Beschreibung
Ein Mädchden, welchen Anorexia Nervosa hat, wird in einem Traum gezwungen sich mit sich selbst zu konfrontieren.
"Ich würde sterben, nur um einen einzigen Tag das zu sehen, was alle anderen sehen"
Es war erst früher Abend, doch Claire lag schon seit Stunden im Bett. Schlafen selbst konnte sie nicht wirklich, doch ihr fehlte die Kraft, um aufzustehen und irgendetwas zu machen. Sie wollte die eisige Kälte, die sie seit Tagen, Wochen, Monaten begleitete durch die dicken Decken fortjagen. Jeder Atemzug schmerzte in ihrer Brust, als würden schwere Gewichte auf ihr lasten. Wie ihre Umgebung aussah, konnte sie inzwischen nicht mehr sagen. Alles was sie wusste, alles was sie beschreiben konnte waren die Gefühle, die sie hatte. Immer wieder kamen Menschen in ihr Zimmer, die mit ihr redeten – nein nicht mit ihr, die auf sie einredeten. Das Bild, welches sie vor Augen hatte, verschwamm und sie spürte, dass Tränen über ihr Gesicht rollen sollten, doch ihr Körper konnte keine Kraft für solche Kleinigkeiten mehr verschwenden. Seine verbleibende Stärke musste er für die allernotwendigsten Lebensfunktionen einsetzen, wobei selbst diese nur noch sehr schwach versorgt wurden. Claire lag da im Bett, mit dem Kopf zur Wand gewendet, unter vielen dicken Decken. Sie glich einem kleinen Kind, zumindest von ihrem Körper her. Ihr blondes Haar, welches früher den perfekten Schwung hatte, war nun auf den paar Stellen, an denen sie noch nicht ausgegangen waren, farblos und spröde. Das Gesicht, welches sie vor langer Zeit auszeichnete, bestand nun aus weißer, fast durchsichtiger Haut. Die Knochen sah man überall, am Kopf, am Körper, egal wo sich ein kleiner Knochen befand, er stand heraus. Wenn sie ihre Arme noch wirklich bewegen könnte, um sich auf ihren Vorbau zu greifen, würde sie nichts vorfinden, denn dort, wo einmal eine wohlgeformte Brust war, befand sich nun nur eingefallene Haut, die deutlich von den Rippen geprägt wurde. Ihre Beckenknochen hoben sich so stark ab, dass sich dazwischen eine richtige Grube befand. Nur mit Haut überzogene Knochen, die früher Mal ihre Beine gewesen waren, lagen unbeweglich da. Wann hatte sie sie zuletzt bewegt? Ihr Körper war für sie nur noch eine Hülle, ohne Gefühle und vor allem hatte sie selbst keine Kontrolle mehr über ihn. Manchmal wurde sie von Personen in einen Rollstuhl gesetzt und musste sich dann spazieren fahren lassen, doch die Bilder, die sie da sah, blieben nicht in ihrem Gedächtnis. Tag ein Tag aus lebte sie eigentlich nur noch in ihrer kleinen Gedankenwelt, die jedoch nicht aus vielem bestand. Es war nur diese Stimme, mit der alles anfing, die in ihrem Kopf war. Dieser innere Feind herrschte über sie. Jeder Augenaufschlag war anstrengend, also schloss Claire ihre Augen ganz. Von Zeit zu Zeit vernahm sie Stimmen, die einmal aufgeregt, dann wieder traurig miteinander kommunizierten. Wer waren diese Leute? Nur ein paar Wortfetzen drangen wirklich zu ihr durch: „… kritischer Zustand … lebenden Toten … Hoffnungen … Vorbereitung … Tragödie … noch so jung …“ Die Bedeutung oder den Sinngehalt des Gehörten erkannte Claire nicht. Sie wollte es auch überhaupt nicht erkennen, denn das würde bedeuten, dass sie sich auf das konzentrieren muss, was viel Kraft bräuchte und momentan sollte all ihre Energie darauf gerichtet werden, dass sie nicht erfror. Es war so kalt – ihr war so kalt. Nach einer Weile verschwand die Geräuschkulisse. Nur noch eine eisige Stille blieb im Raum zurück. Claire atmete noch einige Male unter Schmerzen tief ein und aus, bevor sie einschlief."Du darfst nich weinen, denn Tränen bedeuten Schwäche und Schwäche bedeutet Kontrollverlust"
