Kurzgeschichte
Sakura - Blüten der Hoffnung

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"Sakura - Blüten der Hoffnung"
Veröffentlicht am 30. Mai 2011, 28 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
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Sakura - Blüten der Hoffnung

Sakura - Blüten der Hoffnung

Beschreibung

Diese Geschichte versucht das Grauen einer schrecklichen Naturkatastrophe aus der sanften und unwissenden Sicht eines japanischen Kindes zu schildern. Dabei stehen nicht die Schilderungen von Horrorszenarien im Vordergrund, sondern der langsame Weg aus einer behüteten Umgebung bis hin zur bitteren Erkenntnis der möglichen Auswirkungen eines Erdbebens. Wodurch letztendlich trotz der Grausamkeit der Natur auch immer Hoffnung für die Zukunft aus ihr gezogen werden kann. Anmerkungen: Diese Geschichte ist neben allen Betroffenen auch zwei Bekannten von mir gewidmet, die Japan aufgrund eines anderen Schicksalsschlages kurz vor der uns allen bekannten Katastrophe verlassen mussten. Sie soll die derzeitigen, wahren Begebenheiten in Japan nicht beschönigen, behandelt auch absichtlich nicht die aktuelle, akute Problematik und hat auch keinen direkten Zeitbezug. Sie ist mehr Ausdruck unserer Hilflosigkeit in der Situation und soll, trotz der noch Jahrhunderte vorherrschenden grausamen Nachwirkungen, ein wenig Trost und Hoffnung spenden. Mir zumindest hat das Schreiben dieser Geschichte ein wenig bei der Verarbeitung der ganzen Zusammenhänge geholfen. Ich hoffe, es geht euch beim Lesen ähnlich.

Sakura – Blüten der Hoffnung

 

Die ersten kraftvollen Strahlen der Frühlingssonne bahnten sich ihren Weg durch die über und über knospenbestandenen Kirschzweige. Yaji fühlte ihr angenehmes Streicheln im Gesicht und gleichzeitig wärmten sie ihr Herz mit erwartungsfrohen Andeutungen des nahenden Sommers.

Wieselflink turnte sie durch die Äste, befreite die alten Kirschbäume von der Vielzahl an wilden Trieben und lichtete die knospentragenden so weit aus, dass die übrigen umso mehr Kraft bekommen sollten, um viele gute Früchte austragen zu können. Ihre Großmutter beschnitt die Zweige von unten, so weit sie reichen konnte, und sie ergänzten sich dabei so gut, dass sie nur selten überhaupt eine Leiter zu Hilfe nehmen mussten. Immer wieder warf sie ihrer Enkelin glückliche und stolze Blicke zu. Trotz ihrer Jugendlichkeit konnte sie ihr kaum noch etwas über das Handwerk und die Geheimnisse der Kirschbäume beibringen.

Ungeachtet ihrer Schwere liebten beide diese Arbeit in der aufkeimenden Wärme des Frühlings, besonders nach den langen Tagen des vorangegangenen Regens. Aber sie machte der Großmutter Jahr für Jahr größere Mühe, sodass sie kaum noch die Hälfte der Bäume vor der Kirschblüte mit dem für eine gute Ernte unabdingbaren Rückschnitt versehen konnten.

Gemeinsam mit Yajis Eltern war dies immer leicht zu bewältigen gewesen und auch die Ernte war stets so üppig ausgefallen, dass die süßen, blutroten Früchte ihnen bereits einen Großteil ihres jährlichen Unterhalts eingebracht hatten. An diese glücklichen Zeiten vor dem letzten großen Beben, das besonders grausam auf der Insel Kyushu seine Naturgewalten gezeigt hatte, konnte sich Yaji kaum noch erinnern, der Großmutter lagen diese Erinnerungen aber umso schwerer wie Schatten auf dem Herzen.

