Angelehnt an Erfahrungen... So wie es mir einfiel... Inspiriert vom wahren Leben...
Gelangweilt lag sie auf ihrem Bett, starrte an die Decke und dachte über das nach, was sie soeben von einer Freundin am Telefon wieder ins Gedächtnis gerufen bekommen hatte. Morgen gingen sie mit der gesamten Klassenstufe ins Theater. Na toll, dachte sie nur. Das kann man allerdings völlig falsch verstehen. Sie mochte es ins Theater zu gehen, denn erstens konnte man sich künstlerisch meist etwas davon mitnehmen und zweitens fiel ein Großteil des Unterrichts aus. Vermutlich hätte sie sich wie wild auf einen Theaterbesuch gefreut, wäre da nicht dieses eine, kleine und dafür um so wichtigere Detail: Die Theaterstücke, welche sie sich von der Schule aus immer ansahen wurden in sorbischer Sprache vorgetragen. Verständlich, da sie ja an eine sorbische Schule ging, nicht war? Aber worin genau bestand nun das Problem? Sie beherrschte die Sprache in etwa so gut wie das Bockspringen im Sportunterricht, worauf sie bisher noch immer eine sechs bekommen hatte. Die meisten ihrer Klassenkameraden, welche zum Teil schon seit dem Kindergarten oder durch Verwandte mit der Sprache vertraut gemacht worden waren, hatten ihr in diesem Bereich schon so einiges voraus, da sie selbst erst in der sechsten Klasse von dieser Sprache und ihren Sprechern gehört hatte. Ihre Mutter sagte zwar immer, sie sei sprachlich begabt, doch mittlerweile glaubte sie, dass das nicht stimmte. In Englisch war sie gut, eine der Besten, aber schon wenn ihre Mutter sich ihre eher unterdurchschnittlichen Noten in Französisch angesehen hätte hätte ihr doch auffallen müssen, dass es sich dabei um eine Ausnahme handelte. Es frustrierte sie, wenn sie Leute sorbisch sprechen hörte. Sie saß dann zuweilen da, hörte aufmerksam zu und verstand von hundert Wörtern vielleicht mal eines. Und es machte sie fertig, wenn sie etwas nicht verstand. Dieser Umstand ließ sie nicht gerade vor Freude in die Luft springen wenn sie erfuhr, dass es wieder ins Theater ging. Die gesamte Dauer des Stücks über würde sie sich wieder das Bühnenbild, die Schauspieler und ihre Kostüme ansehen, und am Ende würde sie klatschen und den Darstellern zu ihrer Textsicherheit gedanklich gratulieren. Sie würde ja selbst vielleicht gerne im Theater arbeiten oder im Schulchor singen, doch die Sprachbarriere hinderte sie daran. Am nächsten Tag marschierten sie alle von der Schule aus los zum Theater. Schönes Wetter, schöner Vogelgesang. Alles Schön, bis sie das kühle Foyer erreichten, von dem aus sie gleich eine Treppe nach oben nehmen sollten, wo jemand ihnen eine Stückeinweisung gab. Unten am Empfang stand so ein Kasten mit vielen dieser seltsamen Kopfhörer, zwischen denen sich ein kleiner Kasten befand an dem wiederum ein Rädchen zum Regulieren der Lautstärke war, von denen sie sich jeder der brauchte einen nehmen sollten. Sie selbst verstand es so: Die Stückeinweisung war in deutsch, also mussten die Kopfhörer für das Stück sein. Es schien ihr fast zu schön um wahr zu sein. Als sie jedoch oben angekommen war bekam ihre schöne Vision einen Knick. Wie die kraushaarige Frau grüßte verstand sie noch, doch in den nächsten fünf bis zehn Minuten verstand sie nur noch Bahnhof. Die Stückeinweisung war nicht in deutsch. Sie sah sich in der Gruppe um von der sie wusste dass die meisten Leute hier verstanden, was die Frau da vorne sagte, obwohl es die wenigsten wirklich interessiert haben dürfte. Sie selbst wagte den Versuch und drückte ihr rechtes Ohr gegen die Kopfhörer, doch vernahm sie nur Rauschen. Als die Stückeinweisung beendet war hörte sie von der Frau vorne plötzlich in ihrer Sprache die Frage: „So! Und wer hat 's jetzt nicht verstanden?“ Wer hob nun wohl unsicher die Hand? Wer zog sie dann auch schnell wieder beschämt ein als sie bemerkte, dass sie die einzige war, die sich gemeldet hatte? Leises Lachen um sie herum und sie spürte, wie sie rot anlief. Nachdem die Programmhefte rum gegeben worden waren, welche sie ebenfalls nicht lesen konnte, gingen alle in den Theatersaal, in welchem bist auf die vorderen vier Reihen so gut wie niemand saß. Als sie alle ihre Plätze eingenommen hatten ging es los wie üblich hinter ihr. Sie hörte wie einer sagte: „Ich wünschte, ich hätte meinen MP3-Player mitgenommen. Ich werde die ganze Zeit schlafen.