Tiana steht an einem Punkt ihres Lebens von dem es vielleicht kein zurück mehr gibt und erinnert sich noch einmal, wie es soweit kommen konnte.
Sie stand auf der Brücke, wie lange schon, das wusste sie nicht. Die grauen Wolken, die die Stadt seit Tagen mit Regen einhüllten, gaben ihre Stimmung so genau wieder, als wären sie von ihr geschaffen worden. Unter ihr der dröhnende Verkehr der Autobahn, der wie Musik in ihren Ohren klang. Wie oft schon war sie auf das Geländer geklettert, bereit dazu sich auf die Fahrbahn zu stürzen. Doch immer gab es etwas das sie zurück hielt, etwas das ihr Mut machte, weiterzuleben. Das Leben weiterzuleben, das ihr bisher nur Leid und Schmerz gebracht hatte. Schon früh musste das hübsche Mädchen mit den langen, braunen Haaren erfahren, was leid ist. Und während sie so dastand, die Augen auf den grauen Baldachin aus Wolken gerichtet, ließ sie ihr bisheriges Leben wie einen Film vor ihren Augen vorbeiziehen.
 Es war ein warmer Frühsommertag, einer der ersten warmen Tage des Jahres, und alle Schüler der zweiten Klasse freuten sich auf einen spaßigen Tag im Freibad. Als wollten sie den Uhrzeiger dazu bringen schneller zu laufen, starrten alle auf die große Uhr an der Außenwand der Schule, die genau im Blickfeld des Fensters lag. Als es klingelte, schien es so als hätten sich die Kinder innerhalb von Sekunden in eine Horde wilder Tiere verwandelt. Tiana, ein kleines Mädchen von 6 Jahren, die jüngste der Klasse, wollte es ihren Klassenkameraden gleichtun und stürmte die Treppe des Gebäudes hinunter. Doch kaum hatte sie das Schulgebäude verlassen, wurde sie von der Rektorin zurückgerufen und in das Büro gebracht. Tiana die sich sicher war nichts angestellt zu haben, fragte was denn los wäre, doch die Rektorin sagte nichts, sondern bot Tiana im Büro einen Stuhl an, und setzte sich schließlich selber an ihren Schreibtisch. An der anderen Seite des Tisches, an dem Tiana Platz genommen hatte, saßen zwei Männer in Polizeiuniformen und begannen mit dem  kleine Mädchen zu reden, das angesichts der Uniform eingeschüchtert war. „Nun, Tiana, wir sind hier, weil wir eine schlimme Nachricht für dich haben. Euer Haus hat gebrannt, deine Mutter und dein Bruder sind tot.“ Die Art, dem kleinen Mädchen diese Nachricht beizubringen, war nicht schonend, und so brach Tiana in Tränen aus, schrie, dass dies nicht wahr sein könnte, und rannte, ohne ihre Tasche mitzunehmen, aus dem Büro und auf die Straße. Die Polizisten folgten ihr, doch Tiana war nirgends zu finden. Sie war in eine kleine Gasse zwischen den Häusern gerannt und hatte sich dort in einem großen Müllcontainer versteckt. Wo sie war, das war ihr im Moment total egal, sie wollte nur weg von diesen Männern, die solche Lügen erzählten. Ihre Mutter war doch heute Morgen noch gesund gewesen, sie konnte nicht tot sein, dessen war Tiana sich sicher.
