Der Flügel
Der Flügel stand in einer Ecke. Die Tasten sahen abgenutzt aus, als, ob die Musik täglich aufs Neue dieses Haus erfüllte. Welch eine musikalische Familie, würde man denken. Welch eine harmonische Familie, würde man bestimmen. Welch ein Vorbild von Familie, würde man unter sich sagen.
In Gedanken versunken würde man durch das Glasfenster gucken, den von der Sonne beleuchteten Flügel betrachten und erschreckt aufhorchen, als jemand die Treppe mit Karacho runterstampft.
Keine harmonische Familie, würde man sich wieder widersprechen und weitergehen und die Tatsache verleumden, dass man vor ein paar Sekunden noch diese Familie bewundert hatte.
Welch eine harmonische Welt.
Die schweren Schritte kamen immer näher, ließen die Harmonie dieser Welt erschüttern. Ein aufgewühltes, lautes Weinen ließ die mutmaßlichen Gedanken über die Musikalität dieser Familie sofort verschwinden.
Eine bemerkenswert schlanke Silhouette riss die Tür auf und machte ein paar Schritte zur Mitte des Zimmers und blieb dort etwas ratlos stehen. Wo sollte sie ihre Verwüstungstür fortsetzen? Ja, wo nur...
Ihr Blick fiel wie zufällig auf den Flügel in der Ecke. Das Sonnenlicht ließ die Notenpapiere mit Beethoven geradezu verlockend erscheinen.
Sie fuhr herum und starrte lange Zeit auf die antike Uhr an der Wand. 16.10 Uhr. Langsam, schließlich war sie ein Mädchen und hatte einen Grund, kein Ass in Mathematik zu sein, rechnete sie sich aus wie viele Minuten sie sich Zeit nehmen konnte und entschloss nach kurzem Zögern, zu dem Flügel zu gehen.
Dabei legte sie eine derartige Eleganz hin, dass man kaum glauben konnte wie sie den ganzen Weg heruntergestampft war. Sie ließ sich auf einen kleinen Hocker vor dem Flügel nieder, warf ihren Kopf nach hinten und stellte ihre Finger auf Angriffsposition. Das gesamte Haus stöhnte unter den niedlichen Tönen auf und ein schmales Lächeln zeichnete sich auf ihr Gesicht - das einzig Schöne an einem mit Schminke verschmiertem Gesicht. Wer wusste schon, was sie dachte und ob sie überhaupt in Gedanken bei Beethoven war, als ihre schmalen Finger immer schneller über die Tasten glitten. Immer fester knallten ihre Finger auf die weißen, dünnen Quader. Wie in Trance versunken spielte sie mit geschlossenen Augen, verfehlte mehrere Tasten im Sekundenschritt. Die schiefen Töne flogen durch das ganze Haus, erreichten die rettende Außenwelt duch die relativ dünne Glaswand und umwickelten sie in ein schützendes Gewand.
Sie wusste es. Sie wusste, dass sie jetzt ihre Ruhe im Chaos finden würde - niemand würde sie in diesem Augenblick stören. Niemand würde ihr Haus betreten und nach ihr fragen. Falls doch, würde Mutter denjenigen einfach wegschicken, damit keiner ihre Tochter in solch einem Zustand erblicken könnte. Niemand würde sie schief anblicken, weil ihre Schminke zerlaufen war. Niemand würde eine Bemerkung über ihren Freund machen, der sie immer und immer wieder versetzte. Niemand würde sie trösten wollen und erklären, dass ihr Freund sowieso der allerletzte ist.
Immer heftiger haute sie auf die Tasten, sie ließ ihre gesamte Wut an den armen Flügel aus. Ja, wahrlich - die Musik erfüllte jeden Tag dieses Haus.
Langsam hat sie sich wieder beruhigt, seufzte genervt auf, hörte aber nicht auf, weiterzuspielen.
Sie wollte mit niemanden reden und das Aufgeben hätte nur allzu schnell dazu geführt, mit ihren geliebten Mitmenschen zu kommunizieren. Dazu hatte sie absolut keinen Mumm und vor allem keine Nerven. Dazu war sie auch noch viel zu sauer.
"Hey?"
Wie erstarrt ließ sie ihre Hände sinken, die unmerklich zu zittern anfingen. Sie wollte ihm so viel sagen. Ich hasse dich. Lass mich in Ruhe. Du kannst mich mal. Wage es nicht, mir näherzukommen. Wie bist du reingekommen? Warum hast du mich versetzt? Hau ab. Renn weg. Such dir eine andere, mit der du spielen kannst. Folge Beethoven.
"Heeey...." Eilig wischte sie sich ihre Tränen ab und seufzte.
"Sorry, dass ich dich versetzt habe... Aber jetzt habe ich gemerkt, dass ich doch noch Zeit habe. Bist du sehr sauer?" Seine sanfte Stimme klang beruhigend und keineswegs schuldbewusst.
"Nein, nein, Beethovens Stücke dauert sowieso ewig."