Du stehst mitten in einer Gasse. Zu deiner Rechten ist eine dicke Mauer, auf der verschiedene Plakate haften und die sehr dreckig wirkt. Auf der linken Seite befindet sich ebenfalls eine Wand, die in etwa genauso aussah wie die ihr gegenüber. Langsam und sehr unsicher machst du kleine Schritte vorwärts. Du steuerst auf irgendetwas zu, doch auf was? Instinktiv weißt du, wohin du gehen musst. Nur der Mond ist zu sehen, der alles in einen unheimlichen Schimmer wiegt. Du siehst nur sehr wenig, da die Wände zu beiden Seiten zusätzlich Licht wegnehmen. Trotzdem gehst du immer gerade weiter, bis du das Ende der Gasse erreichst. Erstaunt siehst du dich um. Wo bist du hier? Der Ort kommt dir sehr bekannt vor. Er ist nicht groß, eher ziemlich klein. Du machst noch ein paar Schritte, bis du in der Mitte stehst – in der Mitte von vier Gassen, die jeweils in alle Himmelsrichtungen auseinandergehen. Wohin wirst du gehen? In dir ist ein Zwiespalt: Die eine Hälfte will gerade weiter, doch die andere sagt dir, dass du einbiegen, nach rechts einbiegen sollst. Was tust du? Wie entscheidest du dich? Dein Kopf ist überfordert, denn sollst du dem Instinkt vertrauen, oder dem Verstand folgen? Während du dort stehst und den kühlen Wind auf deiner Haut spürst, wird dir bewusst, dass du dich schnell entscheiden musst. Irgendetwas oder irgendjemand folgt dir. Dieses Geschöpf, egal was es ist, hat nichts Gutes mit dir vor. Du verlierst allmählich die Sicherheit. Dein Kopf irrt herum, um eine Entscheidung zu treffen, doch je mehr du nachdenkst, umso unsicherer wirst du. Noch dazu steigt Angst in dir auf – Angst vor dem, was dich verfolgt. Plötzlich reißt du den Kopf herum. Du denkst, etwas hinter dir gehört zu haben. Steht dort im Dunkeln der Gasse eine Gestalt? Deine Sinne drehen durch. Dein ganzer Körper ist angespannt, denn du weißt nicht, ob es eine Einbildung ist, oder ob diese Gestalt wirklich dort steht und dich beobachtet. Das Schlimmste jedoch, du weißt noch immer nicht, in welche Richtung du rennen sollst. Wählst du die falsche, dann kann das schlimme Folgen haben, doch bleibst du hier, so wird, egal was es ist, es herkommen und eine Begegnung könnte unangenehm werden. Noch einmal schaust du beide Wege an. Dann hörst du deutlich Schritte, noch weiter entfernt, doch da ist jemand. Auf der Stelle fangen deine Beine an zu laufen, egal wohin, nur weg. Unbewusst bist du deinem Instinkt gefolgt, der dich gerade weiterleiten wollte. Jedes Mal, wenn du aufkommst, merkst du, dass du keine Schuhe anhast. Warum ist dir das erst jetzt aufgefallen? Die Unterseite der Füße spürt etwas Kaltes, Nasses. Du musst gerade durch eine Lacke gerannt sein. Es wird immer dunkler, die Häuser immer höher und nach einiger Zeit läufst du blind vorwärts – alles, nur nicht stehen bleiben. Das Aufkommen am Boden gibt dir jedes Mal einen stechenden Schmerz, da deine Füße schon wund sind. Ohne noch auf Geräusche zu achten, hörst du nur den Wind, der während des Laufens um deine Ohren saust. Zeitweise hört es sich fast so an, als ob er versucht etwas zu sagen. Was will er dir sagen? Plötzlich siehst du in nicht mehr weiter Ferne Umrisse, jedoch nicht von einer Gestalt. Helle Striche, die eine Tür kennzeichnen, hinter der Licht brennt. Ist das eine Sackgasse? Du steigerst dein Tempo noch ein bisschen und merkst, dass der Boden immer wärmer wird, je näher