Ben der Baum II
Die Rache des Löwen
Kapitel 1:
Famir der Adler setzte langsam zur Landung an. Seine breiten, stolzen Schwingen bewegten sich nun nicht mehr auf und ab und zerschnitten dabei förmlich die Luft, sie standen waagerecht, liessen den mächtigen Greifvogel sanft zur Erde gleiten. Trotz seines mittlerweile hohen Alters hatte er eine beachtliche Strecke zurückgelegt, nun brauchte er aber eine Pause. Früher wäre ihm das nicht passiert, früher, als er noch in der Blüte seines Lebens stand, hätte er auch den Rest des Weges noch geschafft, ohne zu verschnaufen. Aber Famir war mit dem Alter auch gelassener geworden. Den falschen Stolz, der ihn vor Jahren immer wieder an den Rand seiner eigenen Leistungsfähigkeit getrieben hatte, hatte er abgelegt. Er musste niemandem mehr etwas beweisen. Eigentlich musste er das noch nie, nur war ihm das in manchen Situation nicht klar gewesen. Dennoch wollte er diese Tradition nicht aufgeben. Diese Reisen machte er schon sein ganzes Leben, jedes Jahr, wenn die Sonne ihre Kraft voll entfaltete und es heiss auf der Erde wurde, machte er sich auf, fremde Gegenden zu erkunden. Er hatte viel gesehen, viele neue Freunde gewonnen, viele Kämpfe austragen müssen. Die meisten hatte er gewonnen, etwas auf das er heute nur bedingt stolz war. Er hatte es immer schon gehasst, zu kämpfen, lieber lebte er in Frieden mit allen Lebewesen auf der Welt. Manche dieser Lebewesen allerdings liebten den Streit, die Auseinadersetzung, auch wenn sie körperlich wurde und Schmerzen verursachte. Überall auf der Welt ist man auf seinen Vorteil bedacht, bereit, alles dafür zu tun und auch das Leid des Anderen in Kauf zu nehmen. Zu Hause, im Tal hinterm Gebirge, war das nicht so. Und so sehr er das Reisen und die aufregenden Dinge, die es immer zu sehen gab auch liebte, er freute sich auf zu Hause, auf seine Freunde, die beiden Paradiesvögel Cula und Mihula, die Wölfe Chorm und Palos mit ihrem Rudel, auf Gogon, den König der Affen und auf Ben.
Eine sorgenvolle Falte bildete sich auf Famirs Stirn. Er hatte es sich mittlerweile auf einer hohen Tanne bequem gemacht. Die Sonne hatte sich bereits halb hinter einem großen Felsen zur Ruhe gebettet. Es würde bald dunkel werden. Er beschloss nicht die Nacht durch zu fliegen. Auch seine Adleraugen waren nicht mehr die Besten. Immer noch gut genug, gefährliche Situationen blitzschnell zu erkennen und zu reagieren, aber nicht mehr so gestochen scharf wie einst. Das Gleiche galt für seinen Verstand, zumindest bekam er langsam den Eindruck, dass seine Auffassungsgabe, auf die er sich sein Leben lang verlassen konnte, immer häufiger versagte. Bei seiner Abreise vor einigen Wochen war Ben sehr besorgt gewesen, es hatte wochenlang nicht geregnet, die Flüsse und Seen drohten auszutrocknen. Ben hatte Famir gebeten, einige Erkundungsflüge zu machen, doch Famir hatte abgelehnt. Er hatte Ben versichert, dass keine Gefahr drohte, schon unzählige Dürreperioden hatten sie überstanden und es hatte immer früher oder später geregnet. Der König des Tals war nicht sauer gewesen, er hatte dem Adler sogar Recht gegeben und darauf bestanden, dass der seine jährliche Reise umgehend startete. Das hatte er auch getan und dennoch plagte ihn seitdem ein schlechtes Gefühl, eine Art Vorahnung. Mehrfach war er nachts unsanft aus dem Schlaf erwacht, nachdem er im Traum seine Freunde hat verdursten sehen. Es war ein merkwürdiger Traum, er widerholte sich immer und immer wieder und fühlte sich so real an, dass Famir sich auch heute noch an jedes einzelne Detail erinnerte. Er sah, wie Ben verzweifelt seine beiden Äste zu Boden fallen und auf dem staubigen Sand hin und her gleiten liess, so als würde er um Hilfe schreien. Er sah, wie die Tiere verzweifelt versuchten zu entkommen, einige in die Berge, einige einfach in die andere Richtung ,dorthin, wo die Menschen lebten. Er sah, wie Gogon und Mihula vor dem leblosen Ben kraftlos zu Boden sanken, wie Chorm, der Wolf verzweifelt über einem Abgrund hing und Cula ihn vergeblich versuchte zu retten und er sah diese riesige, gewaltige Flutwelle, die im Gebirge ihren Ursprung hatte und alles auf dem Weg ins Tal mit sich riss. An diesem Punkt wurde er jede Nacht wach. Und obwohl er zu wissen glaubte, dass dieser Traum nicht wahr sein konnte, dass das alles zu skuril klang, zitterte er jedesmal am ganzen Körper und es brauchte einige Minuten, bis er sich wieder erholt hatte.
Nun allerdings war Famir wach und warf einen weiten Blick über die Landschaft. Noch eine knappe Tagesreise und er könnte sich von allem selber ein Bild machen. Dann würde er schon sehen, dass alles nur ein dummer Traum war, eine Einbildung, vermutlich verursacht von seinem schlechten Gewissen. Sie werden natürlich alle noch leben und sich genauso freuen ihn wieder zu sehen, wie es umgekehrt Fall war. Er beschloss die Augen zu schliessen und zu schlafen. Träumen würde er diesmal, so nahm er sich vor, von Mihula und den leckeren Beeren, die sie ihm immer wieder mitbrachte, von Cula und seiner Tollpatschigkeit, die ihm so oft vor Lachen die Tränen in die Augen getrieben hatte, von Lani und ihren Wolfskinder und von Ben und seinen Geschichten, die er so gern erzählte. Er hatte diesen Gedanken nich einmal zu Ende geführt, das war es auch schon dunkel um ihn geworden. Es dauerte nur wenige Sekunden bis er die Schwelle in die Welt der Träume überschritten hatte. Hier fühlte er sich wohl, seit langer Zeit das erste Mal. Er befand sich über dem üppig gewachsenem Tal, drehte seine gewohnte Runde und sah alle seine Freunde, wie sie sich vor Ben versammelt hatten. Wohl, wie so oft, um sich einfach mit ihm zu unterhalten und sich Rat zu suchen. Er beschloss noch eine Runde über dem Gebirge zu fliegen, um sicher zu gehen, dass auch keine Flutwelle drohte, wie in den vorherigen Träumen. Doch was er am Gipfel des Berges sah, liess ihn zusammen zucken. Dort stand Neo, der aus dem Tal vertriebene Panther mit einem ganzen Heer blurünstiger Artgenossen, alle in einer Reihe aufgestellt. Er flog vorsichtig etwas näher heran, denn er hatte inmitten des Heeres was entdeckt, von dem er hoffte, dass es nicht das war, was er dachte. Doch seine Hoffnung erfüllte sich nicht. Da stand Rasul, der Löwe, sein Blick war voller Hass und Angriffslust. Famir taumelte, konnte es nicht glauben. Wie konnte ausgerechnet er sich mit den Feinden verbünden, er, der einst sein engster Vertrauter gewesen war, er, der ihn vor langer Zeit vor dem sicheren Tod bewahrt hatte....