Mit beiden Händen hält Janny das Marmeladenglas fest und geht ganz langsam wieder auf seinen Platz in der ersten Reihe zurück. Bei jedem Schritt schwappen ein paar Tropfen Wasser auf den dunklen, schwarzroten Fußboden. Mit zusammengezogenen Brauen beobachtet der Lehrer den kleinen Jungen, der heute seinen ersten Schultag in dieser Klasse hat. Ein bisschen abgerissen sieht der Kleine aus, die schiefen Absätze und die Schnürsenkel zeigen traurige Abnutzungsspuren. Asozial, geht es Herrn Blume durch den Kopf. Kinderreiche Familie. Als ob es nicht schon genug arme Leute in der Gegend gäbe, kommt nun auch noch dieses Pack hier an, sucht sich ein Nest und nimmt anderen weg, was eh schon viel zu knapp ist.
"Setz dich endlich hin und trödel nicht endlos herum. Schau dir den Fußboden an, diese Schweinerei, man merkt gleich, wo du herkommst." Janny zuckt wie unter einem gewaltigen Schlag zusammen und rutscht dann in seine Bank. Glücklich war er heute Morgen aufgewacht, mit so viel Vorfreude auf die neue Schule. Die Mutter hatte extra für diesen besonderen Tag das Pausenbrot in rot glänzendes Seidenpapier gepackt und einen dicken, rotbackigen Apfel dazu gelegt.
Im Keller stehen vier Holzsteigen voll mit rotgoldenen Äpfeln, die schon sehr schrumpelig sind. "Wintervorrat" hatte der Opa gesagt, als er mit seinem Handwagen vorbei kam und die Kisten dann in den Keller trug. Wenn man die Äpfel mit dem alten Geschirrhandtuch lange genug abrieb, wurden sie ganz glänzend. Das Rot strahlte am allerschönsten und die verhutzelte Haut wirkte fast wie poliert, beinahe so wie Omas Wangen. Ein bisschen rau, aber auch irgendwie weich und angenehm.
Janny's Hand kriecht in den Schulranzen. Vorsichtig, als würde sie nach einem Schatz suchen, tastet sie nach dem Apfel, streicht über die Schale und dann, als hätte diese ihm Trost und Kraft geschenkt, nimmt er die kleine Hand wieder heraus, greift nach dem Pinsel und taucht ihn in das glasklare Wasser. Jann schaut erstaunt die großen bunten Malkästen der anderen Kinder an, so viele Farben hat er noch nie zusammen gesehen, selbst seine großen Geschwister haben keinen solchen Kasten. Jeder hat nur vier Farben und wenn einer von ihnen Geburtstag hat, dann bekommt er eine neue kleine Farbendose auf den Festtagstisch. Das alte Töpfchen, in dem ja immer noch ein kleiner Rest ist, wird an die kleineren Geschwister weitergegeben.
Janny hat natürlich auch nur vier kleine Töpfchen, in denen die Farben rot, grün, blau und gelb sind. Wenig, sehr wenig ist noch in den Gefäßen. Es ist ihm bewusst, dass er sehr sorgsam damit umgehen muss. Denn für neue Wasserfarben, hat die Mutter gesagt, ist kein Geld da. Gerne hätte Jann auch solch einen großen Wasserfarbkasten gehabt, wie die anderen Kinder, aber er war auch mit seinem sehr zufrieden. Papa fand, dass es besser wäre, wenn die Kinder etwas Gescheites im Unterricht lernen würden, malen und zeichnen war einfach unnützer Kram.
Ganz behutsam taucht Jann den nassen Pinsel in das rote Töpfchen, kreist am Innenrand entlang und fährt dann immer fester durch die langsam feuchter werdende rote Masse. Das erste Blatt des neuen Zeichenblockes strahlt in fast reinem Weiß. Die rot gefärbten Pinselhaare tanzen langsam quer über das Blatt. Dunkles rot bedeckt bereits die obere Hälfte und mit jedem erneuten Eintauchen in das Glas verfärbt sich das Wasser mehr und mehr. Langsam bekommt das Wasser die Farbe von Himbeersaft. Janny leckt sich über die Lippen, fast so, als würde er den süßen dicken Saft, den Mutti über den Grießpudding gießt, schmecken. Glücklich malt er, die Zunge im rechten Mundwinkel, sein Bild. Als er fast fertig ist, drückt er den Pinsel noch einmal ganz fest in das rote Töpfchen, so fest, dass die Borsten wie ein Fächer in der Farbe liegen. Kleine rote Tupfen setzt er auf den unteren Teil des Blattes, dann schaut er sich das gesamte Bild sehr genau an. Wiederholt den Vorgang, aber dieses Mal setzt er statt kleiner Tupfen einen einzigen großen Klecks auf den oberen Teil seines Blattes. Ein tiefer Seufzer rutscht Janny aus der Kehle, so sehr gefällt ihm sein Bild.
