Kapitel 1 Untertitel wird leider nicht angezeigt Sam, die aufgrund des Todes von ihrem Vater ihre Gefühle nicht mehr unter Kontrolle hat, flüchtet inmitten der Beerdigung und begeht dann den größten Fehler ihres Lebens...
Regen tropfte langsam auf das Kirchendach, als wolle er mir und meiner Familie sein Beileid ausdrücken. Wir standen in einem Kreis um den offenen und leeren Sarg meines Vaters, indem sich nur persönliche Sachen wie ein Bild von ihm oder seinem Medaillon befanden, und lauschten den Worten des Pfarrers, einem gewöhnlichen Theologiestudenten, der sich als Einziger bereit erklärt hatte zu predigen. Doch ich hörte die Worte nicht. Ich war gefangen in einer bizarren Welt, in der es rauschte und immer wieder Bilder meines Großvaters und meines Vaters.
Ich zog die Kapuze tiefer ins Gesicht, sodass meine roten Haare nun vollständig verdeckt wurden. Ich verließ das Grüppchen um den Sarg herum und setzte mich auf eine steinerne Bank. Eigentlich hatte ich gehofft, dass mir niemand folgen würde, doch diese Hoffnung wurde zunichte gemacht, als ich meinen Bruder Desmond entdeckte. Er kam zügig auf mich zu geschritten und auf seinem Gesicht zeichnete sich Besorgnis ab.
„Was ist, Sam?“, fragte er fürsorglich.
„Ich musste allein sein.“
„Verstehe.“
„Nein, tust du nicht!“ Plötzlich brauste Wut in mir auf. Er konnte die Situation nicht verstehen, niemand konnte sie verstehen. Er am aller wenigsten. Er war vor fünf Jahren ausgezogen und hatte sich seitdem kaum noch gemeldet. Er hatte nicht die Hälfte seines Leben mit zwei Personen verbracht die jetzt beide tot waren.
Und wer war daran Schuld? Diese verfluchte Regierung. Sie hatte meinen Vater zum Ölbohren weggeschickt. Wegen ihr ist er jetzt 75 Meter unter der Erde begraben und ich konnte ihn nicht einmal im Sarg sehen. Wahrscheinlich hatten sie damals auch Großvater etwas eingeflößt, sodass sein Herz versagt hatte.
Ich stand auf und verließ den Friedhof. Meine Trauer hatte sich in Wut umgewandelt, die mich voranbrachte wie ein Motor. Doch ich wusste nicht, wohin sie mich bringen würde und trotzdem lief ich weiter. Mal bog ich rechts ab, mal links, aber ich entfernte mich mehr und mehr von den Menschen, die mich anstarrten in meinem schwarzen Kleid, solange bis meine Fersen wund waren und mir teuflische Schmerzen bereiteten. Ich ließ mich auf eine morsche Holzbank fallen und schlüpfte aus meinen Schuhen. Sorgfältig sah ich mich um, da ich nicht wusste wo ich befand, und erkannte, dass ich am äußeren Stadtrand angekommen war, wo die schicken Häuser alten, dreckigen Baracken wichen. Anstatt gepflegten Gärten fand man hier lediglich gepflasterte Höfe bedeckt mit Hundekot. Ich wusste zwar nicht wann ich das letzte Mal am Stadtrand gewesen war, doch ich war mir sicher, dass ich noch nie ein so heruntergekommenen Stadtteil gesehen hatte.Da ich mich immer noch nicht orientierten konnte, stapfte ich barfuß weiter Richtung Innenstadt. Ich war mir zwar nicht sicher, dass ich den Weg zum Herz der Stadt eingeschlagen hatte, doch, dass sich der Belag der Straße von Kopfsteinpflaster zu Beton änderte, deutete darauf hin. Nach zehn Minuten gelangte ich zur Hauptstraße, die direkt zum Regierungsgebäude der Westzone führte. Erstaunt bemerkte ich, dass diese nicht so verkehrsreich war wie sonst, sondern überfüllt von Menschen. Ich steuerte auf einen älteren, offensichtlich wohlhabenden Mann zu.
