Die Flucht
Teil 4. meiner Anastasia-Reihe
Die Flucht
Nicht bewegen... du darfst dich nicht bewegen. Keinen Ton von dir geben. Am besten nicht einmal atmen... atmest du überhaupt noch? Oder bist du schon tot? Nein, dass kann nicht sein. Ich rieche das Blut...und ich höre sie... ich kann die Mörder hören. Sie rufen sich Dinge zu... ich höre sie klar und deutlich. Oder bin ich vielleicht doch tot? Ich sehe sie noch vor mir... sie sagten, sie wollen ein Foto von uns machen, weil das Volk dachte, wir wären entflohen... es ging alles so schnell... Mutter wollte zwei Stühle haben, damit Alexej und sie sitzen konnten, es ging meinem geliebten Bruder nicht so gut... er hatte wiedereinmal mit seiner Krankheit zu kämpfen. Dann kamen die Bolschewiki plötzlich rein und sagten uns, dass man beschlossen hatte, uns hinzurichten. Ich war so erschrocken... es hieß doch, dass man uns den Prozess machen wolle, wieso wollte man uns dann einfach so umbringen? Vater schrie noch empört auf, dann fielen die Schüsse.
Vater ging zu Boden, unser Leibarzt, Mutter, meine Schwestern, Alexej und ich ebenfalls. Es war so laut, sie feuerten so oft auf uns. Als sie sahen, dass die Kugeln auf unseren Miedern abprallten kamen sie mit Bajonett und begannen, auf uns einzustechen, immer und immer wieder. Alexej hat so geschrien, er muss unglaubliche Schmerzen gehabt haben, eine Kugel traf ihn an der Schulter, eine andere am Kopf, doch er lebte und schrie unter Schmerzen. Ich sah mit an, wie sie auf Mutter einstachen und danach auf meine Schwestern. Das warme Blut lief an mir hinab und ich schloss die Augen. Dann merkte ich den scharfen Schmerz, er fuhr durch meinen Körper und ich konnte mich nicht mehr bewegen. Ob ich gewollt hätte oder nicht. Ich hörte ein Geräusch, völlig unwirklich in diesem Moment. Erst jetzt, wo sie uns fort bringen, jetzt weiß ich, was das für ein Geräusch war... das Bajonett hatte einen der Steine getroffen, die
wir Mädchen mit unserer Mutter in unsere Mieder eingenäht hatten. Das war gewesen, ehe uns die Mörder aufforderten, unseren Schmuck abzugeben. Ich schlage vorsichtig ein Auge auf, alles ist verschwommen und ich schließe es wieder. Oh Gott, wieso tust du mir das an? Wieso kann ich nicht tot sein?
„Ist sie noch lebendig? Hatte sie gerade das eine Auge nicht offen gehabt?“
„Wie soll sie das überlebt haben? Du hast sie selbst abgestochen!“
„Stimmt. Sie kann es nicht überlebt haben.“
Oh Gott... er hat gemerkt, dass ich ein Augen geöffnet hatte. Sie werden merken, dass ich noch lebe. Sie werden es merken und dann beginnen die Schmerzen von neuem. Lieber Gott, lass sie mich für tot halten. Bitte. Ich möchte das nicht nochmal erleiden. Oder spüre ich einfach keine Schmerzen mehr?
ch merke doch jetzt auch keine Wunde, vielleicht merke ich ja nichts mehr. Vielleicht bin ich doch tot... Ich höre das Unterholz knacken, wir sind in einem Wald. Was war das? Dieser Ruck... oder habe ich mir das nur eingebildet? Nein, der Wagen muss zum stehen gekommen sein.
„Wir haben Schaufeln vergessen. Geh zurück und hol sie. Ich passe auf die Leichen auf.“
Wieder ein Knacken, Schritte, die sich entfernen. Oder bilde ich mir alles nur ein?
„Eh, wieso sollte ich kommen? Was ist?“
„Die Romanows wurden erschossen. Es war ein Blutbad...“
„Nein...!“
„Doch. Hast du den Wagen dabei?“
„Ja, mit Stroh und einer Plane, wie du wolltest. Wieso?“
„Es ist ein Wunder. Eine der Töchter hat überlebt. Ich hatte gedacht, wir könnten alle weg schaffen, aber es ging alles so schnell. Bring sie nach Rumänien hinüber, dort ist sie erstmal in Sicherheit. Aber pass auf, sie ist schwer verletzt.“
„Ich habe verstanden.“
Heben sie mich an? Habe ich das richtig verstanden? Sie wollen mich retten? Nach Rumänien bringen? Oder habe ich mir das nur eingebildet? Nein... nein, es geschieht wirklich. Sie heben mich an, sie legen Stoff um mich. Ist das Stroh? Ja, es riecht so. Das muss Stroh sein.
Er deckt es auf mich. Ich höre die Pferde schnauben.
Höre ihre dunklen Stimmen, einen Abschiedsgruß. In russisch. In dieser grauenvollen Sprache... in der Sprache der Mörder. Ich kann sie verstehen...
„Fahr über die Brücke. Schnell. Bevor dich jemand sieht!“
Der Wagen setzt sich in Bewegung, er schaukelt sanft. Ich kann ein Stöhnen nicht mehr unterdrücken. Aber in meinen Gedanken weiß ich eins, ich bin gerettet, ich habe überlebt. Auch wenn an diesem grauenvollen Ort, in dieser unheilvollen Nacht so viele Menschen ihr Leben lassen mussten, ich habe es überstanden. Ich bin in Sicherheit. Ich bin frei.