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Während wir langsam den Gang entlanggingen, verringerte ich auf halber Strecke meine Geschwindigkeit und richtete meinen Blick auf die Decke. Ich schloss mein linkes Auge, um mich voll auf mein Rechtes konzentrieren zu können. Ein leichter Schmerz zuckte durch mein Gehirn, während ich meinen Blick dazu zwang die Decke zu durchdringen. Es verlangte mir eine große Menge an Konzentration ab, aber nach und nach schaffte ich es die Strukturen des magisch verstärkten Steins zu durchschauen und erkannte neben den typischen, grell gelben Auren der Lichten noch etwas anderes. Hunderte braungrüne, schummrige Lichter prallten beständig gegen den gelben Schutzzauber der Magier und brachten ihn hier und da gefährlich zum Flackern. Ich schnalzte missbilligend mit der Zunge, als ich genug gesehen hatte, und mein linkes Auge wieder öffnete, um mich auf den Weg vor mir zu konzentrieren. Die Situation war ernst. Jene krank wirkenden grünen Auren gehörten zu einer Plage, die alle Königreiche schon seit mehreren Jahren quälte. Ihr Ursprung war unbekannt und es gab nur eine sichere Tatsache, die man über sie wusste. Sie nutzten tote Körperteile, um ihrer Gestalt eine Form zu geben, wobei sich die Ausmaße ihrer Macht nach dem magischen Gehalt dieser Teile richteten. Der Arm eines einfachen Soldaten hatte nur einen Bruchteil seiner eigentlichen Kraft, aber der Arm eines Magiers verlieh dem Monster extreme körperliche, so wie magische Kräfte. Dabei war es egal von welcher Lebensform sie die Körperteile nahmen, solange sie Magie enthielten. Dadurch konnte ihre Erscheinung so lächerlich und ungefährlich, wie bedrohlich und angsteinflößend ausfallen. Deswegen war auch eine weitere Sache sicher. Als Gegner durfte man diese magischen Totengräber nicht unterschätzen. Und nun waren sie hier. Meine Kiefer mahlten missbilligend aufeinander und ich warf einen prüfenden Blick hinter meinen Rücken, wo Soria ungeschickt hinter mir her stolperte, bemüht mit meinem erneut angezogenen Schritt mithalten zu können. Bei einer direkten Konfrontation würde ich vielleicht unter Aufbietung all meiner Kräfte noch entkommen können, wobei das auch unwahrscheinlich war. Ich war vieles, nur kein Krieger. Würde auch nur eins dieser Viecher hinter meine Schwachstelle kommen, wäre mein Leben verwirkt. Wieder sah ich nach vorne und nahm die ersten Stufen der Treppe. Mein Plan musste funktionieren! Schließlich hatte mein ausgelaugter Körper absolut kein Verlangen danach sich in einen erschöpfenden Todeskampf zu werfen. Insbesondere nicht, wenn es ich gleichzeitig mit Lichten und der Plage zu tun bekommen würde. Mal ganz abgesehen von den Anstrengungen, die damit verbunden gewesen wären, hätte es das Todesurteil Sorias besiegelt. Niemals würde ich sie zwischen den Fronten beschützen können. Mittlerweile kamen wir in die Nähe des Ausgangs zum nächsten Flur. Meine Laune wurde noch weiter gedämpft, als ein aufgeregter Chor verschiedener Stimmen zu mir durchdrang. Erneut schnalzte ich unzufrieden mit der Zunge, verringerte aber nicht mein Tempo. Soria bemerkte die Stimmen auch und ergriff im Laufen ängstlich meine Hand. Ein wenig erstaunt lächelte ich ihr zu, wobei ich keineswegs versuchte sie zu beruhigen. Ob wir den Teleporter erreichen konnten oder nicht, war ab sofort nur noch ein Spiel. Aber glücklicherweise standen unsere Chancen nicht allzu schlecht.