Yaji strotzte so vor Energie, dass sie kaum zur mittäglichen Pause zu bewegen war. Die Großmutter hingegen ließ sich ihr gegenüber nicht anmerken, wie sehr ihre eigenen müden Glieder schon nach einer Arbeitsunterbrechung verlangt hatten. Nach ihrem einfachen Mahl saßen sie gemeinsam an einen Kirschstamm gelehnt auf ihrer Decke bei Kirschsaft aus dem letzten Jahr und genossen das Lichterspiel der Sonnenstrahlen, welches der sanfte Wind im Tanz der Äste auf ihre Gesichter zauberte. Das tägliche Spiel, dass die Großmutter versuchte, heimlich und unbeobachtet von Yaji eine gute Portion Sake in ihren Saft zu füllen, verursachte bei Yaji das übliche wissende Lächeln. Nur Yajis ständiger Begleiter, der kleine Mischlingsrüde Sang, benahm sich heute seltsam: Sonst lag er nur während der Arbeitzeit meist still und brav unter einem Baum, wartete geduldig auf die Pausen und jagte nur ab und an spielerisch ein paar Hühner, die überall zwischen den Kirschen nach Futter pickten. Erst in den Pausen forderte er Yaji unnachgiebig zum Spiel auf und wenn sie keine Lust dazu hatte, jagte er die Hühner mit Begeisterung weiter durch die Baumstämme über die Wiese.

Heute hatte er sich noch nicht ein einziges Mal von seinem Ruheplatz wegbewegt und auch in den Pausen blieb er dort still liegen, ließ Yaji dabei aber keine Sekunde aus seinem Blick entweichen. Auch von den Hühnern war heute seltsamerweise noch keines auf der Streuobstwiese zu sehen gewesen. Scheinbar hatten sie noch nicht einmal ihren Verschlag verlassen.

Yaji machte sich keine großen Gedanken darüber, die Großmutter jedoch erschauerte innerlich – sie wusste diese Vorzeichen zu deuten und die düsteren Schatten fingen erneut an auf ihr Herz zu drücken.

Yaji huschte schon lange wieder behände durch die Kirschzweige und gönnte ihrer Großmutter noch einige Minuten der Ruhe, als sich deren Vorahnungen bewahrheiteten. Kurz nachdem Sang wild bellend und winselnd unter Yajis Baum gerannt war, lief ein starkes Zittern durch den Boden der Wiese. Yaji musste sich bis es vorüber war für einige Sekunden an einem Ast festhalten, um nicht heruntergeschüttelt zu werden. Erdbeben waren in ihrer Region nichts Außergewöhnliches und es war auch nicht das erste dieser Stärke, das Yaji miterlebt hatte. Es war auch lange nicht stark genug, um auf ihrer Insel größere Schäden anzurichten. Nach dem ersten Schreck sprang sie geschmeidig wie eine Katze auf den weichen Boden der Wiese und versuchte Sang zu beruhigen, der einfach nicht aufhören wollte zu bellen. Die Großmutter saß bedrückt noch immer auf der Decke unter ihrer Kirsche - sie ahnte was es zu bedeuten hatte, dass Sang einfach keine Ruhe geben wollte. Kyushu hatte nur die Ausläufer eines weitaus größeren Bebens zu spüren bekommen, dessen Zentrum vielleicht weit entfernt auf dem Festland oder irgendwo im Meer lag.

Yaji konnte noch nicht wissen, was einem großen Beben meist folgte. An das Letzte hatte sie keinerlei Erinnerung mehr, weil sie damals einfach noch zu klein war. Die Großmutter wusste es - sie hatte beim letzten dem Beben nachfolgenden Tsunami ihre Tochter und ihren Schwiegersohn verloren. Die besuchten damals gerade ihre einzige Verwandtschaft in Kagishima, einem gut zwanzig Kilometer weit entfernten Küstenort. Tagelang suchte sie damals nach einem Lebenszeichen der beiden, fand dabei aber nicht einmal das geringste Anzeichen ihres Verbleibs. Das Wasser hatte sie wahrscheinlich einfach auf seinem Weg zurück ins Meer mitgenommen und ihnen dort ein unbestimmbares Grab bereitet. Wie durch ein Wunder überlebte ihr Sohn mit seiner kleinen Familie die Gewalten des Tsunamis unversehrt und war auch danach, trotz des Flehens seiner Mutter, in Kagishima geblieben und hatte es mit den wenigen Verbliebenen wieder aufgebaut.