In seinem Eifer hat der kleine Junge gar nicht bemerkt, dass Herr Blume schon eine ganze Weile neben ihm steht und ihn kritisch beobachtet. "So, Jann, das ist also dein Bild. Kannst du mir auch erklären, was das ist, ich erkenne nämlich nichts." "O ja", sagt Jann eifrig, "das ist Heute." "Was ist das?", fragt Herr Blume, "solch einen Unsinn hat mir noch kein Schüler geantwortet, wenn ich gefragt habe, was er gemalt hat. Du kannst es mir aber doch sicher erklären, oder?"
"Ja natürlich", sagt Janny ernst, "als ich heute Morgen aufwachte, war der Himmel so rot, dass er die ganze Welt in ein rotes Licht tauchte. Die Sonne stand als roter Ball am Himmel." Mit seinem Zeigefinger zeigt Jann auf den roten Klecks im oberen Teil des Bildes, dann fährt er langsam mit dem Finger weiter nach unten. "Das sind die Bäume, die aussahen, als würden sie brennen, und hier unten sind die Wiesen, und das hier", dabei zeigt er auf die kleinen Tupfer, "sind die Blumen. Die ganze Welt war rot, und in mir ist sie es immer noch, ganz rot und warm und wunderschön."
Der Lehrer reißt das Blatt aus dem Block und hält es in die Höhe. "Liebe Kinder, was meint ihr, was euer neuer Mitschüler da gemalt hat?" Die Kinder drehen sich zu Janny um und heben dann ihre eigenen Bilder hoch. Der kleine Paul meldet sich als erster: "Vielleicht hat er ja versucht, ein Feuerwehrauto zu malen und hat die Türen und Fenster und die Schläuche vergessen." Alle Kinder lachen, aber am lautesten lacht Herr Blume. "Paul, das ist gut, eigentlich sollten wir das Bild ja einer Galerie anbieten, was meint ihr? Vielleicht bekommen wir ja dafür sogar viel Geld für die Klassenkasse!" Über Janny's Gesicht geht ein Strahlen, so stolz ist er auf sein Bild, obwohl er das mit der Feuerwehr nun echt als Fehlinterpretation sieht.
"Aber da Jann nun mal ein kleiner fauler dummer Junge ist, der nicht mal weiß, dass der Himmel blau, die Wiesen grün und die Blumen bunt sind, werde ich das Bild zerreißen und in den Mülleimer werfen. Jann wird in der nächsten Unterrichtsstunde ganz bestimmt wissen, wie die Welt aussieht und das man 'Heute' nun ganz sicher nicht malen kann. Heute ist ein Wort, nicht mehr und nicht weniger. Für heute, liebe Kinder, hat er uns auf jeden Fall gezeigt, dass er noch viel lernen muss."
So schnell wie der Lehrer das Bild zerrissen hat, so schnell konnte der kleine Jann gar nicht schauen, aber als um halb zehn endlich die Schulglocke schrillt und alle aus der Klasse rennen, geht er an den Papierkorb und holt vorsichtig die roten Papierschnipsel wieder heraus. Irgendetwas in Janny's Brust und im Hals tut schrecklich weh.
Zu Hause angekommen, geht Jann an den Küchenschrank und holt sich eine weiße Schachtel heraus, auf der mit roter Schrift "Speisestärke" steht. Er mischt eine kleine Menge von dem weißen Pulver mit etwas Wasser, streicht es dann auf eine alte Zeitung und klebt fein säuberlich sein zerrissenes Bild auf. Glücklich lächelt der kleine Junge, denn fast hat sein rotes Kunstwerk wieder das Aussehen von vorhin in der Schule.