„Entschuldigen sie, könnten sie mir sagen, warum hier so viele Menschen sind?“
„Ach Kleines, sag nicht, du weißt es nicht. Heute ist der Tag der Erlöser.“ Er machte eine kleine Pause.
„Aber mit dem Kleid würde ich da auch nicht hingehen, du siehst ja aus, als würdest du von einer Beerdigung kommen.“
Der Tag der Erlöser! Den hatte ich in all dem Trubel ja ganz vergessen.
Wenn ich darüber nachdachte, hatte ich eigentlich gar keine Lust, wie diese riesige Menge zum Hauptplatz zu pilgern. Nicht nur, wegen meiner momentanen Situation, sondern auch, weil sich die ganze Veranstaltung sehr verändert hatte. Als mein Großvater Europa noch regierte, gab es andere Regeln und der Tag der Erlöser war verbunden gewesen mit Freude, feiern und viel Spektakel von Tänzern und Akrobaten auf der Bühne, auf der Präsident der Westzone, Parben Stag, am Anfang eine kurze Rede gehalten hatte. Heute war er nur noch ein Symbol für lange, aber euphorische Reden und einer zerdrückenden, gierigen Menschenmasse, die sich nach den Formalitäten auf das Buffet stürzte. Heute war Henvenburg, meine Heimatstadt, auch nicht mehr Europas Hauptstadt, sondern nur noch Das Herz des Westen, wie es manche nannten.
Trotzdem ging ich mit. Ich wusste nicht wieso, vielleicht, weil ich hoffte eine Art Entschuldigung wegen dem Unfall meines Vaters zu hören, oder auch, um einfach einmal abzuschalten.
Der lange Strom von plappernden Leuten kroch regelrecht, sodass es mich eine Stunde kostete, bis wir am Platz der Erlöser ankamen und, wie zu erwarten, gehörte ich zu den Letzten.
Der Präsident der Westzone, Parben Stag, stand an seinem Rednerpult, hatte aber noch nicht zu sprechen begonnen, da er anscheinend wartete, bis sein Volk zur Ruhe kam.
Nach und nach verstummte die Menge und Parben begann zu sprechen.
Zwar waren Lautsprecher auf der ganzen Fläche verteilt, doch aufgrund des leisen Gemurmels der einzelnen Passanten und meiner sehr schlechten Position, hörte ich nichts. Da ich die Rede des Präsidenten dennoch hören wollte, schlenderte ich zum Getränkestand und kaufte ein verziertes Glas mit Orangensaft, das hier nur benutzt wurde, da viele Leute mit hohem Rang die Reden besuchte, kehrte dann jedoch nicht zu meinem alten Platz zurück, sondern zwängte mich mit der Entschuldigung, meine Eltern befänden sich weiter hinten, an den Menschen vorbei, bis ich gut genug hören konnte.
„......damit überstiegen die Ausgaben für kranke Menschen die des vergangenen Jahres.“ Damit beendete er seine Rede, was mich zunächst sehr überraschte und ehrlich gesagt auch erzürnte, doch dann bemerkte ich, dass dies nur der Finanzminister gewesen war.
Als nächstes betrat der Wirtschaftsminister die Bühne. All diese Reden von Ministern hatte es bei meinem Großvater nicht gegeben, seine Regeln führten zu einem fröhlichen Fest und nicht zu einer nicht langweiligen Veranstaltung, bei der man einschlafen konnte. Genau dieser Einschlaf-Faktor veranlasste mich dazu, mich umzusehen. So weit mich Augen reichte, erspähte ich nur reiche Menschen. Wie immer. Die Oberschicht traf sich hier regelmäßig, die Unterschicht hatte sich hier noch nie blicken lassen. Die Mittelschicht gab es nicht. Keiner der Armen hatte so viel Geld, nicht als arm zu gelten, und keiner der Reichen hatte so wenig Geld, dass er nicht mehr zum Kreis der Wohlhabenden zu gehören. Die einzigen „Respektlosen“, so nannten wir die ärmeren Bürger, da sie nie den Tag der Erlöser feierten und den Erlösern somit kein Respekt zollen, waren Arbeiter, die entweder Straßen reinigten oder Sachen verkauften.
