GEHEIMNISVOLLES TREIBEN IM WALD
Die Sonne lacht von einem blau-weißen Himmel. Es ist ein strahlender Frühlingstag und die ersten Bäume und Büsche tragen ihr Blütenkleid. Ich habe soeben den Platz auf der Bank am kleinen Weiher verlassen und will nun noch einen Besuch bei meinem Freund Krawuzzel, dem Waldwichtel, machen. Ich sehe ihn schon auf der dicken Wurzel in der Nähe seiner Höhle herum hüpfen. Ob er mich erwartet hat?
Wahrscheinlich hat er mich schon von weitem kommen sehen, denn als ich in Hörweite von ihm bin, krächzt er vergnügt: „Ich habe dich schon erwartet. Wurde auch höchste Zeit, dass du dich mal wieder hier blicken lässt. Ich freue mich riesig, riesig, riesig! Es gibt große Neuigkeiten!“ Dann klettert er behände in die überhängenden Zweige des großen Busches, der die ersten grünen Blättchen trägt. Und ehe ich es mich recht versehe, landet er mit einem Riesensprung auf meinem Arm. „Einen schönen Tag, lieber Krawuzzel,“ grüße ich freundlich und überreiche ihm die Löwenzahnblüte, die ich als kleines Mitbringsel eben noch gepflückt habe. Sogleich steckt er sein Näschen hinein und zieht es gelb bepudert vom vielen Blütenstaub wieder zurück. Es folgt ein heftiger Niesanfall. „Hatschi, hatschiii, hatschiiiiiiii!“ tönt es heftig. Dann hält er plötzlich inne, steckt einen seiner winzigen Fingerchen in die Blüte und zieht es mit einem noch winzigeren Nektartröpfchen wieder heraus. Genießerisch schleckt er den süßen Saft ab. „Also, das nenne ich ein Begrüßungsgeschenk,“ schreit er und hüpft und turnt auf meinem Arm herum, dass mir ordentlich Angst wird, er könnte herunter fallen. Noch drei- oder viermal steckt er Näschen und Fingerchen in die goldgelbe Löwenzahnblüte, dann raunzt er mich an: „Schnell, schnell! Mach schnell, ganz schnell zu meinem Cousin. Der wartet schon mit einer Überraschung. Ein Hasentaxi, ein Hasentaxi!“ „Aber ich kann nicht mit dem Hasentaxi fahren. Ich gehe zu Fuß und trage dich, wenn du mir den Weg zeigst,“ unterbreche ich sein Geschrei. „Ja, schnell. Er wohnt auf der anderen Seite von dem schwarzen Ding, wo immer die stinkenden, knatternden Monsterinsekten hin und her rennen. Dort drüben auf dem großen Sandplatz finden wir ihn.“ Ich ermahne ihn noch, sich auf meinem Arm gut fest zu halten. Dann gibt es für ihn eine Luftreise mit Überquerung der Straße bis zur großen Sanddüne in unserem kleinen Naturschutzgebiet.
Plötzlich hört man ein feines Geräusch wie Grillenzirpen und Krawuzzel beginnt ganz verrückt auf meinem Arm herum zu turnen. „Das ist er, das ist er, das ist er,“ schreit er aufgeregt. „Das ist Hainwitschel. Lass mich hinunter, damit ich ihn begrüßen kann.“ Schnell setze ich ihn auf den Boden, dann rennt er über Sand, kleine Moospolster und zwischen jungem Silbergras hindurch bis zu einem Brombeerdickicht.
Davor steht wahrhaftig eine winzige grüne Gestalt. Das Körperchen ist so lang wie eine Handspanne und schlank wie das einer Heuschrecke. Die Beinchen und Ärmchen ähneln fast Insektengliedmaßen und das kugelrunde Köpfchen wird von zwei riesigen, hervor stehenden Kulleraugen beherrscht. Ein rotbrauner, wilder Haarschopf krönt es. Die Nase ist lang und dünn wie eine Nadel und der Mund kaum zu erkennen. Eine aus Grashalmen geflochtene lange Weste bedeckt den Oberkörper und die dünnen Beine stecken in kurzen Hosen aus den zähen Vorjahresblättern der Eiche. Die Füßchen sind unförmig und nackt. So kann er sich im Sand und Moos gut bewegen.
Krawuzzel überschlägt sich fast vor Wiedersehensfreude und tanzt und hüpft um den grünen Wichtel herum. Dann schnarrt er so laut er kann: „Heißa, lieber Cousin, ich freu mich fast tot, dass ich dich wiederseh. Schau, das ist meine Riesenfreundin. Die bussel ich immer, haha, hihi!“ Und zu mir gewendet: „Das ist, hihi, hihi, mein Cousin Hainwitschel. Wir werden viel Spaß mit ihm haben.“ Zur Begrüßung beuge ich mich tief hinunter, flüstere: „Guten Tag!“ und überreiche ihm ein Blütenbüschel von der Wildkirsche. Er bedankt sich artig, aber Krawuzzel gibt keine Ruhe.
„Aber jetzt sag schon… Wo ist die Überraschung?“ plärrt er Hainwitschel an. Doch der behält die Ruhe, legt sein Fingerchen an den Mund, damit wir still sind und winkt uns, ihm zu folgen. Die beiden Wichtel hüpfen und huschen durch Grünzeug und Gestrüpp. Ich habe aufgrund meiner Größe echte Mühe, den beiden zu folgen. Doch dann scheint es geschafft. Ich sehe vor mir eine kleine Lichtung, die mit Moos bewachsen ist. So gut wie möglich verstecke ich mich auf ein Zeichen der beiden Wichtel und traue kaum meinen Augen.Zwischen den Stämmen zweier niedriger Bäume hängt ein großes Schild. Darauf steht mit windschiefen Buchstaben: MALERGESCHÄFT HOPPEL.