Traurig denkt Jann über seinen ersten Tag in der neuen Schule nach, er sieht die anderen Kinder, die Malkästen, und dann hört er wieder das schallende Lachen des Klassenlehrers. Er hatte sich diesen ersten Tag ganz anders vorgestellt. Als die Mutter in die Küche kommt dreht sich Jann ganz rasch um und putzt eine Träne aus seinem Augenwinkel.
"Na Jann, wie war es heute in der Schule?", fragt sie und wischt sich ihre Finger an der rot karierten Schürze ab. "Was habt ihr gemacht? Wie sind deine neuen Mitschüler und vor allem wie ist denn dein neuer Lehrer, oder hast du gar eine Lehrerin?" "Ach Mama, das war schon in Ordnung, wir hatten Zeichnen und ich habe 'Heute' gemalt, aber alle haben mich ausgelacht, weil sie es nicht verstanden haben."
"Ach Janny, du immer mit deinen komischen Ideen, kein Mensch kann 'Heute' malen. Mal doch einfach das, was die anderen Kinder auch malen, dann ist dein Lehrer mit dir zufrieden und niemand lacht dich mehr aus." Mit einem raschen Handgriff fegt sie das rote Blatt vom Tisch, knüllt es zusammen, nimmt mit dem Schürhaken zwei der heißen Metallringe aus der Herdplatte und wirft Janns Werk in die glühenden Kohlen. "Mama, das war mein Heute-Bild!" Atemlos steht der kleine Junge neben seiner Mutter und sieht, wie die Flammen sein Bild langsam auffressen.
"Maaamaaa", ein einziger Schrei, der Janns Mutter das Herz fast zerreißt, als ihr bewusst wird, was sie gerade getan hat. "Verzeih, Janny, ich dachte doch nicht, dass dir dieses Bild so viel bedeutet, wenn du es so mochtest, dann setz dich hin und mal es noch einmal. Es war doch nur ROT! Bestimmt geht das ganz schnell." "Nein Mama, das geht eben nicht sehr schnell, und nun ist heute ja auch fast vorbei und ich brauche auch kein Bild mehr, es war nicht so wichtig."
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Jann malt von nun an, genau wie alle Kinder, Autos, Häuser, Blumen, aber nie mehr mit seinem Herzen, er malt und malt und malt. Bilder, wie jedes Kind sie malt. Herr Blume ist sehr mit Jann zufrieden. Die meisten seiner Bilder dürfen an der großen Wand hängen, manche bekommen sogar einen Rahmen und werden im großen Treppenhaus aufgehängt, jeder kann sie sehen und bewundern.
Nach den großen Sommerferien kommt Sarah, eine neue Schülerin, in die Klasse. Sie sieht etwas eigenartig aus, mit dem stets halb offenen Mund und den etwas schrägen Augen. Alle schauen unter sich, nur Jann sieht das Mädchen interessiert an. Sie hat um ihre blonden Haare ein rotes Tuch gebunden und gerade so, als hätte sie es ganz bewusst geplant, trägt sie dazu rote Lackschuhe. "Ich setze mich zu dir", sagt Sarah sehr bestimmt und wirft ihre verknautschte Tasche direkt auf Janns Schoß. "Na gut, du musst es wissen, ich hoffe es gefällt dir neben mir", lacht Janny.
Das Lachen der Kleinen schallt durch das ganze Klassenzimmer, laut und immer lauter lacht sie. "Los, sag wie du heißt, ich bin die Sarah, ich hab Down, aber sonst sagen meine Eltern bin ich große Klasse. Du gefällst mir, na und wie heißt du nun? Sag, bist du immer so stumm?" Ganz fest kneift sie den Jungen in den Arm. "Spinnst du, das tut doch weh, ich glaube du setzt dich mal lieber woanders hin!" "Sarah wollte das nicht, ich will aber hier sitzen und ich bleib auch hier!", schmollt das kleine Mädchen.
Ein donnerndes "Ruhe" kommt vom Pult des Herrn Blume, dann stellt er Sarah den Mitschülern vor, die nur kurz die Mundwinkel verziehen und ein dummes Grinsen im Gesicht haben. Nena stößt Biene in die Seite und dann kichert sie albern: "Die passen wirklich zusammen. Pass auf, die heiraten mal!" Für Nena scheint das der Witz des Jahres zu sein. Sie krümmt sich in ihrer Bank, bis es selbst dem Lehrer zu dumm wird und er ein zweites "Ruhe" brüllt.