Doch die Polizisten hatten die Wahrheit gesagt. Ein Kurzschluss hatte einen verheerenden Brand verursacht, und Tiana Mutter sowie ihr Bruder waren in dem Haus eingeschlossen und verbrannten. Einen Vater den gab es in Tianas Leben nicht, sie kannte ihn nicht. Ihr Bruder, 16 Jahre älter als sie, hatte ihr oft Fotos gezeigt und gesagt: „Hier Tiana, das ist unser Vater“. Doch für Tiana blieb es ein Fremder. Er hatte die Familie verlassen, noch bevor sie geboren wurde. Bevor Tiana Freunde fand, war es für sie normal, nur eine Mutter zu haben. Doch als sie die Eltern ihrer Freunde kennen lernte, fragte sie sich immer öfter, warum alle einen Vater haben, nur sie nicht. Die Mutter hatte versucht es ihr so einfach wie möglich zu erklären, und sie gab sich damit zufrieden. Für ihre 6 Jahre war Tiana ein ausgesprochen kluges Mädchen, und sie dachte viel über ihr Leben nach, nur mit dem Tod hatte sie sich nicht auseinandergesetzt und so wollte, oder konnte sie vielleicht auch nicht begreifen, das ihre Familie tot war. Sie hoffte noch immer, dass die Polizisten gelogen hatten, dass ihre Mutter sie gleich abholen würde, und dass sie auch in den nächsten Jahren ein normales Leben hätte. Sie saß nun also in dem Container und weinte bitterliche Tränen. Tränen der Verzweiflung, des Schmerzes, der Wut, des Hasses. Lange weinte sie und bedeckte den Müll zu ihren Füßen mit ihren Tränen. Wie lange sie dort saß, konnte sie später nicht mehr sagen. Tiana erlebte diese Momente wie in Trance. Als sich der Container öffnete und einer der Polizisten sie heraushob, fühlte sie sich wie in einer anderen Welt, in der ihr nichts wehtun konnte. Doch all zu rasch wurde sie wieder auf den Boden der unvermeidbaren Tatschen zurückgeholt. Sie wurde zunächst zu einer Frau gebracht, die versuchte das kleine, in Tränen aufgelöste Mädchen zu beruhigen und ihr die Umstände klar zu machen. Auch diese Frau, eine Mitarbeiterin des örtlichen Jugendamtes, wusste noch nicht was nun mit Tiana geschehen sollte. Einen eingetragenen Vater, so wusste sie gab es zwar in der Geburtsurkunde, von der eine Kopie in einem Bankschließfach existierte, doch dieser hatte sich nach Aussage der Nachbarn niemals auch nur einmal bei der Familie sehen lassen, seit Tiana auf der Welt war. Und wo er hingezogen war nachdem er seine Familie im Stich gelassen hatte, das wusste niemand aus dem Umfeld des Mädchens. Auch Verwandte konnten nicht ausfindig gemacht werden, denn die Mutter war ein Einzelkind gewesen. Deren Eltern waren schon vor der Geburt des älteren Bruders gestorben und so gab es keine Anlaufstelle für das Mädchen. Die Frau telefonierte mit dem drei Kilometer entfernten Kinderheim: „Einen schönen Guten Tag. Hier ist Frau Brösler vom Jugendamt. Gibt es zurzeit in ihrer Einrichtung den Platz für ein kleines Mädchen. Ja ich warte.“ Die Minuten vergingen, und ohne dass Frau Brösler es merkte, lauschte Tiana dem Gespräch bis ins kleinste Detail. „Ja ich bin noch dran, wie es ist ein Platz frei, das ist ja wunderbar. Ja wir kommen sofort. Vielen Dank bis gleich.“
Nun ging alles schnell, Tiana wurde in ein Auto gesetzt und los ging die Fahrt ins Ungewisse. Tiana dachte nach, es stimmte wohl doch, ihre Mutter und ihren Bruder würde sie nie wieder sehen. Sie waren wirklich tot. Und was war das für eine Einrichtung. Auch wenn Tiana für ihr Alter ungewöhnlich wissberig und intiligent war, konnte sie nicht ahnen dass die nächsten Jahre für sie ein Kampf um Anerkennung und Dazugehörigkeit werden würden. Sie wusste nicht was sie erwartete. Mit dieser Autofahrt begann für sie die jahrelange Hölle, die sie später als ihr Leben bezeichnen wird.