Es musste nicht unbedingt wieder so kommen, aber die alte Frau spürte, dass die Ostküste Kyushus wieder die volle Wucht der durch die aufgewühlten Naturgewalten gebildeten Wasserberge treffen würde. Sie wollte Yaji damit nicht unnötig beunruhigen und ging, ohne ein Wort darüber zu verlieren, gemeinsam mit ihr wieder an die Arbeit.

Yaji mochte ihren Onkel und ihre Tante in Kagishima sehr, vor allem liebte sie aber ihren um einige Jahre jüngeren Cousin Kahi. Er war für sie wie der kleine Bruder, der ihr nie vergönnt gewesen war. Die langen Stunden bis zur Dämmerung arbeiteten sie an den Kirschbäumen weiter und die Großmutter versuchte sogar ab und an sich durch einen Scherz von ihren düsteren Gedanken abzulenken. Ihrer Enkelin konnte sie jedoch nichts vormachen. Sie spürte ganz genau, dass ihre Großmutter irgendetwas bedrückte, was sie vor ihr verheimlichen wollte. Aber erst vor dem abendlichen Feuer in ihrer Hütte wagte Yaji, ihre Großmutter danach zu fragen. Nur zögerlich und längst nicht in allen Einzelheiten rückte sie damit heraus, was sie für ihre Verwandten in dem kleinen Fischerdorf befürchtete. Sie hätte Yaji ohnehin nicht in allen Einzelheiten begreiflich machen können, welch grausame und gewaltige Furcht das Wort Tsunami in ganz Japan auslöste und verschwieg ihr deshalb die entsetzlichsten Auswirkungen.

Yaji kannte zwar das Meer mit hohen Wellen, aber was ein Tsunami war und was er anrichten konnte, hatte mit ihren Vorstellungen nicht viel zu tun. Deshalb war auch das Einzige, was Yaji in diesem Moment wirklich interessierte, wann sie am nächsten Tag losziehen würden, um nach ihren Verwandten in Kagishima zu sehen. Umso enttäuschter war sie, als ihre Großmutter ihr deutlich zu verstehen gab, dass sie nicht die Absicht hatte, in den nächsten Tagen nach dorthin aufzubrechen. Nicht nur, weil in ihrem Alter selbst eine solch kurze Reise einiges von ihr abverlangte - sie wusste genau abzuschätzen, was sie dort zu erwarten hätten und wollte es Yaji ersparen.

Yaji lag noch Stunden auf ihrer einfachen Strohunterlage wach und fasste irgendwann einen Entschluss. Sie musste einfach wissen, wie es den Menschen in Kagishima und vor allem Kahi ging. Daran, dass sie vielleicht gar nicht mehr leben könnten, kam ihr nicht einmal der Gedanke. Was konnten so ein paar Wellen schließlich schon Schlimmes anrichten.

Noch vor dem Morgengrauen packte sie für sich und Sang ein wenig Proviant zusammen, hinterließ ihrer Großmutter eine Nachricht und machte sich sogleich mit ihrem kleinen Freund auf den Weg in Richtung Küste. Sie nahm sich aber vor, allerspätestens zum Hanami, dem großen Kirschblütenfest, mit all ihren Verwandten und Freunden aus Kagishima wieder in ihrem Dorf zurück zu sein, damit sich ihre Großmutter keine allzu großen Sorgen machen musste.

Nach den ersten Kilometern kündigte sich der Sonnenaufgang an, Yaji ließ sich gemeinsam mit Sang auf dem weichen Moospolster an einem großen Stein nieder und betrachtete während ihres kargen Frühstücks ehrfurchtsvoll die blutrote Halbkugel, die sich am Horizont abzeichnete und in der Farbe so sehr dem Bild auf ihrer Nationalflagge glich.