du der Tür kommst. Nicht lange überlegst du, ob du den Raum dahinter betreten sollst. Selbst wenn in der Dunkelheit noch eine andere Möglichkeit bestanden hätte du fühlst, dass es richtig ist dahinter zu gehen. Dein Instinkt sagt es dir und er wird dich doch nicht anlügen. Du reißt die Tür vollkommen auf und betrittst den Raum. Zunächst bist du geblendet, weil hier strahlend weißes Licht scheint, doch dann schließt du schnell den Eingang. Es ist kein Schloss da. Wie sollst du die Tür nur verschließen? Du kannst doch nicht darauf warten, dass die Gestalt kommt. Hat sie dich gesehen, als du hierher verschwunden bist? Erst nach kurzem Grübeln wird dir bewusst, dass du in einen dir fremden Raum bist und du dich noch nicht umgesehen hast, ob hier irgendetwas oder jemand ist. Langsam und vorsichtig drehst du dich um, doch alles, was du siehst, sind lauter Spiegel. Die ganze Wand ist mit ihnen bedeckt. Klein, groß, dick, dünn, neu, alt, billig, teuer, kaputt, unversehrt. Du siehst dich an die tausend Mal im Spiegel. Fasziniert, wie in einen Rausch verfallen, gehst du weiter in den Raum. Du lässt die Tür aus den Augen. Deine ganze Aufmerksamkeit ist den vielen Gesichtern gewidmet, die alle nur dir gehörten. Von der Seite, von unten, von oben und dann siehst du nach vorne. Dein Herz setzt kurz aus. Du schaust in den Spiegel und siehst nicht nur dich. Hinter dir steht es. Diese Gestalt, dieses Etwas. Es steht ganz still da, nur ein paar Meter hinter dir, in eine vollkommen schwarze Schleier gehüllt. Wie ein Schatten, doch diesmal sagt dir die Vernunft, dass es kein Schatten ist, dass es kein Freund ist. Ein eisiger Schauer läuft dir über den Rücken. Du weißt, dass dich dein Instinkt in diese Falle gelockt hat, dass er dich immer nur hinters Licht geführt hat und in Wirklichkeit die Stimme der Vernunft die ganze Zeit über versucht hat dich zu retten. Du presst die Augen zu, um dir einzureden, dass das hier nicht wahr ist, doch als du sie wieder aufmachst, steht die Gestalt noch genauso da wie vorher. Mit deinem ganzen Mut, deiner ganzen Kraft, drehst du dich um. Noch immer verharrt das in schwarz gehüllte Wesen in der gleichen Position wie zuvor. Du starrst es einige Zeit an. Auf einmal steigt entsetzliche Wut in dir auf, die du nicht mehr unterdrücken kannst. Du fängst an es anzuschreien: „Wieso bist du hier? Warum verfolgst du mich? Was willst du von mir? Was hab ich dir getan? Woher kommst du? Was bist du? Wer bist du?“ Die Gestalt rührt sich nicht in geringster Weise, als ob die Wörter an einem unsichtbaren Schild abprallen und es sie nicht hören konnte. Einen kurzen Moment lange bist du ein wenig verunsichert. Sollst du weiterschreien? Solltest du versuchen zu verschwinden? Noch stärker als zuvor gibt dir die Stimme der Vernunft das Gefühl, dass höchste Vorsicht geboten ist, da du in großer Gefahr bist. Ohne noch weiter zu überlegen, brüllst du alle deine unterdrückten Emotionen heraus: „Verschwinde! Lass mich in Ruhe! Wer bist du überhaupt? Was willst du hier? Hör auf mit diesem verdammten Schweigen! Warum sagst du nicht einfach alles?