Da Herr Blume in einer anderen Klasse den Kollegen Stein vertreten muss, übernimmt Fräulein Degen den Unterricht. Sie packt ihre Tasche aus, legt einen roten Apfel auf den Tisch, lächelt die Kinder an und dann beschließt sie, ihnen eine Glücksstunde zu schenken: "Ich denke, damit wir uns besser kennen lernen, malt ihr mir alle ein Bild, das Thema dürft ihr frei wählen. Ich bin gespannt, was ich über euch erfahre!"
Sarah nimmt ihren roten Becher, holt sich am Waschbecken frisches Wasser, dann setzt sie sich wieder auf ihren Platz und beginnt den Pinsel in den roten Farbnapf zu tunken. Jann schaut aus den Augenwinkeln, was das Mädchen da so zu Papier bringt. Es ist ihm, als würde er träumen, es ist genau das Bild, welches er an seinem ersten Schultag gemalt hatte.
"Was soll denn das werden, wenn es fertig ist?", will er von Sarah wissen. "O Mann, das sieht man doch. Das ist 'Heute'. Hast du denn heute Morgen nicht aus dem Fenster gesehen? Der Himmel, die Bäume, die Wiesen, alles war in Rot getaucht. Eine ganz Welt in Rot. Na gut, ich verstehe schon... Mama sagt, normale Kinder können solche Wunder, wie ich sie sehe, nicht sehen, weil sie das nicht wirklich wahrnehmen. Sie sagt, ich sei aufmerksamer als alle Kinder zusammen. Sie meint, die sehen nur mit den Augen. Und weißt du, was sie noch sagt?" "Na, sag es halt." "Mama sagt, unsere Sarah lebt, liebt und macht alles nur mit dem Herzen, sie ist etwas ganz Besonderes!" "Weißt du was, Sarah! Deine Mama hat vollkommen Recht, du bist wirklich etwas ganz Besonderes. Ich kenne kein Mädchen, das so wunderschön malen kann und so besonders ist wie du."
Jann nimmt sein angefangenes Bild, geht langsam zum Papierkorb, reißt es in kleine Schnipsel und lässt diese dann wie Konfetti in den Korb regnen. Mit einem strahlenden Lächeln in den Augen geht er wieder zurück und setzt sich neben Sarah. Er nimmt ein neues weißes Blatt und beginnt ganz oben mit dunkelroter Farbe einen Himmel zu malen, danach setzt er mit noch dunklerem Rot einen dicken roten Ball hinein. "Weißt du Sarah, du hast Recht, die Welt war heute Morgen einmalig ROT."
Nach einer Stunde sind alle Kinder fertig. Fräulein Degen geht durch die Reihen und schaut sich jedes Bild genau an. Als sie bei Sarah und Jann stehen bleibt, zieht Jann die Schultern zusammen, er hat solche Angst, dass die Lehrerin Sarahs Bild zerreißt. Um seines macht er sich keine Sorgen, denn er weiß ja, wie es sich anfühlt, wenn das passiert. Er möchte auf keinen Fall, dass Sarah den gleichen Schmerz erleiden muss, wie er damals.
"Sagt einmal, ihr Zwei, ihr müsst ja heute Morgen sehr früh aufgestanden sein, noch nie habe ich solch ein wunderschönes Tagerwachen gesehen, ihr seid ja richtige kleine Künstler! Würdet ihr mir die Bilder zur Verfügung stellen? Ich plane eine Ausstellung mit den ausgefallensten Ideen in der Galerie eines Freundes. Mir gefallen eure Bilder ausgezeichnet, sie sind so ganz anders, so besonders. Natürlich nur, wenn es euch recht ist." Sarah schaut Jann mit ihren schrägen Augen an. "Siehst du, Mama hat Recht, ich bin besonders und du bist das wohl auch!!!"
Jann und Sarah malten auch weiterhin die Welt in den schönsten Farben - in ihren Farben. Sie malten ihre Welt in wunderschönstem ROT und manchmal auch in gelb und blau und grün. Je nachdem, wie sie ihre Welt sahen...