Die Wölfin und das Leben
Es war einmal in einem tiefen, dunklen Wald, da lebte eine junge Wölfin. Sie war in einem großen Rudel zu Hause, doch oft konnte man beobachten, wie sie allein umherstreifte, denn die Wölfin dachte gerne nach. Zum Beispiel darüber, warum das Leben nie genau das war, was sie sich wünschte. Es war ein gutes Leben, das sie führte, und die Wölfin wollte sich nicht beklagen. Doch manchmal hatte sie das Gefühl, dass ihr etwas fehlte, oder dass etwas nicht so vonstattenging, wie sie es sich vorgestellt hatte.
»Wäre es nicht viel einfacher, wenn man immer genau das vom Leben bekäme, was man wollte?«, fragte sie deshalb eines Nachts die anderen Wölfe, als sie gemeinsam den Mond anheulten. Diese kannten die Fragen der jungen Wölfin bereits und nahmen sie nicht weiter ernst.
»Du machst dir zu viele Gedanken«, antworteten sie. »Am einfachsten ist das Leben, wenn man ihm keine Fragen stellt.«
Die Wölfin dachte darüber nach, als sich das Rudel zum Schlafen niederlegte, doch die Antwort stellte sie nicht zufrieden.
Sie wandte sich an ihren Bruder, den Mond, der über ihr am Himmel stand.
»Bruder Mond«, sagte sie, »Lieber Bruder Mond, sag: Warum ist das Leben nicht so, wie man es sich wünscht?«
»Die Frage ist, warum du dir etwas wünschst, das dir das Leben nicht gibt«, antwortete der Mond. »Jede Nacht stehe ich am Himmel. Heute erscheine ich dir rund und hell. Doch bald schon werde ich dürr und ausgezehrt sein, sodass du mich gar nicht mehr sehen kannst. Aber ich bin zufrieden mit dem, was ich habe. Das Leben ist am einfachsten, wenn man mit ihm zufrieden ist.«
Die junge Wölfin dachte auch über diese Antwort nach. Doch noch immer konnte sie nicht ruhig einschlafen. Da ging sie zu Mutter Erde, denn Mutter Erde war sehr weise und wusste fast alles.
»Mutter Erde«, sprach die Wölfin, »Gute Mutter Erde, verrate mir: Warum ist das Leben nicht immer so, wie man es haben will?«
»Die Frage ist, warum es dafür einen Grund geben muss«, raunte die alte Erde. »Tag für Tag drehe ich mich im Kreise, immerzu beschreibe ich denselben Weg. Sorge dafür, dass du am Tage die Sonne sehen kannst und in der Nacht den Mond. Ich mache, dass aus dem Frühling der Sommer wird, und danach Herbst und Winter. Immer dasselbe, seit Jahr und Tag. Es ist nun einmal, wie es ist. Das Leben ist am einfachsten, wenn man es akzeptiert.«
Die Wölfin grübelte lange, doch noch immer konnte sie mit den Antworten nicht zufrieden sein. Da fasste sie sich ein Herz und fragte das Leben selbst.
»Liebes Leben«, begann sie, »So sage mir: Warum bist du nicht so, wie ich es mir wünsche?«
»Ach«, seufzte da das Leben, »Ich bin froh, dass du fragst. Die meisten nehmen mich einfach hin. Sie geben sich zufrieden mit dem, was ich tue, und fragen nicht einmal nach dem Grund. Doch woher soll ich wissen, was du dir von mir wünschst, wenn du es mir nicht zeigst?«
Die Wölfin war verwundert. »Und wie soll ich das tun?«, fragte sie.
»Die Wahrheit ist, dass ich formbar bin«, sprach das Leben. »Du kannst mich verbiegen, meine Gestalt ändern - nur zu, hab keine Scheu! Es tut mir nicht weh. Du kannst mich verändern, wie es dir beliebt. Du musst nur den Mut dazu haben.« Gütig lächelte das Leben auf die junge Wölfin herab. »Es mag vielleicht nicht das einfachste sein. Doch am schönsten ist das Leben, wenn du es selbst in die Hand genommen hast.«