Soria
Kapitel 2
Man sah ihrem regungslosen Körper nur zu deutlich an, dass die Lichten nicht zimperlich mit ihr umgegangen waren. Schon allein ihr Gesicht war bedeckt von mehreren dunklen Blutergüssen und Schrammen. Mich hätte es nicht gewundert, wenn sie noch sehr viel schlimmere Verletzungen woanders davongetragen hatte.
Langsam trat ich näher und hockte mich vor ihr hin, um ihren Puls zu fühlen. Ich brauchte einige Momente, um ihn zu finden. Er war schwach. Aber immerhin war er da. Wahrscheinlich würde sie es sogar überleben. Armes Ding. Menschen waren wirklich Kreaturen, die es nicht verdienten zu leben. Wie konnte der schwache Strom der elementaren Magie, den mein rechtes Auge in ihrem Leib erblickte, ein Grund dafür sein ein Kind ihrer eigenen Art zu misshandeln und als Forschungsobjekt zu missbrauchen? Verfluchte Scheiße, was ging in diesen kranken Köpfen nur vor?!
Ich richtete mich wieder auf, sah einmal kopfschüttelnd auf den kleinen Körper herab und schluckte meine Wut herunter. Es nützte mir nichts ihr jetzt nachzugeben. Ihre Kraft würde ich in naher Zukunft bestimmt besser gebrauchen können.
Schließlich legte ich mich wieder auf die Pritsche und schloss die Augen in der Hoffnung, dass das Mädchen in absehbarer Zeit nicht ihr Bewusstsein wiedererlagen würde. Nach wie vor wäre es besser für sie, von all dem so wenig wie möglich mitzubekommen. Außerdem hatte ich ehrlich gesagt keine große Lust dazu meine Zelle mit einem nervigen kleinen Kind zu teilen. Ausnahmsweise schien sich meine Bitte zu erfüllen und nach wenigen Minuten überwältigte der Schlaf meinen erschöpften Körper.
Doch war es mir nicht vergönnt lange ungestört zu sein. Ich fühlte mich, als hätte ich die Augen gerade erst zu gemacht, als mich jemand sanft an den Schultern wachrüttelte. Verschlafen fuhr ich hoch und bereitete mich reflexartig darauf vor mich zu verteidigen, weil ich die hässliche Fratze meines Wächters erwartete.
Doch als ich das schmutzige Gesicht des Mädchens erkannte, entspannte ich mich und setzte mich erleichtert auf die Pritsche. Unbeschwert streckte ich meine steifen Glieder und betrachtete das schweigende Mädchen. Das Erste, was mir auffiel, war, dass das Mädchen keine Anstalten machte Angst oder Abscheu zu zeigen. Es war eher das Gegenteil. Ihr Blick haftete fasziniert auf meinem Auge. Das erste freundliche Lächeln seit langer Zeit stahl sich auf mein Gesicht und ich fragte: „Hast du mich nur geweckt, um mich anzustarren?“ Das Mädchen erschrak und fing beschämt an den Boden zu mustern. Mein Lächeln wurde größer. Dieser kleine Wicht schien mehr Intelligenz zu besitzen als alle Lichten in diesem Kerker zusammen.
„Zeigen wir Manieren, oder sind wir nur schüchtern?“, neckte ich sie und rückte ein wenig auf der Pritsche auf, um ihr Platz zu machen. Verunsichert beobachtete sie mich, während sie die Entfernung zu mir hielt. Ich konnte es ihr nicht verübeln. Diese Reaktion hatte ich ohnehin erwartet. Sie schwieg, warf mir aber immer wieder verunsicherte Blicke zu.