“ Umso mehr du schreist, desto mehr bekommst du das Gefühl, dass du schwächer wirst. Als ob diese Gestalt dir deine Kraft raubt. Ist es eine Einbildung von dir, oder ist das Wesen nun größer als zuvor? Wenn du wenigstens wüsstest, was es vorhat oder was es eigentlich will, doch es steht nur da. Nicht einmal das Gesicht, falls es eines hat, kannst du sehen. Du fühlst dich immer verängstigter, kleiner, schwächer. Eine Träne rollt über deine Wange – die nächste folgt. Ist es nicht immer eine deiner Regeln gewesen, nicht zu weinen? Warum weinst du dann jetzt? Dein oberstes Gebot war doch immer: Keine Schwäche zeigen, denn schwach sein ist der Verlust von Kontrolle. Warum hältst du dich nicht daran? Du brichst innerlich zusammen und siehst vor lauter Tränen schon fast nichts mehr. Vor Erschütterung sackst du auf die Knie. Unter Schluchzen bringst du noch einmal ein, „Wer bist du?“, heraus. Da schnellt eine von schwarzen Tüchern umschlungene Hand in deine Richtung. Für den Bruchteil einer Sekunde bleibt dein Herz stehen und du denkst, jetzt ist es aus, doch die Gestalt zeigt nur auf dich. Sie zeigt auf dich – warum zeigt sie auf dich? Inwiefern hängt das mit deiner Frage zusammen? Du wendest deinen Kopf in die Höhe, so dass du sehen kannst, dass die Gestalt genau über dir steht und die Hand vor deinem Gesicht hält. Nur wenige Zentimeter entfernt. Sie ist näher zu dir gekommen, ohne dass du es bemerkt hattest. Von unten sieht sie noch riesiger aus. Mit einem Zittern, welches den ganzen Körper packt, fragst du wieder: „Wer bist du? Wer zum Teufel bist du verdammt noch Mal?“ Einen kurzen Moment lang rührt die Gestalt sich nicht. Für diesen Bruchteil einer Sekunde umhüllt dich eine Stille, die dich bis in das tiefste Mark erschauern lässt. Plötzlich senkt das Wesen seinen Arm und im gleichen Augenblick zieht es mit der anderen Hand den schwarzen Schleier vom Kopf, der sein Gesicht verhüllt. Mit dem Geräusch, welches eine Feder machen würde, wenn sie am Boden aufkommt landet er auf dem Untergrund. Er ist so dünn, dass du dich fragst, aus welchem Material es besteht, doch noch zur selben Zeit erscheint dir die Frage unwichtig. Deine Augen weiten sich, als du das Gesicht der Gestalt siehst. Du kannst es nicht glauben. Wie konnte das sein? Reglos starrst du in die Höhe, als hast du Angst, das bei der leisesten Bewegung etwas passieren kann. Der Kopf, der enthüllt wurde, wird hundertfach wiedergegeben in den vielen Spiegeln. Auf dem Gesicht macht sich ein Lächeln breit und dann ging der Mund auf, als ob es etwas sagen will. Zuerst hüllt das Schweigen dich weiter in deinem Entsetzen ein, doch dann ertönen die Worte: „Ich bin das Du, welches das Du zum Ich machte.“ Der Satz hallt immer und immer wieder in deinem Kopf. Du siehst die Gestalt, hörst die Worte, doch verstehst es nicht. Für einen ganz kurzen Moment schließt du die Augen, um Ordnung bei den Geschehnissen zu bringen, doch als du sie wieder aufmachst, ist die Gestalt weg. Du bist ganz alleine in diesem Raum, der voller Spiegel ist. Du siehst nur dich, gespiegelt auf eine Anzahl des Unendlichen. Schon wieder kommen dir Tränen. Warum weinst du, es ist gegen die Regeln – gegen deine Regeln? Ein Zeichen der Schwäche, des Kontrollverlustes und du willst die Kontrolle nicht verlieren. Du hast aber nie gemerkt, dass du die Kontrolle schon längst verloren hast. Regeln, Gesetze, Vorschriften, Pflichten. Das Wichtigste hast du aber immer übersehen, was die ganze Zeit da war, dich selbst. "Tausend Mal nur ich, doch kein einziges Mal das ich, was ich kenne"