Die schöne Ruhe wurde schon bald darauf jäh durch das herannahende Rumpeln eines Heu beladenen Eselskarren unterbrochen, der den Schotterweg hinaufgezuckelt kam. Eine bequemere Art zu reisen konnte sie kaum finden, der nette Bauer fuhr auch einige Kilometer in ihre Richtung und nahm sie gerne ein Stück seines Weges mit. So konnten Yaji und Sang die nächsten Kilometer angenehm liegend auf dem wunderschön duftenden, frischen Heu verbringen und ließen die dichten Wälder und saftig grünen Wiesen langsam und genüsslich an sich vorüberziehen. Das gleichmäßige Geräusch des Karren tat sein übriges und Yaji fand während der Fahrt sogar ein wenig Schlaf.

Etwas mehr als zehn Kilometer vor Kagishima war es mit der Gemütlichkeit aber vorbei - der Bauer musste an einer Weggabelung in eine andere Richtung weiter. Den Rat des Bauern, besser nicht weiter in Richtung Küste zu gehen, schlug Yaji aus, weil sie nicht verstand, was er ihr damit andeuten wollte.

Aber schon auf den nächsten Kilometern wurde ihr mehr und mehr bewusst, was der Bauer ihr damit sagen wollte, obwohl sie immer noch nicht verstehen konnte, warum solch seltsame Dinge neben dem Wegesrand immer häufiger und deutlicher auftauchten. Zuerst waren es nur die Wiesen, die in ihren Senken so mit Wasser gefüllt waren, wie es sonst nur nach einer sehr langen Regenperiode der Fall war. Je näher sie an die Küste gelangte, umso mehr verloren die Wiesen ihre grüne Farbe, da sie von einer Schicht Schlamm und Schutt jeglicher Art überzogen waren. Bretter, Balken, Planen, Decken und alles Mögliche an kleinem und großem Hausrat konnte sie aus dem Schlamm herausragen sehen.

Schon diese Dinge konnte sie sich nicht erklären, was sie aber dann zu Gesicht bekam, hielt sie anfangs für einen schlechten Streich ihrer Fantasie. Boote, große Schiffe und sogar komplette Holzhütten und Dächer standen oder lagen mitten auf den Wiesen wie völlig unangebrachte Fremdkörper. Wie konnten diese Dinge hierher gelangen, vor allem die vielen Fischerboote, so weit entfernt von der Küste? Es lagen sicher mehr Schiffe hier auf den Wiesen, als sonst im Hafen von Kagishima ankerten. Sie konnte es sich nicht richtig erklären, aber was sie erahnte, war, dass es mit den Dingen zu tun hatte, die ihr ihre Großmutter über diese Tsunamis nicht beibringen konnte oder wollte. Ihr war gar nicht mehr wohl bei dem Gedanken daran, auf diese Art und Weise verstehen zu lernen, was ein Tsunami wirklich war. Je näher sie Kagishima kam, desto größer wurden die Verwüstungen und die Dicke der Schlammschicht, durch die sie waten musste, nahm beständig zu. Sie musste Sang sogar irgendwann auf den Arm nehmen, weil der kleine Kerl mit seinen kurzen Beinen einfach nicht mehr vorankam.

Nach dem nächsten Hügel würde sie freien Blick auf das Fischerdorf haben und davor hatte sie große Angst. Was sich ihr aber dann darbot, wandelte ihre Angst mehr in ein überraschtes Erstaunen. Sie erwartete ein stark zerstörtes Dorf. Was sie aber erblicken konnte, hatte mit Zerstörung nichts mehr zu tun – es gab schlichtweg kein Dorf mehr an der Stelle, wo sie es eigentlich hätte vorfinden müssen. Allein die Mauern der Provinzverwaltung, des einzigen Steingebäudes im kleinen Dorf, thronten dachlos und einsam inmitten des Platzes, der sonst immer von vielen Holzhäusern und Hütten umringt war. Die einzigen Erhebungen, die jetzt noch den Blick verstellten, waren hohe Schuttberge, die sich, durch das sich zurückziehende Wasser, an vielen Stellen angesammelt hatten.