Auf der kleinen Lichtung tummeln sich mehr als zwei Dutzend Hasen verschiedener Größen. Alle sind mit Pinseln ausgerüstet und haben Farbtöpfe um sich herum stehen. In den Zweigen der Bäume sitzen alle möglichen Vögel mit ihren Eiern. Sie warten darauf, dass diese von den Hasen in ihren jeweiligen Lieblingsfarben bemalt werden. Ich staune, als ich die vielen Eierformen sehe: kleine und große ovale, kugelrunde, längliche und dünne, dicke und kurze und fast eckige in den unterschiedlichsten Größen. Währenddessen erklären mir Hainwitschel und Krawuzzel alles. So bekommt jede Vogelart ihre ganz besonders bemalten Eier zur Tarnung, wenn sie im Nest liegen. Da gibt es zartgrüne Eier mit und ohne Tupfen, braun oder grün gesprenkelte, hell- oder dunkelbraune mit gelben oder grünen Tupfen und viele andere Farbmöglichkeiten. Fast alle Hasen sind mit großem Eifer und viel Konzentration mit ihrer Arbeit beschäftigt.
In einer Ecke der Lichtung aber geht es lustig zu und Hainwitschel raunt mir ins Ohr: „Dort in der Ecke, wo das Gras schon sprießt, sind die ganz jungen Malerlehrlinge. Und die dürfen nach Herzenslust in die Farbtöpfe greifen und alle die ganz großen Eier bemalen. Schau mal, wie toll die das machen!“ In dem Moment höre ich vertrautes Gackern und ich traue meinen Augen nicht. Eine Schar Hühner trifft gerade mit einer riesigen Eiermenge ein. Und dann geht es auch schon los. Der freche Hoppelmann, ein richtiger Rabauke, taucht seinen Pinsel in den Farbtopf mit dem grellen Grün und schwupp-di-wupp, bekommen die ersten Eier ihre grüne Farbe. Die Mädchen sind eher für Rot, Gelb und Rosa und lassen sich nicht bitten. Weniger kecke Hasenkinder wählen Blau. Das jüngste Hasenkind hat im Übereifer seinen Pinsel in Rot und Blau getaucht und malt nun Violett. Natürlich wird auch viel Spaß gemacht, mit den Pinseln ordentlich gespritzt oder in zwei verschiedene Farben getunkt. So ist es eine fröhliche Malerei und nicht nur die Eier sind schließlich farbig, sondern auch das Fell der Hasenkinder hat etliches an Farbe abbekommen. Mariechen schreit: „Fips, du hast mir Farbe ins Ohr geschmiert!“ und holt mit dem Pinsel aus. Aber sie trifft Hänschen mit der roten Farbe mitten ins Gesicht. Und schon ist die schönste Balgerei im Gange. „Ich habe grüne Pfoten und Jeckies hat gelbe Farbe am Rücken,“ ruft Mini. „Moni, du bist schon ganz blau,“ schreit Bobo, schnappt seinen Farbtopf und wirft ihn nach dem Übeltäter Bubi. Aber der bückt sich rasch und so trifft der Farbtopf nur den nächsten Baum und Bobo bekommt selbst noch eine Ladung von der eigenen Farbe ab. Derweil stehen die Hühner gackernd herum und die beiden kleinen Wichtel halten sich die Bäuchlein vor Lachen.
Ich bin gut versteckt und muss auch schmunzeln. So geht es eben zu, wenn Kinder beisammen sind, denke ich mir im Stillen. Da ertönt ein schriller Pfiff. Plötzlich herrscht Ruhe und Hainwitschel flüstert mir zu: „Das war Meister Hoppel.“ Dann höre ich auch schon, wie der Alte ganz ernst sagt: „Schluss jetzt. Beeilt euch lieber, dass ihr für heute fertig werdet. Es gibt noch mehr zu tun! Die Waldvögel können ihre fertigen Eier abholen und für die Hühnereier muss ich noch die Auslieferungspläne bekannt geben.“ Und dann rattert er eine riesige Auslieferungsliste herunter. Die großen Hasen nicken nur und die Kleinen malen so schnell die Pfötchen es eben schaffen.
Da stupsen mich die Wichtel und wir ziehen uns ganz leise zurück. Endlich sitzen wir wieder auf der Sanddüne. Da sagt Hainwitschel: „Und wenn der ganze Spuk vorbei ist, dann stehen alle bei mir Schlange und ich muss ihnen helfen, die Farbe aus dem Fell zu putzen. Das kann ich nämlich ganz gut. Aber es ist auch eine echte Plackerei und ohne Ziepen geht das nicht.“ Auf meine Frage nach den Auslieferungsplänen lacht Krawuzzel und meint: „Bekommst du etwa keine bunten Ostereier mehr?“ „Ein paar bekomme ich schon,“ antworte ich ebenfalls lachend, „aber die sind meist aus Schokolade.“
Dann verabschieden wir uns von einander. Auf meine Frage, ob ich Krawuzzel zurück bringen darf, grinst der: „Danke. Hihi. Ich schlaf bei Hainwitschel und in der Morgendämmerung bringt mich mein Freund Eichhorn heim.“ Dann klettert er noch einmal auf meinen Arm, hüpft zur Schulter hinauf und drückt mir ein Küsschen auf die Wange. Ehe ich mich versehe, ist er auf dem Boden zurück bei Hainwitschel. Die beiden winken mir fröhlich zu, dann verschwinden sie eilends im Gestrüpp aus wilden Brombeeren am Rande der Sanddüne. Ich aber trete gemütlich meinen Heimweg an.
©HeiO 24-04-2011