebe ich nicht.
Nachtrag des Herausgebers:
Das vorliegende Manuskript wurde mir von meinem guten Freund Nathaniel Whitby vorgelegt, der hartnäckig auf seiner Behauptung besteht, er habe es im Schlaf verfasst.
Nachdem es restauriert worden war, hatte Whitby das Haus gekauft, in dem der Verschollene bis zu seinem vermuteten Ableben gewohnt hatte. Die im Text beschriebene Zeichnung an einer Wandschräge der Schlafkammer war übermalt worden. Whitby erklärte mir, er sei eines Morgens an seinem Schreibtisch sitzend aufgewacht und habe vor sich einen Stoß eng beschriebenen Papiers gefunden. Die Handschrift sei zweifellos seine eigene, doch er hätte keine Erinnerung an die Arbeit.
Die Feuerwehrmänner, die in der Nacht des Brandes das Haus durchsuchten, machten in der Schlafkammer eine äußerst beunruhigende Entdeckung. Auf dem Boden vor der Wandschräge, die das sonderbare, fast noch unversehrte Bild trug, lag der leicht verkohlte und sauber abgetrennte Unterschenkel eines Mannes, der anhand von Blutuntersuchungen zweifelsfrei als der des Vermissten identifiziert werden konnte. Die Schnittfläche durch Haut, Fleisch und Knochen war derart glatt, dass sich die Polizei keine einleuchtende Vorstellung von der Tatwaffe machen konnte. Inmitten des Wandbildes, genau über dem grausigen Fund, entdeckte man einen ovalen Blutfleck, der in Größe und Form zu dem Beinstumpf passte. Der restliche Körper wurde bis heute nicht gefunden.