„Bin Laden ist tot.“
Eine Schlagzeile geht um die Welt.
Das Monster ist tot. Der Mensch, den viele als den Teufel auf Erden ansahen, der Mensch, der für viele die Inkarnation des absolut Bösen war, wurde erschossen. Wir sehen Bilder von Menschen, die am Ground Zero feiern, wir hören Interviews, in denen Menschen zugeben, ein „unchristliches Gefühl von Rache“ zu empfinden. Die Gerechtigkeit habe gesiegt. War es wirklich die Gerechtigkeit, die Bin Laden tötete?
Ist es nicht morbide, wie der Tod eines Menschen bejubelt wird? Aber Menschenmassen waren schon immer beeinflussbar, wenn Emotionen im Spiel sind.
Im Grunde erliegen wird nur zu leicht der Versuchung, die Welt wie Kinder in Schwarz und Weiß zu unterteilen, in Gut und Böse. Bin Laden war böse, und deswegen hatte er es nicht anders verdient. Es ist ein einfaches Denken. Ein kindliches eben. Wen hat es früher schon gestört, dass bei Hänsel und Gretel die böse Hexe im Ofen verbrannte? Welches Kind wird da sagen: „Sollte man sich nicht zumindest den Standpunkt der Hexe anhören, ehe wir sie verbrennen? Sollten wir ihr nicht die Chance eines fairen Gerichtsverfahrens einräumen?“
Keines! Denn die Hexe ist böse, das weiß jedes Kind. Sie hat nichts anderes verdient, als qualvoll im Ofen zu verbrennen. Der kindliche Gerechtigkeitssinn ist sehr ausgeprägt. Die Bösen müssen bestraft werden, so einfach ist das.
Als Erwachsene sollten wir eigentlich begriffen haben, dass sich die Welt nicht so simpel unterteilen lässt. Wir sollten eigentlich wissen, dass sie aus nichts als Graustufen besteht.
Und doch maßen sich gewisse Regierungen an, über Leben und Tod anderer Menschen zu entscheiden. Ein Land, das angeblich so gläubig und christlich ist, nimmt ein Recht für sich in Anspruch, das eigentlich nur Gott zusteht.
Heißt es nicht in der Bibel: „Du sollst nicht töten?“
Für einen „guten Zweck“ und wenn es nur „böse Menschen“ betrifft, ist Töten anscheinend erlaubt; selbst eine Nation, die sich so sehr auf den christlichen Glauben beruft wie die USA kann unter diesen Umständen wohl über das fünfte Gebot hinwegsehen.
„Dass diesem Terroristen sein blutiges Handwerk gelegt werden konnte, ist eine gute Nachricht für alle friedliebenden und freiheitlich denkenden Menschen in der Welt“ – so wurde unser deutscher Außenminister Westerwelle zitiert.
Ach, ist sie das?
Was sagt diese Tat und ihre Reaktionen darauf über die westliche Welt aus? Vor allem, was sagt sie über ein Land aus, das sich mit dem Namen „Rechtsstaat“ schmückt und eigentlich nach eigenen Aussagen anstrebt „The City upon a hill“ zu sein, die Stadt auf dem Hügel, die mit beispielhafter moralischer Größe vorangehen will?
Sicherlich, der Terrorismus ist eine Gefahr, dessen sind wir uns wohl alle bewusst. Aber mit welch einer Naivität jetzt manch einer verkündet, es wäre nun eine große Gefahr gebannt! Bin Laden war nur der Kopf einer Bewegung, die allem Anschein nach in der arabischen Welt immer mehr Zulauf erhält. Und ist ihnen mit dieser Hinrichtung, die einen eindeutigen Racheakt darstellte, nicht vielleicht gar in die Hände gespielt worden? Wird damit die Al Kaida nicht geradezu zu Vergeltungsschlägen herausgefordert? Welch einen wunderbaren Märtyrer Obama da geliefert hat, das wird sich in den kommenden Wochen wohl noch zeigen.
Doch selbst hierzulande scheint eine beinahe euphorische Stimmung zu herrschen. Warum nur erinnert dies so sehr an das römische Schlagwort „Brot und Spiele“?
Schon die großen Machthaber der Antike wussten, dass man das gemeine Volk mit Brot und ausreichender Unterhaltung bei Laune halten muss, dann verzeiht es fast alles – Unterdrückung, Einschränkung persönlicher Rechte, mangelhafte Außenpolitik. All das erscheint auf einmal zweitrangig, wenn man die niederen Instinkte der Menschen wecken und befriedigen kann. Und welch eine Unterhaltung wurde im antiken Rom geboten! Da durfte live mit angesehen werden, wie sich wilde Tiere in der Manege gegenseitig zerfetzten, da wurden Gladiatoren aufeinander losgelassen, frei nach dem Motto: wer zum Schluss noch lebt, hat gewonnen.