“ Ein anderer zog gerade über jemanden her und sein Freund sagte: „Willst du das nicht wenigstens auf sorbisch sagen, damit sie es nicht versteht?“ Das Licht ging aus im Saal und sie seufzte. Das war nicht fair. Es war ungerecht dann die meisten von denen, die das Stück sprachlich verstehen würden, sich nicht im geringsten Maße dafür interessierten. Aber sie, die sie sich so für die Kunst und das Theater interessierte konnte die Handlung nur mit blühender Fantasie erraten. Doch da fiel ihr Blick auf das kleine Gerät, welches grau und unscheinbar in ihrem Schoß lag. Wenn es nicht für die Stückeinweisung gedacht war, dachte sie sich, dann ist es doch vielleicht für... das Stück selbst? Es wäre das erste mal gewesen, dass sie bei einem Stück die Möglichkeit hatte zu verstehen, was gesagt wurde. Mit freudiger Erregung hörte sie schöne Musik aus den Lautsprechern fließen und wartete darauf, dass einer der beiden Schauspieler die nun über die Bühne liefen anfing zu sprechen. Als einer ein Wort sagte setzte sie sich schnell die Kopfhörer auf, aber es kam eine ganze Weile Stille. Hatte sie sich dass nur eingebildet oder hatte sie aus den kleinen Lautsprechern etwas anderes gehört als Rauschen und Knacken? Da plötzlich geschah es. Der ältere, männliche Darsteller begann zu sprechen, auf sorbisch, selbst verständlich. Seine Lippen bewegten sich zu dem was er sagte und was das junge Mädchen nicht verstanden hätte, doch sie hörte es nur am Rande. Sie war ganz auf eine fremde Frauenstimme in ihrem Ohr fixiert, die synchron übersetzte, was gesprochen wurde. Für einen Moment blieb ihr der Mund offen stehen. Weiter und weiter sprachen die Schauspieler auf der Bühne, weiter und weiter sprach die Frauenstimme in ihrem Ohr. Sie konnte nicht anders und begann zu lächeln, bald zu grinsen. Ich verstehe was die sagen, freute sie sich in Gedanken. Das Wunder der Technik... es macht mich verstehen, was sie sagen. Das war das erste mal. Diesmal überhörte sie nicht das Geschehen, konnte in die Handlung eintauchen und wusste, worum es ging. Ein alter Mann und eine alte Frau waren in ihrem Garten und schienen... nein... sie warteten darauf, dass der Rest der Familie kam. Dann ging die Großmutter, wollte sich schlafen legen und schien... nein... sie bat ihren Mann darum sie zu wecken, wenn sie da waren. Vielleicht übertrieben gebannt sah sie dem Schauspiel zu und freute sich. Sie wusste, was es heutzutage für technische Möglichkeiten gab, dagegen war das hier absolut nichts besonderes, aber... für sie war es etwas ganz besonderes. Sie verstand den Ausdruck auf dem Gesicht des alten Mannes als sein Sohn vorschlug, seine Mutter, des anderen Frau, in die Stadt umzusiedeln. Sie konnte das Schweigen nachvollziehen welches folgte als die Oma sich nach dem Jungen erkundigte, von dem sie hätte wissen müssen dass er vor zwei Jahren bei einem Autounfall gestorben war. Und sie schmunzelte als die Großmutter zum Schluss ausplauderte dass die jüngere Tochter ihr im Vertrauen gesagt hatte, dass diese ein Kind bekäme. Und... und... und... Am Ende des Stücks verließ sie zusammen mit den anderen das Theater im freudigen Bewusstsein, diesmal auch kulturell wirklich etwas mitnehmen zu können. Das Stück hatte sie verstanden, das Ende hat ihr gefallen. Früher wäre das nicht gegangen. Früher hätte sie da gesessen ohne eine Ahnung zu haben, was sich vor ihr abspielte. Man hätte ihr später den größten Unfug erzählen können, worum es eigentlich gegangen wäre, und sie hätte es glauben müssen. Fröhlich mit ihren Freundinnen plaudernd, welche überwiegend von dem Stück gar nicht so angetan gewesen waren, aber wohl von der Musik, entfernte sie sich von dem Haus von Kunst und Kultur und wurde innerlich nicht wirklich damit fertig sich zu freuen. Über den Fortschritt der Technik.