Sofort, als wir das Ende der Treppe erreicht hatten, sahen wir die Gruppe, zu der die Stimmen gehörten. Es waren sechs Magier, die mitten im Raum standen und so lebhaft über den Angriff und ihre Befehle diskutierten, dass sie Soria und mich nicht bemerkten. Das Problem an der Sache war nur, dass wir an ihnen vorbei mussten, um die nächste Treppe zu erreichen. Der Teleporter war noch immer mindestens drei oder vier Stockwerke weiter unter uns. „Ich sag euch, wir sollten unseren Befehlen gehorchen und bei der Verteidigung helfen.“, meinte einer der Magier mit ängstlicher Stimme. „Du Idiot! Wenn wir dorthin gehen sind wir tot! Hast du vergessen, wo wir stehen? Die werden uns einfach als Kanonenfutter missbrauchen, bis Tarsian mit seinen Vorbereitungen fertig ist. Ich kann mir sogar gut vorstellen, dass der uns gleich mit der Plage in die Luft jagen würde!“ „Aber wenn er herausfindet, dass wir uns drücken… Wir werden als Futter für den Seher enden!“
Ich sah die Chance, machte einen hallenden Schritt vorwärts, was ihre Köpfe zu mir herumschießen ließ und sagte mit einem grausamen Grinsen: „Dann scheint ihr vom Zorn der Götter verfolgt zu sein, denn es scheint, als stündet ihr mir in meinem Weg…“ Ich schwieg bedeutsam und ging unerschrocken auf die sechs Magier zu. Dabei formte ich bedrohliche Blitze, die begierig aus meinem Auge auf die Männer zuschossen. Jedoch lag das Grinsen wirklich nur auf meinen Lippen. Mein Innerstes zog sich aufs Unangenehmste zusammen und ein Kloß der Angst bildete sich in meinem Hals. Wenn die Lichten schlau genug wären gemeinsam auf mich loszugehen und gleichzeitig ihre Zauber abfeuern würden, würde mich mein Auge nicht mehr retten können. Mein Körper würde dies nach den zwei Monaten Gefangenschaft einfach nicht aushalten. Jetzt lag alles daran, wie stark sie mich fürchteten.
Nachdem sie sich von ihrem ersten Schock erholt hatten, breitete sich die Panik rasend schnell auf ihren Gesichtern aus. Einer von ihnen stieß sogar einen merkwürdig hohen und spitzen Angstschrei aus. Meine Innereien entspannten sich ein wenig und ich schritt zuversichtlich weiter vorwärts, während Soria sich mit großen Augen an meine Hand klammerte. „Habt ihr mich nicht gehört? Ihr steht mir im Weg.“ Unbeirrt schritt ich vorwärts, sie wichen ungeordnet zurück. Mein Blick wurde härter, das Lächeln gefährlicher und ich beugte meinen Kopf angriffslustig ein kleines Stückchen nach vorne. Schließlich erlangte einer von ihnen seine Fassung wieder und baute sich mitten im Gang auf. Es war derjenige, der sich zuvor über ihre Befehlsverweigerung beklagt hatte. Er streckte die Hand aus und rief mit zittriger Stimme: „Bleib stehen, B-Bestie! Im Namen von Tarsian gebiete ich dir sofort in deinen Käfig zurückzukehren. Andernfalls werde ich dich hier und jetzt richten!“ Dabei schien es als flößte ihm jedes Wort, das seine fetten Lippen verließ, neue Zuversicht und Kraft ein, als würde er eine unüberwindbare Wahrheit verkünden, gegen die sich niemand auflehnen könnte… War es mein Auge, das mich lächelnd den nächsten Schritt machen ließ? Das mich seine Wahrheit anzweifeln ließ? Hatte ich es der Gift der Wahrheitsweber zu verdanken, dass ich eine grimmige Genugtuung verspürte, als der Lichte einen Lichtblitz aus seiner Hand entsandte, um mich zu töten? Oder war es der Hass, der in mir wallte und zu glühen anfing, als ich mich innerhalb eines Wimpernschlags mit dem Zauber synchronisierte und seine Richtung umkehrte? Warum fühlte ich Bedauern, als der Magier von seinem eigenen Zauber zerfetzt wurde? Was gab es an dem Tod eines Lichten zu bedauern?