Die Autofahrt hatte nicht lange gedauert und so heilt das Auto schon bald vor einem großen Gebäude das von einem weitläufigen Park umgeben war. In dem Park spielten gerade ein paar Kinder fangen, doch als Frau Brösler mit Tiana den Weg zum Haus hochgingen, hielten sie in ihrem Spiel inne und beobachteten die Besucher neugierig. Bald kamen beide an der großen Eingangstür an, welche offen stand. An einer Tür  neben dem Eingang klopften sie an und wurden auch so gleich hereingebeten. Ein älterer Mann mit bereits weißen Haaren und einem Ziegenbart begrüßte zuerst Frau Brösler, und beugte sich dann zu der kleinen Tiana hinunter. „Nun, Tiana, Willkommen bei uns im Kinderheim Rosenmühle. Ich bin sicher dir wird es hier gefallen. Gleich kommt jemand und zeigt dir dein Zimmer, während ich alles andere mit Frau Brösler berede. Gleich darauf klopfte es erneut und eine verkniffen wirkende Frau betrat das Zimmer. „Ah, Frau Brechner, seien sie doch bitte so nett und zeigen unserem Neuzugang die Räumlichkeiten. Und gehen sie behutsam mit ihr um, sie hat so eben ihre Familie verloren. Die Frau nickte nur und wies Tiana barsch an ihr zu folge. Als beide wieder auf dem Flur waren fragte die Frau herrisch: „Wie ist dein Name“? Tiana war eingeschüchtert und flüsterte ihren Namen „Tiana Selchert“ mehr, als das sie ihn sprach, und musste ihr dreimal wiederholen, was der Frau nicht gerade zu gefallen schien, denn die Züge um ihren Mund wurden noch eine Spur schärfer, als sie es ohnehin schon waren. „Nun, Tiana, dann hör mal zu, glaube nicht das du hier eine Extrawurst kriegst, viele Kinder sind hier ohne Eltern und brauchen kein Wischi- Waschi Gerede von Liebe. Hier kümmert sich jeder um sich, wir sind nur für das Essen, die Kleidung und das Haus zuständig. Der Professor, ist hier zwar der Leiter, aber fast nie zugegen. Und wir sind nicht so verweichlicht wie er. Keine Schmeicheleien, keine falsche Zärtlichkeit, nur so wird ein Kind erwachsen. So und jetzt gehst du die Treppe hoch, Raum 6 ist dein Schlafraum, freie Betten gibt es genug. Ich habe noch zu tun. Und mach bloß keinen Lärm hier drin. Willst du spielen geh nach draußen. Und jetzt geh.“ Tiana war eingeschüchtert und nicht mutig genug um etwas zu sagen und so stieg sie alleine die Treppe hoch zu einem langen Gang mit mehreren Türen. Der Gang war nur schwach beleuchtet und schüchterte so das kleine Mädchen noch mehr ein. Sie suchte nach der Nummer sechs und betrat den Raum. Es war ein dunkler Raum mit acht Betten, von denen zwei offentsichtlich nicht belegt waren. Sie warf sich auf eines der leeren Betten und fing an bitterlich zu weinen. Vor ihren Augen zogen Bilder ihrer Mutter und ihres Bruders vorbei. Unter den ganzen Tränen und allen Erinnerungen an ihre Familie schlief sie ein.
Nachdem sie lange geschlafen hatte weckte eine laute Glocke sie aus ihrem von Träumen durchzogenen Schlaf. Der Raum war nun voller Kinder, die aber nicht auf Tiana achteten. Sie saß auf dem Bett und beobachtete die anderen, bis sie nun endlich jemand ansprach: "Ey, du, bist du ne Neue". "Ja, ich bin Tiana". "Was ist denn das für ein Name, das hört sich ja total nach Müll an. Hör zu, Neue, du bist hier nichts weiter als ein weiteres Rotzgör, also geh uns nicht auf die Nerven. Du bist die jüngste hier im Schlafraum. Also tu bloß was wir sagen sonst ergeht es dir hier ganz böse". Diese Worte kamen von einem älteren Mädchen, sie war mindestens 14. Tiana nickte gehorsam und folgte der Menge als diese gemeinsam die Treppe hinunterliefen zum großen Speisesaal. Dort saß Tiana inmitten von älteren Mädchen und wurde dort so eingedrückt das sie nicht einmal die Bewegungsfreiheit hatte um vernünftig zu Essen. Doch trotzdem verschwand ihr Essen schneller als das sie es aß, denn von links und rechts griffen immer wieder welche auf ihren Teller. Protestieren, das traute sie sich nicht nach der Ansprache im Schlafraum. Einen Nachschlag gab es nur wenn der Professor anwesend war, was dieses Mal nicht der Fall war. Und so stand Tiana fast hungriger vom Tisch auf als sie sich hingesetzt hatte. Auch bei der Frau Brechner wollte sie nichts sagen, denn es hieß ja so solle nicht nerven. Alleine stieg sie wieder in den Schlafraum hoch, wo ein Paket auf ihrem Bett lag. Dabei lag ein Zettel. "Liebe Tiana, ich hoffe diese Kleider gefallen dir, etwas anderes ließ sich in der Schnelle nicht auftreiben. Ich hoffe dir wird es unter all den anderen Kindern gefallen. Frau Brösler."