„Ich kann dir nicht helfen, wenn du nicht deinen Mund aufmachst, Stöpsel.“, meinte ich, wobei ich ein Gähnen nicht unterdrücken konnte. Sie warf mir erneut einen Blick zu, wobei ich meinte etwas Beleidigtes in ihm zu erkennen. Dann folgten wieder Momente der Stille, doch bevor ich sie mit einem erneuten Gähnen durchbrechen konnte, fragte sie mit zittriger Stimme: „Was wird mit mir passieren… Wo sind wir?“
„Hast du den Namen Caliatia schon einmal gehört?“, fragte ich, doch sie schüttelte nur den Kopf. Ich seufzte und meinte tonlos: „Du solltest dich schon mal an den Gedanken gewöhnen, als Laborratte zu enden. Dieser… Ort ist das größte Forschungsgelände der Lichten.“
„Forschungsgelände?“, echote sie zittrig.
„Genau. Wahrscheinlich werden sie dich aufschneiden, um nach irgendeinem Organ zu suchen, das die elementare Magie produziert, die sie so verachten, oder so was in der Richtung. Mach dir keine Hoffnungen, Winzling. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass du die nächsten Tage gut überstehst.“, prophezeite ich düster.
Zwar tat sie mir leid, aber dennoch hatte sie das Recht auf die Wahrheit. Wenn sie damit nicht hätte umgehen können, wäre es schließlich nicht mein Problem gewesen. Doch anstelle in Tränen auszubrechen oder eine andere nervige Reaktion zu zeigen, schob sie trotzig ihre Unterlippe vor und starrte den Boden an. Entweder verstand sie nicht, was ich ihr gerade gesagt hatte, oder aber sie war interessanter als ich es erwartet hätte. Normalerweise sind alle Elementare und magischen Wesen, die hier eingepfercht werden schon von Anfang an gebrochen. Sie zitterte zwar wie Espenlaub, aber das war wohl eher auf ihre zerrissene Kleidung, die Käte des Bodens, den Schock und die Schmerzen zurückzuführen, als darauf, dass sie in Hoffnungslosigkeit ertrank.
Plötzlich schaute sie auf und blickte mir zögerlich in die Augen. Einen Moment reagierte ich gar nicht, doch dann hob ich überrascht und fragend eine Augenbraue. Darauf schluckte sie und flüsterte kaum vernehmlich: „Ich heiße Soria… Und… ich…“, der Rest war nur noch ein unverständlich leises Gemurmel.
„Deine Stimme ist also auch winzig… Versuch wenigstens so zu sprechen, dass ich dich verstehen kann.“, meinte ich trocken und erwiderte ihren Blick ruhig.
Sie zuckte leicht zusammen und etwas Aufgebrachtes schlich sich in den Ausdruck ihrer rehbraunen Augen.
„Ich bin nicht winzig! Und erst recht kein Winzling!“, brummte sie mit trotzig aufgeblasen Backen. Amüsiert zog sich mein rechter Mundwinkel nach oben und ich beugte mich ein wenig vor. „Wenn du kein Winzling bist, bin ich ein Lichter.“
Sie pumpte ihre Backen noch ein Stückchen weiter auf, schaute dann aber wieder auf den Boden und murmelte zu sich selbst: „Fiesling!“
Belustigt schnaubte ich und wollte sie über ihre Gefangennahme ausfragen, als mein rechtes Auge plötzlich einen äußerst schmerzhaften Strahl in mein Gehirn schickte.
Überrascht keuchte ich auf und schlug mir die Hände reflexartig auf das Auge. Soria stieß einen spitzen Schrei aus und bedrängte mich mit Fragen, die mich nicht erreichten. Der Schmerz pulsierte immer wieder durch meinen Körper, unkontrolliert zuckte ich jedes Mal zusammen. Doch dann ließen sie fast genauso schnell wieder nach, wie sie gekommen waren. Ich kannte diese Prozedur. Der Teleporter wurde wieder aktiviert, um einen der wichtigen Magier des Reiches zu seinen Versuchsobjekten zu transportieren. Wie ich das hasste. Schmerzen dieser Art waren meist die Vorboten für noch sehr viel schlimmere Stunden.