Yaji stand inmitten dieser Schuttberge und wusste nicht, was sie jetzt machen sollte. War es überhaupt möglich, dass irgendjemand diese Katastrophe überlebt haben konnte? Und wenn ja, wie sollte sie hier nach jemandem suchen? Es waren keine Straßen, Wege oder Häuser mehr zu erkennen, nach denen sie sich hätte richten können. Wo sollte sie anfangen? Und Menschen, die sie hätte fragen können, waren schon gar nicht zu erblicken. Hatte es überhaupt irgendeinen Sinn, hier noch nach ihren Verwandten zu suchen? Sie fand darauf keine Antwort, war der Verzweiflung nahe, konnte und wollte sich aber einfach nicht eingestehen, dass ihre Verwandten und vor allem ihr kleiner Cousin nicht mehr am Leben sein könnten. Minutenlang stand sie einfach nur da, in dieser unwirtlichen Schuttwüste, hatte keine Kraft sich zu bewegen und seltsamerweise nicht einmal zum Weinen.

Irgendwann fiel ihr Blick auf etwas Farbiges, das sich aus dem braungrauen Einerlei des Schlammes hervorhob. Inmitten der Stelle, wo einmal der betriebsame Dorfplatz gewesen sein musste, ragte ein kleines Kirschbäumchen aus der eintönigen Masse heraus, das wie durch ein kleines Wunder den Wassermassen fast unversehrt getrotzt hatte, und bildete einen unwirklichen Kontrast zu dem Anblick der grausamen Zerstörung ringsherum. Außerdem stand das kleine Bäumchen in voller Blütenpracht, obwohl sie zuvor auf dem gesamten Weg noch keine einzige geöffnete Kirschblüte zu Gesicht bekommen hatte.

Noch während Yaji erstaunt und reglos diesen außergewöhnlichen Farbtupfer des Lebens in dieser scheinbar leblosen Umgebung anstarrte, jagte ein starker Windstoß über den ehemaligen Dorfplatz hinweg, riss eine einzelne Blüte vom Bäumchen ab und erhob sie wie von unsichtbaren Flügeln getragen hoch in die Luft. Wie gebannt verfolgte Yaji den spielerisch wirkenden Tanz der rosa schillernden Blüte im Wind und achtete auf nichts anderes mehr. Als der Luftzug plötzlich verebbte, sank die Blüte sanft in Pirouetten hinunter und suchte sich schließlich wie an Fäden gezogen eine Stelle zur Landung am schlammigen Boden.

Yaji starrte der herabgesunkenen Blüte immer noch reglos nach, als ein Kind hinter einem der Schuttberge hervortrat und sich nach ihr bückte. Die Entfernung war viel zu groß und das Kind viel zu schmutzig als dass Yaji das Gesicht hätte erkennen können, aber sie spürte sofort, wer dieses Kind war. Unvermittelt platzten die Tränen in Sturzbächen aus ihr heraus und sie stürmte so schnell sie nur konnte durch den tiefen Schlamm auf Kahi zu. Sogar der kleine Sang schaffte es irgendwie ihr zu folgen und so kamen sie fast gleichzeitig bei ihrem Cousin an. Yaji umarmte ihn unablässig und weinte hemmungslos, während Sang die ganze Zeit an dem kleinen Kahi hochzuspringen versuchte, so gut es ihm eben aus dem tiefen Schlamm möglich war.

Von ihrem Cousin kam seltsamerweise kaum eine Reaktion, er starrte einfach weiter auf die zarte Blüte in seiner Hand, sagte kein Wort und zeigte keinerlei Empfindung. Yaji redete beharrlich auf ihn ein, bekam jedoch keinerlei Antwort und konnte seinen ausdruckslosen Blick überhaupt nur mit sanfter Gewalt von der rosa Blüte losreißen. Aber auch dann schienen seine Augen immer noch durch sie hindurchzublicken. Erst jetzt bemerkte Yaji, dass hinter dem Schutthaufen still ein kleines Mädchen hockte, etwa im gleichen Alter wie Kahi, und einen ebenso abwesenden Eindruck wie ihr Cousin machte. Aus keinem der beiden Kinder bekam Yahi ein einziges Wort heraus, geschweige denn auch nur eine Regung.

