Ursprung allen Seins
"Damals war nicht das Nichtsein noch das Sein,
Kein Luftraum war, kein Himmel drüber her. –
Wer hielt in Hut die Welt; wer schloss sie ein?
Wo war der tiefe Abgrund, wo das Meer?
Nicht Tod war damals, noch Unsterblichkeit,
Nicht war die Nacht, der Tag nicht offenbar. –
Es hauchte windlos in Ursprünglichkeit
Das EINE, außer dem kein andres war.“
Eine Übersetzung aus dem Rigveda, einem indischen Versepos, dessen Ursprünge sich in mythischer Vorzeit verlieren, die aber wenigstens 1000 Jahre älter sind als der Beginn der europäischen Philosophiegeschichte im antiken Griechenland. Aus den Upanishaden, dem späteren „philosophischen Kommentar“ zu den Veden, ist dann die Einheitslehre von Brahman und Atman überliefert:
Dabei ist Brahman das EINE, der ruhende Urgrund allen Seins, und Atman die Einzelseele in ihrem tiefsten Wesen, wo ihre Einbettung in Brahman erfahrbar wird. Wir können das EINE und Ewige auf dem Grunde unserer Seele anschauen.
Die europäische Tradition kommt über Platon und den Neuplatonismus in frühchristlicher Zeit zu ähnlichen Einsichten. Hierher gehören Vorstellungen von einer Weltseele: eines einheitlichen Formprinzips in allen Dingen, mit dem der Geist die Materie durchdringt und so dem göttlichen Urgrund in allem einen Ort gibt. Die Mystiker des Mittelalters und der frühen Neuzeit versuchen durch eine besondere Virtuosität des religiösen Verhaltens diesen Ort in sich zu finden, indem sie alles Überlagernde Schicht für Schicht abtragen, ihre ganze individuelle und schmerzliche Existenz, um so zum Absoluten zu gelangen. Die Meditation ist der Ausgang aus dem Labyrinth.
Und wir? Was geht uns das an? Welchen Anteil daran können wir gewinnen? Oder sind das nur philosophische Brocken, die wir wiederkäuen, die zu schlucken uns aber nicht einfällt, und die uns darum nicht wirklich nähren, sondern nur schmecken: eine ästhetische Verzauberung bewirken und die traurige Gewissheit, die göttliche Sonne immer nur als frierender, distanzierter Trabant sehnsuchtsvoll zu umkreisen?