Ich finde mich selbst zusammengekauert am Boden wieder. Rund um mich herum sind überall diese Spiegel. Jeder zeigt eine Person, ein Mädchen – mich. Ich versuche wegzusehen, doch egal, wohin ich schaue, ringsherum erblicke ich immer und immer wieder das selbe Bild. Langsam richte ich mich auf und stelle mich direkt vor einen langen, breiten Spiegel. Ich komme mir so fremd vor, denn das, was ich sehe, entspricht nicht dem, was ich sonst immer sehe. Habe ich meinen Instinkt, das falsche Gefühl, die Stimme, die mir schaden will aus meinem Kopf verdrängt, so dass mir die Vernunft die Wahrheit zeigen kann? Zu lange Zeit habe ich sie immer ignoriert, doch jetzt höre ich auf sie. Mit einer Hand taste ich mein Gesicht ab. Vielleicht kann ich es einfach nicht glauben, was ich hier sehe. Als hätte ich mich innerhalb weniger Minuten von Aussehen um 180 Grad gewendet. Ich berühre mein Haare oder das, was noch von ihnen übrig geblieben ist. Nur noch wenige Büschel zieren meinen Kopf und selbst die sind fast farblos. Mein Gesicht macht mir selbst Angst. Bin das wirklich ich? Die Augen sind in Höhlen verschwunden, die Wangenknochen sind nur mit einer gespannten Hautschicht überzogen und mein Kopf wirkt so groß im Vergleich zum Rest von mir. Von meinem Hals abwärts sieht man sämtliche Knochen, die meistens spitz herausragen. Meine Hand wandert in die Richtung meiner Brust, doch da ist nichts. Alles, was man spürt, sind die Rippen, von denen man jede einzelne deutlich sehen kann. Ich sehe aus wie ein Skelett. Meine Beckenknochen stehen so enorm hervor, dass ich mich selber nicht mehr traue sie anzugreifen. Sind das meine Beine? Oh mein Gott, wie Zahnstocher, die jeden Moment auseinanderfallen können. Ich sehe dieses Bild von mir, welches ich all die Zeit über nicht sehen konnte. Nur die Anderen mussten mich die ganze Zeit über so betrachten, wie ich mich jetzt erkenne. Dieses Ich, was ich immer sein wollte, ist für mich plötzlich abstoßend. Immer wollte ich so dünn sein wie die Models auf Plakaten. So leicht wie eine Feder, doch wenn ich mich jetzt ansehe, dann wünsche ich mir nichts mehr, als niemals in diesen Teufelskreis gekommen zu sein. Wann habe ich zuletzt wirkliche Nahrung zu mir genommen? Welcher Tag war der letzte, an dem ich richtiges Essen genossen habe? Essen… ein Wort, das Leben zerstören kann, doch kann man trotzdem nicht ganz darauf verzichten. Ich möchte wieder den Geschmack von Schokolade, einen Stück Torte, einen Apfel, von so vielen kennen. Die ganze Zeit, die ich damit verbracht habe auf meinen Instinkt zu vertrauen, habe ich Freunde verloren, meine Familie verletzt und Unmengen von Lügen erzählt - Ich habe schon gegessen. Ich habe mir in der Schule etwas gekauft. Wir waren heute in der Pizzeria. Tausend Lügen mit einem Ziel vor Augen, welches unerreichbar war, denn je mehr ich abgenommen hatte, umso dicker fand ich mich. Nun betrachte ich das Ergebnis von all dem. Ein Mädchen, das nur noch aus Haut und Knochen besteht – dieses Mädchen - diese wandelnde Leiche, das alles bin ich. Meine Hand tastet sich langsam über meinen Körper, oder besser gesagt über das, was davon übrig geblieben ist. Die Haut fühlt sich so rau und kalt an, als ob sie aus Leder besteht. Meine Augen betrachten noch immer einerseits fasziniert andererseits sehr geschockt das Bild, das sich mir bietet. Ich kann es irgendwie nicht glauben, dass ich mich immer so viel anders gesehen habe. Eine einzelne Träne rollt über meine Wange. Was habe ich aus mir gemacht? Ich bin ein Skelett, eine wandelnde Puppe, die man gebrauchen kann, wenn man die Anatomie des menschlichen Körpers erklären will, da man bei mir jeden Knochen bewundern kann. Ich sehe mich und fühle diesen Hass aufsteigen, diese Wut. Diesmal jedoch nicht, weil ich mich zu dick, hässlich oder Sonstiges finde, sondern dieses eine Mal, weil ich mich dafür hasse, wie dünn ich bin.