Sie wusste nicht damit umzugehen - äußerlich waren die beiden völlig unversehrt, wenn auch über und über mit Schlamm verkrustet. Sie musste aber herausfinden, was mit ihrer Tante und ihrem Onkel geschehen war, oder ob sich überhaupt noch jemand irgendwo in den Trümmern des Dorfes aufhielt. Sie suchte eine möglichst trockene Stelle, setzte die beiden Kinder dorthin, ließ Sang bei ihnen und machte sich auf den Weg, die kümmerlichen Überbleibsel des Dorfes nach Lebenszeichen zu durchforsten.

Bis kurz vor der Dämmerung kämpfte sie sich tapfer durch Schlamm und Trümmer, fand aber nicht einen weiteren Überlebenden im Dorf und der näheren Umgebung. Einzig und allein eine Unzahl an Fußspuren deutete auf menschliche Zeichen hin. Es lag auch kaum noch etwas Verwertbares herum. Zum Glück fand sie ein paar einigermaßen trockene Decken, aus denen sie vor Einbruch der Dunkelheit noch schnell ein notdürftig geschütztes Nachtlager in den Ruinen des Verwaltungsgebäudes herrichten konnte. Eilig holte sie Sang und die beiden Kinder nach, die noch immer genauso dasaßen, wie sie sie zurückgelassen hatte. Sie konnte nicht einmal herausbekommen, zu wem das kleine Mädchen gehörte, geschweige denn ihren Namen. Auf ein wärmendes Lagerfeuer musste Yaji verzichten, da sie kein trockenes Holz hatte finden können, aber zumindest hatte sie noch etwas Proviant übrig, den sie den Kindern geben konnte. Sie zog die beiden dicht an sich heran, ihre Erschöpfung durch den langen und anstrengenden Tag machte sich bemerkbar und sie fiel sofort in einen bleiernen und unruhigen Schlaf.

Schon die ersten Sonnenstrahlen des frühen Morgens ließen sie wieder erwachen. Die beiden Kinder lagen mit offenen Augen still neben ihr und sie war sich nicht sicher, ob sie überhaupt etwas geschlafen hatten. Nur der kleine Sang schlummerte zusammengerollt immer noch tief und fest und musste für den Rückweg erst geweckt werden.

Da außer Vogelgezwitscher keinerlei Geräusche aus dem ehemaligen Dorf zu vernehmen waren, machte sich Yaji auch nicht mehr die Mühe, nochmals nach Lebenszeichen in den spärlichen Trümmern zu suchen. Ohnehin würde sie zusammen mit den Kindern erheblich länger für den Weg zurück in ihr eigenes Dorf brauchen, und vielleicht würden sie es nicht einmal mehr im Hellen schaffen. Die Kinder folgten ihr zwar ohne Zögern an der Hand, aber auf dem ersten Teil der Wegstrecke musste sie die Beiden zeitweise tragen, weil sie einfach noch zu klein waren und ihnen der Schlamm manchmal bis zu den Hüften reichte. Ganz zu schweigen von Sang, den sie dann sogar oftmals nachholen musste, weil er hilflos im Schlamm zu versinken drohte. So hatten sie bis zur Mittagszeit erst ein kurzes Stück des Weges hinter sich gebracht, aber immerhin ließ die Dicke der Schlammschicht inzwischen so weit nach, dass sie weder die Kinder noch Sang weiterhin mühsam tragen musste. Auch den schrecklichen Anblick der verloren wirkenden Häuser und Boote mitten auf den Wiesen hatten sie zum Glück schon hinter sich gelassen. Die Kinder hatten diesen in ihrem Zustand gar nicht wahrgenommen. Für Yaji hingegen war es weitaus schlimmer gewesen als auf dem Hinweg, da sie jetzt wusste, welch furchtbare und gewaltige Ursache dem zugrunde liegen musste. Sie war sich sicher, dass weder sie noch die beiden Kinder an ihrer Hand jemals den grausamen Anblick des zerstörten Fischerdorfes ganz aus ihren Gedanken und Erinnerungen verbannen konnten, obwohl sie nicht einmal erahnen konnte, was überhaupt zur Zeit in den Gedanken der Kinder vor sich ging.