Ich schreckte auf, als ich eine laute Stimme hörte. Das war Parben Stag.
„Liebe Bürger, liebe Bürgerinnen, ich stehe heute hier und was wieder einmal nicht was ich ihnen erzählen soll.“
Die ganze Menge lachte laut auf, obwohl Parben diesen Witz jedes Mal riss. Mich konnte er damit nicht beeindrucken.
„Ich bin mir sicher, jeder von euch kennt die Geschichte der Erlöser und da Henvenburg keine Hauptstadt mehr ist, habe ich beschlossen euch heute etwas über die Westzone zu erzählen. Wer die Geschichte der Erlöser dennoch hören will, kann sich ja in die Landeshauptstadt begeben.“
Erneut brachen die Massen in schallendes Gelächter aus.
„Die Westzone ist wirtschaftliche Herz Europas. Wir sind unabhängig von Ölquellen, da wir unseren Strom aus erneuerbaren Energien gewinnen. Wir sind unabhängig von Getreide- oder Früchtelieferungen aus dem Ausland, da wir die tüchtigsten Arbeiter haben.“ Wut kochte in mir auf. Alles was er sagte, war gelogen.
„Wir besitzen die besten Diplomaten, da wir die fleißigsten Schulkinder gezeugt haben. Unter uns wohnen die klügsten Köpfe, da unsere Vorfahren sehr weise waren und wir alle wissbegierig sind. Und wer hat uns das alles ermöglicht? Die Erlöser!“ Die beiden letzten Worte brüllte er, sodass einem fast die Ohrendeckel weg flogen.
„Ich danke euch.“ Damit beendete er seine Rede. Ich drehte völlig durch, nicht nur, dass die Rede total kurz und sinnlos war, nein er hatte auch in keinem Wort den Unfall meines Vaters erwähnt, obwohl dabei knapp 100 Arbeiter ihr Leben gelassen hatten. Warum hatte er solche Lügen erzählt, dass wir keine Öl bräuchten, da wir von erneuerbaren Energien leben würden, obwohl ich von meinen Vater wusste, dass er im zerstörten Asien nach Öl bohren sollte? Außerdem importierten wir regelmäßig Bananen und andere exotische Früchte sowie Kaffee aus dem Ausland, das hatte zumindest mein Vater gesagt.
Ich sah Parben die Bühne heruntergehen und handelte schnell und ohne zu überlegen. Ich feuerte ihm mein Glas gegen Kopf, sodass er zu Boden ging.
Auf einmal starrten mich alle Menschen an und ich erkannte, dass ich ein großen Fehler begangen hatte. Ich rannte weg. Zwar hielten die Menschen mich auf, doch ich schlug um mich, bis sie mich losließen. Ich flüchtete querfeldein. Fegte durch Gärten und zerstörte diese dabei, weil ich nur Ziel vor Augen hatte: Weg von hier und zum Wald.
Selbst als meine Füße erneut zu schmerzen begannen, sprintete ich weiter, ständig verfolgt von der Angst gefasst zu werden. Erst als der Wald am Horizont auftauchte wurde ich langsamer. Niemand schien mir gefolgt zu sein und atmete tief ein. Dann begann ich zu heulen. Ich hatte den größten Fehler meines Lebens begangen, ich hatte den Präsident höchst persönlich verletzt, wenn nicht sogar getötet. Ich würde auf ewig verhasst sein und der Ruf meiner Familie wäre geschädigt. Ganz zu Schweigen von den rechtlichen Folgen, wahrscheinlich würde man mich in ein Gefängnis sperren, abschließen und den Schlüssel wegwerfen. Unser Nachbar hatte am eigenen Leib erlebt was passiert, wenn man sich dem Stärkeren widersetzt. Wahrscheinlich ist er im Gefängnis schon verrottet. Und mit mir wird das Gleiche geschehen. Ich lehnte den Rücken an einen Baum und schloss die Augen. Ich war verloren.