Tiana legte den Brief in das Fach des kleinen Nachtischs der neben ihrem Bett stand und öffnete das Paket. Es enthielt Kleider, Schulsachen und alles das was ein kleines Mädchen zum Leben brauchte und was das Feuer zerstört hatte. Als sie über dem Paket saß begann sie zu weinen und begann sich in ihrem Bett zusammen zu rollen, bis sie nur noch ein kleines Knäuel war. Doch die anderen Mädchen ließen sie in ihrer Trauer nicht in Ruhe. Erbarmungslos trat wieder einmal das 14- jährige Mädchen, die offenbar die Wortführerin des ganzen Schlafsaals war, an ihr Bett und schlug wieder einmal verbal auf die arme, von Kummer geplagte Tiana ein. "Ey du Heulsuse, bist du ein kleines Baby oder was? Glaube bloß nicht das du hier was besonderes bist nur weil du die jüngste bist. Und jetzt steh auf und räume meinen Schrank auf, das muss jede Neue hier machen." Als Tiana sich nicht rührte, wurde sie brutal aus dem Bett gezerrt und bekam einen Tritt in die Seite. "Genau, Angeline, mach das kleine Baby bloß fertig, die soll gleich wissen wie der Hase hier läuft." Angeline lachte: "Na klar mach ich das, die wird bald freiwillig alles das machen was wir sagen. Leute mit aufräumen ist es vorbei wir haben nun eine Putze. Und das machst du doch sicher sehr gern, Kleine. Oder?" Tiana nickte nur, traute sich aber nicht etwas zu sagen und machte sich sogleich daran, den Schrank von Angeline aufzuräumen, der wirklich ein einziges Chaos war. Als sie fertig war wurde sich schon zum nächsten Schrank gezerrt und musste auch diesen in Ordnung bringen. Angeline stand während der ganzen Zeit hinter ihr und ließ sie nicht aus den Augen. Ingesamt musste Tiana an diesem Tag vier Schränke aufräumen. Sie gehörten der Clique rund um Angeline. Diese bestand außerdem noch aus Evelyn, die genauso wie ihre Anführerin 14 war, und den beiden 13-jährigen Mädchen Alice und Nora. Als sie mit ihren Schränken zufrieden waren konnte sie sich endlich ihrem eigenen widmen, wurde aber bis zur Schlafenszeit nicht damit fertig. Als Frau Brechner hineinkam um zu kontrollieren, bekam Tiana für den nächsten Tag gleich eine Strafe, da ihr Schrank als einziger nicht ordentlich eingeräumt war.Â
Als Tiana nun nach einer großen Standpauke endlich im Bett lag, zogen die Ereignisse des Tages wie ein Film an ihrem Auge vorbei. Konnte es wirklich sein das sie heute morgen erst mit einem Kuss von ihrer Mutter verabschiedet wurde. Hatte sie nicht heute morgen erst aufmunternde Worte von ihrem großen Bruder bekommen, die sich darum drehten, das sie sich in der Schule anstrengen solle. Hatte er ihr nicht heute erst das Versprechen gegeben, das sie die nächsten Ferien in seiner Studentenbude in Berlin verbringen könnte. War das wirklich noch nicht einmal 24 Stunden her. Stumm weinte sie in ihr Kissen. Laut zu weinen traute sie sich nicht, sie hatte viel zu viel Angst vor Angeline und ihrer Gruppe. Sie wusste nicht wie es weitergehen soll, sollte das nun ihr Leben sein bis sie achtzehn war. Noch lange dachte sie nach, und der Schlaf kam erst, als die ersten Vögel schon wieder ihr fröhliches Lied in den Bäumen vor den Fenstern anstimmten, das fröhliche Lied, das so wenig zu ihrer Stimmung passte.