Durch die übermäßigen Anstrengungen der bisher zurückgelegten Wegstrecke war Yaji mittlerweile schon wieder so erschöpft, dass sie eigentlich mehrere Stunden Pause und Schlaf benötigt hätte. Entlang des Wegesrandes gab es aber Fingerzeige der Natur, die in ihr Kräfte freisetzten, von denen sie niemals gedacht hätte, sie überhaupt zu besitzen.

Die Kirschblüte hatte in voller Schönheit und Pracht eingesetzt und immer häufiger sah sie nicht nur auf den weitläufigen Wiesen hellrosane Farbtupfer, die sie begleiteten, auch waren weite Teile ihres Weges von beiden Seiten in dichte Blütenblätter gehüllt, die noch am Tage zuvor nur ein spärliches, zartes Grün gezeigt hatten. Ihr Vorankommen wirkte wie unter rosanen Wolken hindurch und verlieh ihren Beinen Kraft, die sie niemals für möglich gehalten hatte. Sogar in den Augen der beiden Kleinen glaubte sie, ab und an ein glückliches Erstaunen erkennen zu können - leider nicht viel mehr. Nur Sang gab sich übermütig seiner unverfälschten Lebensfreude hin und versuchte unablässig, jedes der häufig herabsegelnden Blütenblätter aufzuschnappen und zeigte dabei keinerlei Anzeichen von Ermüdung.

Yaji wusste ganz genau, welch betriebsame Hektik in diesem Moment in ihrem Dorf herrschen musste, um, wie in jedem Jahr, das an genau diesem Abend beginnende Hanami vorzubereiten. Diese frohe Erwartung setzte noch einmal zusätzliche Kräfte in ihr frei, die ihr junger Körper eigentlich gar nicht haben dürfte. Wo sie unter normalen Umständen entkräftet niedergesunken wäre, beschleunigte sie jetzt noch ihren Schritt und schaffte es sogar, die beiden Kleinen ein Stück des Weges zu tragen, wenn diese aus eigener Kraft kaum noch folgen konnten.

Schon bevor sie die ersten Häuser in der einsetzenden Abenddämmerung erblicken konnte, sah sie von weitem einen leuchtenden Schimmer, der sich wie eine schützende Kuppel über das Dorf gelegt hatte. Je näher sie ihm kamen, desto schöner wurde das Leuchten im dämmrigen Licht des Abendhimmels. Selbst in den Gesichtern der beiden Kinder konnte Yaji nun endlich deutlich die ersten Regungen erkennen, seit sie sie aufgefunden hatte. Unzählige bunte Lampions hingen in allen Kirschbäumen des Dorfes und auf der Streuobstwiese ihrer Großmutter hatte sich wie jedes Jahr zum Hanami die ganze Dorfgemeinschaft versammelt. Auch wie jedes Jahr saßen auf den Decken und Kissen unter den dicht mit Blüten rosa erstrahlenden Ästen der Bäume nicht nur die Bewohner des Dorfes, sondern auch von überall her angereiste Freunde und Verwandte. Yaji vermisste aber gegenüber dem Vorjahr das fröhliche Durcheinander und die über allem liegende traditionelle Musik, welche die beginnende Kirschblüte begrüßen sollte.

Als Yaji mit den beiden Kindern an der Hand das Blickfeld der ersten Dorfbewohner erreichte, wurde es für einen kleinen Augenblick noch stiller auf dem Festplatz, geradezu totenstill, bevor ein Sturm der Freude über alle Anwesenden hereinbrach.