Doch für den Moment sollte es mich nicht weiter kümmern. Ich lenkte meine Aufmerksamkeit wieder auf das Mädchen, das aufgeregt um mich herum tapste und mich ängstlich musterte. „G-geht es dir gut?“, fragte sie besorgt, „Haben sie dich auch aufgeschnitten?“
Überrascht über ihre Anteilnahme schwieg ich vorerst und erwiderte stattdessen ihren forschenden Blick. Sie schien die Reaktion meines Auges auf die Magie wohl als Folge der Untersuchungen zu sehen. Verächtlich schnaubte ich, legte ihr meine Hand auf den Schopf und beugte mich vor, sodass ich mit ihr auf Augenhöhe war. „Eher fliegt das gesamte Imperium der Lichten in die Luft, als das ich mich von diesen Armleuchtern aufschneiden lassen würde.“
„D-du wirst also nicht sterben?“
Ein freudloses Lachen entfuhr mir, das zu einem gefährlichen Lächeln überging. „Allein ich entscheide wann, wie und wo ich sterbe.“, erklärte ich leise, mit einem bedeutenden Unterton, „Und ich habe vor noch eine ganze Zeit lang zu leben.“
Es entstand ein weiteres kurzes Schweigen, in dem ich mich wieder aufrichtete und die Arme hinter meinem Kopf kreuzte. Dann war das Mädchen plötzlich neben mir, legte mir eine Hand auf das Knie und nutzte es, um neben mir auf die Pritsche zu klettern. Es war als wäre ihre anfängliche Angst vor mir fast völlig verschwunden.
„Neh, du bist kein Mensch, oder?“
„Hoff ich doch.“, erwiderte ich knapp und legte mich hin. Doch sofort tauchte ihr Gesicht über mir auf und an ihrem fragenden Ausdruck erkannte ich, dass ich sie damit wohl kaum zufriedenstelle könnte.
„Ich bin ein Seher.“, gähnte ich und zwinkerte ihr mit meinem rechten Auge zu.
Die Verblüffung stand ihr ins Gesicht geschrieben und sie rückte ein Stückchen näher an mich heran. „Du kennst die Geschichten also?“, fragte ich.
Vorsichtig nickte sie und zitierte leise:
„Neben den Salvi, den Kreaturen der Nacht und den Iavi, den Wesen des Lichts, erschufen die Götter die Weber der Wahrheit. Als diese die irdische Welt betraten, sahen sie die Unvollkommenheit der Schöpfung und begannen neue Wahrheiten zu weben. Doch kein Mensch, kein Salvi, kein Geschöpf, das durch die Werte der alten Götter erschaffen wurde, vermochte es die neuen Wahrheiten zu begreifen. Sie verzweifelten an der neuen Realität, Chaos brach über die Welt hinein. Doch die Weber der Wahrheit sahen ihr Leiden nicht. Sie webten weiter, um eine Welt zu erschaffen, die perfekt war. Nur den vereinten Gebeten der Salvi und Menschen war es zu verdanken, dass die Götter von der Not der Welt erfuhren. Denn die Weber hatten einen Schleier über die Erde gelegt, der die Götter bis zum Tage der Zusammenkunft, ihre alte Ordnung vorgegaukelt hatte. Aber nachdem sie nun von den Bemühungen der Weber erfahren hatten, wurde ihr Zorn geweckt. In einem Gewitter ihres heiligen Zorns stoppten sie die Weber, die verzweifelt für ihre Vorstellungen gekämpft hatten. Doch sie waren zu spät. Selbst die Macht der Götter reichte nicht aus, um die neuen Wahrheiten, die in das Gedächtnis der Erde geprägt wurden, zu zerstören. In ihrer gnadenlosen Wut entfachten sie ein Himmelsfeuer, das heller brannte als die Sonne. Die Körper der Weber verbrannten, doch ihre Existenz war schon lange zu einem Teil der Welt geworden und so vergoss ein jeder Weber eine Träne aus seinem rechten Auge. Diese Tränen fielen zur Erde. Und ein jeder, der von solch einer Träne getroffen wurde, konnte sehen, was die Schöpfer der Wahrheit zu sehen vermochten. Sie sahen all das, was eine Kreatur der Schöpfung nicht sehen konnte.“