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Ein sonniger Morgen folgte auf den Tag, der Tianas Leben aus den Fugen warf. Und eine weitere unbarmherzige Begrüßung. Kaum hatte sich Tiana einmal geregt, bekam sie auch schon den nächsten Befehl von Angeline. „Ey, du Heulsuse, mach mein Bett, sonst habe ich keine Zeit mehr für mein Make-up“. Aus Angst vor weiteren Tritten was Tiana gehorsam und brachte das Bett in Ordnung. Es war ihr ein Rätsel wie sie es trotzdem schaffte, auch ihre eigenen Sachen noch rechtzeitig in Ordnung zu bekommen, doch sie schaffte es und so trat sie sauber angekleidet und mit einer vernünftigen Frisur in den Speisesaal. Dieser war schon halb geleert, denn die Kinder die auf weiterführende Schulen gingen mussten schon früh raus um die Busverbindung noch zu bekommen. Noch schlechter erging es den Oberstufenschülern. Das nahe Gymnasium besaß keine Oberstufe, so dass sie erst einmal eine Strecke von 30 km zur Schule zurücklegen mussten. Tiana hingegen musste heute noch nicht zur Schule. Sie war nach dem Verlust ihrer Familie für eine Woche beurlaubt worden. Doch dieser Urlaub, der dazu gedacht war das Tiana sich wieder sammeln sollte, wurde doch weniger erholsam als viel mehr eine Art Tortur für das Mädchen. Kaum hatte sie ihr Frühstück beendet wurde sie von Frau Brechner nach vorne gerufen. „Nun Tiana, du hast ja eine Woche frei, glaube aber nicht das du dich auf die faule Haut legen kannst, hier gibt es eine Menge zu tun. Zunächst wirst du dem Gärtner draußen helfen er wird dich anleiten. Danach wirst du in einem Schlafsaal dem Hausmeister helfen ein Bett zu reparieren. Außerdem muss euer Schlafsaal geputzt werden. Putzzeug findest du im Waschraum. Und nun Marsch oder soll ich dir Beine machen. Getragen wirst du hier nicht“. Tiana lief so schnell sie konnte in den Garten, froh einmal aus dem Blickfeld der strengen Heimleiterin entfliehen zu können. Sie fand auch schnell den Gärtner, der in einer Ecke des Gartens die Rose beschnitt. Als er das kleine Mädchen sah, guckte er ein wenig mitleidig: „Um Gottes Willen, ein solches Mädel wie dich schicken sie raus. Nene, du bist zu klein, du kannst nicht helfen, geh nur spielen.“ „Danke aber das geht nicht, ich muss nun gleich dem Hausmeister helfen“. Als Tiana wieder ins Haus rannte, blickte der Gärtner ihr hinterher. In seinen Augen erkannt man Mitleid, denn er kannte die Geschichte der kleinen. Seiner Schwester, eine Kollegin von Frau Brösler, hatte sie ihm erzählt. „Wie schlimm muss das sein“, dachte er „wenn man auf einen Schlag die Menschen verliert die man geliebt hat, und die einen auch geliebt haben.“
Tiana ahnte von den Gedanken des Gärtners nichts, denn sie hatte sich auf dem schnellstens Weg ins Haus gemacht. In dem Schlafraum half sie dem ruppigen, finster dreinblickenden Hausmeister das beschädigte Bett zu reparieren. Als sie dann mit dem reinigen ihres Schlafsaals fertig war, war das Mittagessen bereits beendet. Nun reichte es der Kleinen, sie ging empört zu Frau Brechner und beschwerte sich, doch die reagierte auf die Beschwerden ungehalten: „Sag mal, wer denkst du eigentlich wer du bist, du bist hier der Neuzugang und es ist Tradition das die im Haus helfen müssen. Sei doch froh das dich überhaupt noch jemand aufnimmt, dich Bastard ohne Vater.“ Tiana war geschockt von den Worten und sie spürte wie ein Weinkrampf sich langsam den Körper hinauf arbeitete, Sie fing hemmungsloa an zu weinen und rannte davon, bevor noch eine weitere Bemerkung sie so beleidigen konnte. Sie rannte in ihren Schlafraum und warf sich aufs Bett, wo sie lange in ihr Kissen schluchzte. So viele Kinderheime gab es in der Umgebung, warum hatte sie gerade hier landen müssen. Lange lag sie so stumm auf ihrem Bett, und sie lag auch noch so dort als Angeline das Zimmer betrat: „Ach nein, seht euch das an das Baby ist schon wieder am heulen. Willst du zurück zu deiner Mami, Kleine, ach das habe ich ja ganz vergessen, du hast ja gar keine mehr. Das tut mir aber leid.