Unter den Gästen des Kirschblütenfestes befanden sich nicht nur wohlbehalten Yajis Onkel und ihre Tante, die sie in die Arme schließen konnte, auch etliche andere hatten den Tsunami in Kagishima überstanden. Zwar auch mit einigen Verletzungen und vielen Opfern, aber sie hatten überlebt. Die weitere Suche nach Überlebenden in den überschaubaren, kümmerlichen Resten ihres Dorfes hatten sie nach einiger Zeit resignierend und leidvoll aufgegeben, da man bei einem Tsunami keinerlei Hoffnung mehr darauf haben konnte, nach längerer Zeit noch jemanden zu finden. Und auch nicht darauf, ihr Dorf und den kleinen Fischerhafen schnell wieder aufbauen zu können. Deshalb hatten sich viele dazu entschlossen, gemeinsam mit Yajis Verwandten ihr Küstendorf für einige Zeit, wenn nicht für immer, zu verlassen. Jeder von ihnen hatte eigene, zu große Verluste erleiden müssen, als dass sie dort einen sofortigen Neuanfang hätten durchstehen können.

Niemand von ihnen konnte sich erklären, warum ihnen Yaji auf ihrem Weg nicht begegnet war.

 

Es dauerte nicht mehr lange, bis auch an diesem Kirschblütenfest endlich fröhliche Musik angestimmt wurde, wovon Yaji aber nur noch in ihren Träumen etwas mitbekam – sie war sofort völlig erschöpft, aber glücklich in den Armen ihrer Großmutter eingeschlafen.

Das kleine Mädchen stellte sich als die Tochter von Kahis Nachbarn mit dem Namen Kibo heraus: Kibo to kofuko – Hoffnung und Glück.

Niemals konnte jemand herausfinden, wie die beiden Kinder den Tsunami überleben konnten und warum sie sonst keiner der Dorfbewohner gefunden hatte.

 

Sakura – die Kirschblüte. Blüten der Freude, Sinnbild der Erneuerung und des Aufbaus. Jahr für Jahr mit der gleichen Kraft und Schönheit wiederkehrend, selbst in dunkelsten Zeiten ein Zeichen der Hoffnung und des Glücks.

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Quatscha

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UteSchuster ich bin überrascht wie viel Du mir allein durch die Kirschbäume - an interessantem vermitteln konntest. ich würde eigentlich gern weiterlesen, aber der Lockruf meines Mannes, dass morgen früh um 6 Uhr der Wekcer rappelt, lässt mich doch ein Lesezeichen setzen.

Du kannst Bilder in den Kopf deiner Leser pflanzen, das mag ich sehr.

ansonsten schließe ich mich voll und ganz Gunda an, es ist ein an die Hand nehmen, die Katastrophe sehend und doch nicht in weh und ach geschrieben.

bis seite 12 bin ich sehr gern mit gegangen.

Liebe Gute Nacht Grüße
Ute
Vor langer Zeit - Antworten
Gunda So, nun ... - ... hatte ich die Zeit zum Lesen. Was ich im Einzelnen dazu zu sagen hatte, weißt du ja schon. Zusammenfassend sei aber nochmal bemerkt, dass es eine sehr anrührende Geschichte ist, ohne dabei ins Rührselige abzugleiten, eine Geschichte, die den Leser auf eine sehr ansprechend bebilderte Reise mitnimmt und ihn der Protagonistin zu jeder Zeit über die Schulter blicken lässt. Wirklich gut zu lesen und seine fünf Sterne allemal wert.

Ich hoffe doch sehr, dass sich noch der eine oder andere Leser die Zeit für den Text nimmt.

Lieben Gruß
Gunda
Vor langer Zeit - Antworten
Gunda Hallo ... - ... Uwe, ich hoffe, du siehst es mir nach, dass ich diesen mehr oder weniger per Zufall entdeckten langen Text nicht am PC lesen mag. Ich werde ihn mir ausdrucken, um ihn in Ruhe in der Horizontale lesen zu können, und komme später darauf zurück.

Lieben Gruß
Gunda

PS: Noch im Lande?
Vor langer Zeit - Antworten
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