Der letzte Kuss
Eine Erzählung über Liebe und Tod
Die Handlung sowie die Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder Toten sind nicht beabsichtigt und wären rein zufällig.
Copyright by Scylla Jeruscha
Scylla Jeruscha
Der letzte Kuss
Der Mond strahlte hell, Sterne glitzerten und tauschten die Szenerie in ein unheimliches Licht. Tom nahm seine Liebste in die Arme und küsste ihren Nacken, während der Nebel dicht zwischen den Gräbern hing. Die Nacht war schneller hereingebrochen, als sie es angenommen hatten. Eben war es noch so hell gewesen und die Vögel hatten gezwitschert, doch schon im nächsten Augenblick war es düster gewesen. Er hatte sie dazu bewegen wollen, bereits zu gehen, aber Amy wollte noch eine Weile bei ihrer Schwester bleiben. Seit sie vor zwei Jahren zusammen gekommen waren, wusste Tom, dass Amy tagtäglich auf den Friedhof ging und vor dem Grab ihrer kleinen Schwester saß, Rosen oder Plüschtiere auf die Ruhestädte legte oder auch Briefe, Gedichte und Fotos an die Grabstelle legte. Sie waren eingeschweißt, damit Regen und Tau ihnen nichts anhaben konnten.
Am Anfang hielt er ihr Verhalten für krankhaft und hatte gedacht, er würde das Mädchen, vor dessen Grab sie so oft verweilte, nicht einmal kennen. Doch vor 1 ½ Jahren hatte sie ihm dann das grausame Schicksal ihrer kleinen Schwester Tami beigebracht. Tami war vor gut 3 Jahren von einem unbekannten Missbraucht wurden. Sie war fast eine Woche verschwunden gewesen, als sie sich endlich befreien konnte. Sie lief nach Hause und war froh, sie machte eine Anzeige, doch die Fahndung verlief erfolglos. An einem Abend meinte die Mutter dann, dass Tami das sicherlich nur erfunden hätte, um Aufmerksamkeit zu bekommen. Deshalb sei auch kein Täter gefasst wurden.
Das brach Tami gänzlich. Sie hatte bereits Depressionen und Angststörungen, doch diese Worte, von der eigenen Mutter, die gaben ihr den Todesstoß.
Am nächsten Tag fand ihr Vater sie blutüberströmt auf dem Badezimmerboden, die Rasierklinge lag, ebenfalls blutig, in der Lache, welche sich um das gerade einmal 8 Jahre alte Mädchen gebildet hatte. Als der Schulleiter an jenem Tag in Amys Klasse kam und sie raus bat, um ihr die schreckliche Botschaft zu vermitteln, brach sie völlig zusammen. Sie begann nicht nur, sich selbst zu verletzen, sie hasste sich auch selbst abgrundtief. Sie war der Meinung, sie hätte Tamis Tod verhindern können. Wenn sie die Zeichen nur richtig gedeutet hätte. Sie verfiel in tiefe Depressionen.
Doch bald gab es einen kleinen Lichtblick in ihrem Leben. Tom. Der Neue, der in ihre Klasse kam. Er war sehr freundlich und versuchte sehr bald, dass depressive Gothgirl zum Lachen zu bringen. Nach zwei Wochen schaffte er es. Sie fanden heraus, dass sie nicht nur die Liebe zur Musik und dem Gothic teilten, sondern auch eine ähnliche
Weltanschauung. Aus dieser schönen Freundschaft wurde eine noch schönere Liebe. Und so kam es, dass Amy ihren Geliebten mit zu dem Grab ihrer Schwester nahm. Irgendwann erzählte sie ihm – ebenfalls am Grab – wer die Verstorbene war und was geschah. Er verstand daraufhin gleich so vieles, was ihm an ihr noch rätselhaft erschienen war.
Doch dieser Abend war anders. Amy wirkte nervös, er verstand es nicht so ganz. Sie selbst wusste auch nicht, was los war. Sie fühlte sich verfolgt, als würde sie beobachtet werden.
Dann roch sie es. Rote Fruchtgummis. Sie sah sich auf dem Friedhof um. Der Geruch war wieder weg. Sie stutze. Tom sah sie besorgt an. Er holte eine Flasche Cola aus seinem Rucksack und reichte sie Amy. „Für deinen Kreislauf“, erklärte er auf ihren fragenden Blick hin. Sie nickte und trank einen Schluck.