“ Sie begann zu lachen, während Tiana weiterhin weinte. „Ey jetzt hör mal auf zu flennen, und räum mal lieber meinen Schrank auf“. Tiana dachte der Schrank könne ja noch nicht so schlimm aussehen, denn schließlich hatte sie ihn gerade gestern aufgeräumt, und so ging sie gehorsam zum Schrank, um nicht wieder ein Opfer von der Gewalt der Älteren zu kommen, doch als sie den Schrank öffnete traf sie der Schlag. Er sah fast genauso aus wie vorher, bevor Tiana ihn aufgeräumt hatte. Tiana beeilte sich diesmal noch ein wenig mehr, und schaffte es gerade bis zum Nachmittagsunterricht, in dem den Kindern Benehmen und Anstand lernen sollten. Dieser Unterricht war Pflicht für alle Bewohner des Heims und es wurde streng auf die Anwesenheit geachtet. Diesmal hatte Frau Brechner keinen Grund sich zu beschweren denn Tiana saß pünktlich auf ihrem Platz, doch es dauerte nicht lange bis sie wieder Kritik einstecken musste. Sie sollte einen Tisch decken, doch sie verwechselte recht und links, und schon ging alles von vorne los. Frau Brechner ging auf sie los wie der Teufel: „Sag mal wie alt bist du, 2, ich dachte du gehst zur Schule und bist zu blöd links und rechts zu kennen. Du bist doch echt zu dämlich. Und fang jetzt bloß nicht wieder an zu flennen. Morgen abend will ich von dir fünfhundert mal den Satz haben: Ich darf links und rechts nicht verwechseln“, und jetzt gehst du auf dein Zimmer, das Abendessen ist für dich gestrichen“. Tiana sagte nichts, damit es nicht noch mehr Strafe hagelte, und lief raus.
Doch anstatt in das Zimmer zu gehen, ging sie in den Garten. Der Gärtner, der nun am Baum arbeitete, sah sie und ging auf sie zu: „Sag mal, Mädel, immer wenn ich dich sehe bist du am weinen, was ist denn los mit dir?“ Tiana blieb still, aus Angst vor weiteren Folgen, doch der Gärtner ließ nicht locker: „Hey, Kleine, wie ist dein Name, ich will dir wirklich nur helfen“. „I…I…Ich heiße Tiana“, stotterte sie langsam. „Nun, Tiana, ich bin Max. Du kannst gerne immer mit mir reden wenn du Sorgen hast, ich habe mitbekommen wie sie mit dir umspringen“. „Danke“, flüsterte Tiana, sodass Max sie kaum verstand. Er war mit seinen fast 60 Jahren schließlich nicht mehr der Jüngste. Plötzlich begann Tiana wieder hemmungslos zu schluchzen, sodass der überforderte Gärtner nichts anderes tun konnte als das völlig verstörte Kind in den Arm zu nehmen. Dadurch beruhigte sie sich ein wenig. Gerade als sie aufgehört hatte zu weinen, ging die Eingangstür auf und Frau Brechner betrat den Garten. Sie hatte bemerkt das Tiana sich nicht im Schlafsaal war und hatte sie überall gesucht, ihr letzter Punkt war der Garten. Max bemerkte es und bestreute Tianas Hände mit der Erde sodass sie schmutzig braun wurden. „Max, was macht dieses Mädchen hier, sie sollte in ihren Schlafsaal.“ Frau Brechner was vollkommen ungehalten. „Frau Brechner, dieses Mädchen hat mir sehr geholfen. Ich denke nicht das das ein Grund ist die zu bestrafen“. Um diese Worte zu bestätigen zeigte er ihr Tianas schmutzige Hände. Wie durch ein Wunder gab sich die strenge Erzieherin damit zufrieden. „Nun, anscheinend hast du doch ein bisschen Arbeitswillen. Nun komm, die Köchin hat die ein paar Butterbrote geschmiert. Und ich denke, dass du dir die auch mal verdient hast“. In der Küche angekommen verschlang sie hungrig die Brote. Danach wurde sie ins Bett geschickt. Vorher räumte sie noch ihren Schrank auf, und so verging der Rest des Abends ohne große Probleme von statten. Auch Angeline ließ sie in Ruhe denn diese saß noch an ihren Schulaufgaben während die anderen schon im Bett lagen. Ziemlich kaputt, aber auch glücklich in Max eine Vertrauten gefunden zu haben ging sie zu Bett und schlief auch rasch ein, nicht aber ohne daran zu denken, dass sie bald endlich wieder zur Schule gehen konnte, wo sie ihre Freunde hatte und wo alle sie so nahmen, wie sie war.