Beim Anblick des verbrannten Körpers brach der letzte Widerstand der restlichen Magier gegenüber ihrer Angst. Ein paar stolperten, die anderen blieben ungläubig auf der Stelle stehen und starrten mich an. Die verzerrten Fratzen ihrer Gesichter weckten gemischte Gefühle in mir. Einerseits genoss ich es, dass ich die Macht über sie hatte, auch wenn es im Grunde nur ihre Einbildung war, dass ich ihnen so weit überlegen war, dass ich ihr Leben in meiner Hand hielt. Andererseits fühlte ich noch eine mir sehr bekannte Trauer. Trauer über das Bild, das ich in ihren Augen las. Für sie war ich nicht mehr als eine unverständliche, unheilige Verkörperung von Gewalt, Umsturz und Tod. Der König der Bestien, der nur einen Blick brauchte, um sein Opfer von innen heraus zu zerfetzen.
Doch ich ließ mir meine Gefühle nicht anmerken und konzentrierte mich darauf die Fassade aufrecht zu erhalten: „Wenn ihr nicht wollt, dass euch das gleiche Schicksal widerfährt, solltet ihr euch schleunigst zur Verteidigung begeben. Dort sind eure Leben sinnvoller eingesetzt als bei dem Versuch mich aufzuhalten.“ Um meine Worte zu unterlegen, trat ich beiseite und machte damit den Durchgang frei. Zuerst schauten sich mich nur unsicher an, aber als ich meinem Blick eine dunkle Aufforderung verlieh, setzten sie ihre Beine schleunigst in Bewegung und stolperten mit weißen Gesichtern an mir vorbei. Erleichtert atmete ich aus, sobald sie die Sichtweite meines rechten Auges verlassen hatten. An Soria gewannt meinte ich: „Alles in Ordnung.“ Sie nickte nur schweigend und starrte mich großen Augen an, die allerdings noch immer keine Spur von Angst zeigten, auch wenn ihre Hand angefangen hatte kalt zu werden und zu zittern. Dankbar schenkte ich ihr ein Lächeln. Vielleicht würde ich ihr irgendwann mal sagen, wie sehr es meine Seele beruhigte, dass in ihren jenes Bild nicht auftauchte. Dort war keine Bestie, kein Avatar der Zerstörung, kein verfluchtes Monster. Alles, was ich dort sah, war jemand, der ihre Hoffnung auf seinen Schultern trug. Jemand, der es sich nicht leisten konnte einfach aufzugeben und die Erwartungen, die an sein Auge gekoppelt waren, zu enttäuschen.
„Lass uns weiter gehen.“, meinte ich und ging auf die nächste Treppe zu. Innerhalb der nächsten vier Stockwerke wiederholte sich das Schauspiel mit den Magiern noch drei Mal. Nur waren es diesmal Wächter, die angewiesen wurden ihre Posten nicht zu verlassen, um ein Entkommen der magischen Wesen zu verhindern. Die ersten beiden flohen allerdings freiwillig, sobald sie bemerkten, dass ihre Zauber gegen mich wirkungslos waren. Jedes Mal nutzte ich die Macht meines Auges, um die einfache Struktur ihrer Zauber zu erkennen und mich anschließend auf den Rhythmus ihrer Energie einzustimmen. Dadurch erhielt ich die Kontrolle über die Energie selbst und die Richtung, in die der Zauber flog. Der dritte Wächter ließ sich allerdings nur durch einen verschmorten Arm davon abhalten mir weiterhin den Weg zu sperren.
Und so hatten wir nach etwa einer Viertelstunde das Stockwerk des Teleporters erreicht.