Während sie trank sah sie einige Reihen weiter, an einen Baum gelehnt, ein junges Mädchen in einem gelben Kleid stehen. Sie verschluckte sich, setzte die Flasche ab und deutete in die Richtung, wo das Mädchen stand. „Siehst du das auch?!“ fragte sie Tom mit zittriger Stimme und zeigte in die Richtung, während sie seine Züge musterte. „Was... was soll ich da sehen? Da ist ein Baum...“ sagte er und sah sie irritiert an. „Das Mädchen“ sagte sie aufgewühlt. Sie sah in die Richtung, doch an dem Baum war niemand mehr. „Aber... aber...“ Tom nahm ihre Hand und drückte sie liebevoll. „Komm, wir gehen besser“ sagte er sanfte und zog Amy mit sich hoch. Sie nickte und folgte ihm in Richtung Friedhofstor, als ihr wieder dieser Geruch in die Nase kam. „Riechst du das auch?“ fragte sie ihn. Er sah sie fragend an, doch sie zuckte nur mit den Schultern und meinte dann, er solle es einfach wieder vergessen.
Sie stieg auf der Beifahrerseite seines Autos ein und legte den Kopf gegen die Nackenstütze, dabei atmete sie tief ein und aus. Tom setzte sich hinters Steuer, strich ihr zärtlich über den Oberschenkel und schloss dann die Tür. Nachdem sie sich angeschnallt hatten, startete er den Motor und machte Musik an. L´Âme Immortelle. Ruhig, sanft und schön. Genau das brauchte seine Geliebte jetzt. Sie fuhren vom Parkplatz dieses Ortes der Ruhe und bogen auf die Schnellstraße in der Nähe ein.
Sie waren bereits eine halbe Stunde unterwegs, als Amy sich senkrecht in ihrem Sitz aufrichtete. „Da ist dieser Geruch wieder. Rote Fruchtgummis! Riechst du das nicht?“ fragte sie Tom verständnislos. Er schüttelte nur den Kopf. Da sahen sie die Scheinwerfer. Sie kamen immer näher auf sie zu. Er sah, wie Amy die Augen entsetzt aufriss. Ein PKW fuhr ihnen genau entgegen.
Er muss von der Spur abgekommen sein und raste in einer viel zu schnellen Geschwindigkeit auf sie zu. Auf der anderen Spur fuhr ebenfalls ein PKW, sie sahen hinüber, es saßen 5 Leute darin, davon drei Kinder. „Was sollen wir machen? Oh Gott, Tom, was sollen wir machen? Wir werden sterben!“ keuchte Amy panisch auf und klammerte sich an ihren Sitz. „Sollen wir auf dieser Spur bleiben, oder auf die andere?“ fragte Tom, ebenfalls panisch. „Wir bleiben hier. Drüben sind 5 Menschen, 3 Kinder. Wie soll man ihnen die Eltern ersetzen?“ sagte Amy fest und schloss die Augen. Tom nahm die Hände vom Lenkrad, nahm Amys Gesicht zwischen seine Hände und küsste sie noch einmal. „Ich liebe dich, mein Engel.“ flüsterte er. Der Wagen knallte mit einem schrillen Geräusch gegen den PKW, der auf sie zugerast kam. Tom nahm nurnoch nebenbei wahr, wie er von seinem Gurt gelöst wurde und aus dem Auto gezogen wurde.
Er hörte auch noch, wie Sirenen sich näherten. Dann wurde alles schwarz.
3 Monate später
Tom wischte sich eine Träne von der Wange. „Ich liebe dich, Amy.“
Er legt eine Blume an ihr Grab, jede Nacht sieht er sie im Schlaf, doch da ist alles anders. Er will sie wecken und sie öffnet ihre Augen, küsst sie noch einmal. Doch sobald die Nacht vorbei ist teilt er die Schmerzen, welche Amy kurz vor ihrem noch viel zu frühen Tod durchlitten hatte. So teilte er die Schmerzen bis in alle Ewigkeit mit ihr. Er küsste sie jede Nacht im Traum, an jenem Tag war es der letzte Kuss, den er vergaß. „Du bist fort, ich will hinaus aus mir, es hat keinen Zweck mehr, ich will hinauf zu dir. Ich kann doch nicht mehr alleine, ich brauche dich hier“, flüsstert er unter Tränen. „Doch wenigstens bist du mit deiner Schwester vereint. Und sie hat dich in deinen letzten Stunden und auf deinem letzten Weg begleitet. Gleich bin ich bei euch, dann wird alles gut.“