Du bist immer nur deinem Instinkt gefolgt und der hätte dich doch nie angelogen, oder irre ich mich? Natürlich hat er dich immer nur angelogen. Es war nicht dein Instinkt, es war eine Stimme im Kopf, die eine Stimme, mit der alles anfing. Wenn du einen Grippevirus bekommst, wirst du zuerst angesteckt, unbewusst, doch es geschieht, dann werden viele Zellen in dir infiziert, die Krankheit bricht aus, dein Immunsystem kann sich immer weniger wehren, doch bei einer Grippe nimmst du ein Medikament und du wirst gesund. Deine Krankheit ist viel schlimmer, denn infiziert wurdest du durch die Medien, durch die andauernde Konfrontation mit der „Schönheit & Perfektion“. Es wurden deine Sinne angegriffen, sodass sich eine fremde Stimme in deinen Kopf einnistete. Die Stimme, von der du immer glaubtest, dass sie dein Instinkt sei. Der Ausbruch erfolgte, indem du dich selbst anders sahst, dich anders wahrnahmst. In dem Stadium hättest du bei einer normalen Krankheit ein Medikament, eine Spritze, irgendetwas verschrieben bekommen, doch bei dem, was du hast, konnte man dir nichts geben, nichts was dich gesund gemacht hätte. Dein Verstand kämpfte anfangs stark an, damit die Stimme nicht die Kontrolle über dich übernimmt. Du dachtest die ganze Zeit, dass du allein die Macht über dich hast, doch war es eigentlich immer dein „Instinkt“, der sie hatte. Alle deine Regeln, Gesetze, die deine kleine Welt so perfekt machten, waren weitere Ketten, die dich immer mehr fesselten. Du liefst in einen Irrgarten und die Stimme, die dich herausführen wollte, hast du ignoriert, denn wer hört auf etwas was leise ist, wenn man die Möglichkeit hat den lauten Befehlen zu folgen? Anfangs gefiel es dir noch, doch dann wurden es immer mehr Regeln – Du darfst nicht weinen. Du darfst nicht reden. Du darfst nicht ruhen. Du darfst nicht essen. Du darfst nicht ehrlich sein. Du darfst nicht trinken. Du darfst nicht deine Gefühle zeigen. Zuerst fünf, dann zehn und irgendwann waren so viele Regeln da, dass du, um sie alle befolgen zu können die normalen Lebensregeln vernachlässigt hast. Du hast vor langem aufgehört wirklich zu leben, denn das, was du hier führst, ist kein Leben mehr. So oft gab man dir die Chance neu zu beginnen, alles anders zu machen, etwas zu verändern. Hast du sie jemals genutzt? Die Antwort brauchst du mir nicht geben, denn ich kenne dich besser als alle anderen. Ich bin deine Stimme der Vernunft. So lange habe ich versucht dich zu retten, doch du wolltest es nicht, du wolltest überhaupt nicht mehr und nun siehst du, was du davon hast, wie dein Leben aussieht. Betrachte dich genau, denn so wolltest du immer aussehen. Das war doch die ganze Zeit dein Ziel. Du hast es erreicht – Gratulation. Bist du jetzt glücklicher? Hast du jetzt mehr Freunde, bist beliebter?"Man kann nicht vor sich selber wegrennen"
Eine Träne nach der anderen rinnt mir über meine Wange. Ich zittere am ganzen Körper. Mir ist auf einmal so kalt geworden. Mit schweren Schritten versuche ich die Tür zu erreichen, um aus dem Raum zu verschwinden, doch sie ist immer weiter entfernt. Alles um mich herum dreht sich und verschwindet in weiter Ferne. Auf einmal spüre ich einen heftigen Stich. Als ob mir jemand mitten ins Herz gestochen hat. Ich taste auf meiner Brust nach einem Einstich, doch es ist nichts zu finden. Noch ein Schmerz, doch diesmal in meiner Lunge. Das Atmen fällt mir schwerer. Inzwischen umgibt mich Dunkelheit. Ich versuche Luft zu holen, aber ich merke, dass ich diesen Kampf nicht gewinnen kann. In mir sagt mir keine Stimme mehr, was ich jetzt machen soll, weder Instinkt noch Vernunft. Ich bin auf mich allein gestellt – alleine im Dunkeln, mit Schmerzen. Ein letztes Mal versuche ich mit aller Kraft Luft zu holen, doch mein Körper verweigert mir seine Dienste. Mein Kopf wird immer schwerer und es fühlt sich an, als ob ich einschlafen würde. Alle meine Gedanken sind verschwommen. Ich spüre, dass mein Mund innen immer trockener wird. Meine Lider sind so schwer, dass ich sie schließe.
„Claire!?“, kreischte ihre Mutter. Ihr Vater stand sprachlos daneben. „Weg vom Tisch!“, brüllte ein Mann, der einen langen weißen Kittel trug. Ein Stromstoß durchströmte ihren Körper. Nichts… keine Reaktion… Ihre Mutter schluchzte heftig auf, auch ihr Vater brach in Tränen aus. Die Ärzte schüttelten die Köpfe und einige murmelten: „Sie war noch so jung…“ Claire selbst lag mit schon leicht blauen Lippen, komplett weißer Haut und vollkommen reglos in dem Bett. Sie war tot. Gestorben an dem Wunsch dünn zu sein, doch zumindest im Tod war sie glücklich, denn auf ihren Mund konnte man ein glückliches Lächeln sehen, welches ihr zu Lebzeiten nicht vergönnt gewesen war.