Freilich, die Ermordung des Bin Laden diente nicht der Massenunterhaltung. Bin Laden wurde aus vollkommen ehrbaren Gründen umgebracht. Er war der Mann, von dem behauptet wird, dass er einen maßgeblichen Anteil zu den Anschlägen vom 11. September geleistet hat. Die tatsächlichen Attentäter kann man ja nicht mehr belagen, die haben sich selbst gerichtet. Doch den mutmaßlichen Drahtzieher der ganzen Operation, den konnte man verfolgen.
Damit hatten die USA einen neuen Staatsfeind No.1, den idealen Sündenbock, auf den sich der ganze Hass und Schmerz einer Nation richten konnte, die sich so lange für unberührbar gehalten hatte. Und den Schmerz und den daraus resultierenden Ruf nach Gerechtigkeit kann man durchaus nachvollziehen. Was am 11. September geschah, war ein schreckliches Verbrechen.
Warum sich dann auch noch mit einem Gerichtsverfahren abgeben? Das Volk hatte das ideale Feindbild doch bereits akzeptiert, warum dann noch den Schein wahren? Das war ein Streich ganz nach Cowboyart-Romantik: den Bösewicht dingfest machen, und dann wird er erschossen, als er sich der Festnahme wiedersetzt. Kurz und schmerzlos. Er hat es ja nicht anders verdient.
In einem Land, in dem in einigen Bundesstaaten nach wie vor noch die Todesstrafe verhängt wird, sollte solch ein Handeln eigentlich nicht mehr überraschen. Doch den Menschen, die in Amerikas Gefängnissen einsitzen, wurde zumindest der Prozess gemacht. Sie erhielten eine Chance, sich zu verteidigen.
Bin Laden nicht.
Selbst die größten Verbrechen führender NS-Funktionäre wurden vor einem Gerichtshof verhandelt – damals waren die USA also noch bereit, sogenannten Kriegsverbrechern oder Menschen, die sich „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ schuldig gemacht hatten – Männern und Frauen, die daran beteiligt waren, Tausende von Juden und hinzurichten und „unwertes Leben“ zu vernichten - zumindest ordentlich den Prozess zu machen. Das ist das Vorgehen einer Demokratie. Damals war man ja nicht direkt betroffen.
Es gibt in Den Haag eine Einrichtung der UNO, die sich Internationaler Strafgerichtshof nennt.
Die Frage ist doch: welche Gesellschaft, welche Welt wollen wir unseren Kindern hinterlassen? Was leben wir ihnen vor? Dass es in Ordnung ist, wenn Staaten Selbstjustiz üben? Dass man ausgelassen den Tod eines Mannes feiern darf, dessen Schuld nicht einmal gerichtlich erwiesen ist?
Aber wie wollen wir dann dem trauernden Ehemann erklären, der seine Frau bei einem Gewaltverbrechen verlor, dass er den Mörder nicht erschießen darf, da dies Selbstjustiz wäre, die von Gesetz wegen verboten ist? Wie wollen wir dem Vater des kleinen Mädchens, das vergewaltigt und dann erdrosselt wurde, erklären, dass er den Täter nicht kastrieren und aufknüpfen darf, wie er das vielleicht gern täte, da dies zu Anarchie und vollständigem Rechtschaos führen würde, wenn es jeder täte, da selbst dem brutalsten Mörder ein gerechter Prozess zusteht?
Wie lässt sich Verlust und Schmerz ermessen? Wiegt der Schmerz eines Volkes schwerer als der eines Einzelnen? Wiegt der Schmerz der Menschen, die Angehörige und Freunde bei jenem Attentat am 11. September verloren haben, schwerer als der all der Familien, die Angehörige durch Gewaltverbrechen verloren haben? Und wird er gelindert durch die Rache am Täter? Denn nun werden wir nie erfahren, was Bin Laden tatsächlich verbrochen hat. Wir werden nie etwas über die Hintergründe erfahren, oder darüber, wer vielleicht sonst noch beteiligt war. Und wir werden nie das Gefühl verspüren, dass nun tatsächlich die Gerechtigkeit gesiegt hat. Es war die Rache, die siegte.
Wenn jeder Rache nehmen dürfte, wie es ihm gefiele, wo wären wir dann?
Und ist nicht der 11. September das beste Beispiel dafür, dass Gewalt immer Gegengewalt erzeugt?
Ich will die Taten der Al Kaida nicht schönreden – ganz im Gegenteil. Ich plädiere nicht für eine Rehabilitierung des Osama Bin Laden. Ich bin nicht der Ansicht, man hätte seine Verbrechen ungestraft lassen sollen.
Doch sein Tod hat wieder einmal gezeigt, dass die Menschheit nicht so zivilisiert ist, wie wir es immer gerne glauben möchten.
© by schneeflocke