„Und sie waren auch die einzigen die sehen konnte, dass die neu entstandenen Sterne die letzten Funken des großen Himmelsfeuer waren, das der Seher ihrer Körper beraubt hatte.“, ergänzte ich und nickte zufrieden, „So ists. Ich bin ein Seher. Ein Feind der Götter und damit ein Feind der Menschen…. Ziemlich angsteinflößend, oder?“
Für einen Moment zögerte Soria, musterte mich verunsichert, kam näher mit ihrem Gesicht an mich heran und starrte mich durchdringend an. Fragend hob ich meine Augenbraun in einer Art und Weise die sagte: „Was hat dich denn jetzt gebissen?“
Dann schüttelte sie aber wild ihren Kopf, so dass ihre Haare umherflogen und meinte energisch: „Die doofen Magier sind viiieeeeeeeel böser als du. Die machen mir Angst, du aber nicht! Du bist viel lieber, als alle von ihnen zusammen!“ Dabei schlug sie die Hände neben sich auf die Pritsche, beugte sich weiter über und stützte sich dabei auf den dünnen Armen ab, um ihre ersten Absichten zu betonen. Ihre Augen glänzten leicht.
Ich musste schmunzeln, als mich ihre ehrlichen Worte innerlich wärmten, jedoch brachte ich nur ein trauriges Lächeln hervor. Sie wusste nicht, wie sie behandelt werden würde, wenn sie dies öffentlich ausgesprochen hätte. Sie war jung, hatte keinen Blick für die Konsequenzen, sie war ein unbeschriebenes Blatt. Aber ich wünschte mir nichts anderes. Denn nur eine leere Seite würde Monstern, wie auch ich eines war, Augenblicke wahrer Akzeptanz schenken und sich von ihren Worten prägen lassen. Innerlich seufzte ich. Doch wie viele unbeschriebene Blätter gab es wohl noch? Wie viele Kindergeiste waren noch nicht von den Lehren der Eltern in eiserne Ketten gelegt?
So schnell wie dieser sentimentale Moment kam, flog er auch wieder vorbei. Mühelos verlieh ich meinem Lächeln einen Hauch von Dankbarkeit und strich Soria sanft über den Kopf. Es ist wirklich eine Schande, dass ich sie hier treffen musste. Bei dem Gedanken wallte erneut die Wut in mir hoch. Wie konnten diese glänzenden Affen es nur wagen! Kochend ballte ich meine Faust so fest ich konnte. Ich spürte schon wie mir mein Blut ins Auge rauschte. Irgendwie musste ich mich abkühlen, sonst würde hier heute noch ein Unglück geschehen. Ich musste warten bis die Zeit reif war. Eine unüberlegte Handlung würde nun nicht nur mich, sondern auch Soria tief in die Scheiße reiten.
Doch in diesem Moment hörte ich das Knarren der schweren Türen zu dem Trakt, in dem wir gehalten wurden. Eine düstere Vorahnung befiel mich, denn die Ankömmlinge waren zwei Magier, die mein rechtes Auge zum Jucken brachten. Den einen erkannte ich fast sofort als Tarsian, den Magier, der den Befehl über diese Hölle hatte. Die Magie des anderen erkannte ich allerdings nicht wieder. Er musste derjenige sein, für den der Teleporter aktiviert wurde.
Beunruhigt registrierte ich, dass sie auf unsere Zelle zuhielten. Schon nach wenigen Augenblicken waren ihre leichten Schritte zu vernehmen. Langsam richtete ich mich auf und wollte gerade aufstehen, als sich Sorias dünne Arme plötzlich von hinten um meinen Brustkorb schlossen. Sofort spürte ich ihren zitternden Leib, der meiner Wut und meinem Hass neues Futter lieferte. Als die beiden Magier schließlich vor unsere Zelle traten, hatte sich bereits ein klarer Gedanke in meinem Kopf gefestigt.