Beschreibung
Eine Geschichte aus meinem Aufenthalt in Frankreich...
18 mois
Wie auch sonst die meiste Zeit in alleiniger Gegenwart des jeweils anderen schwiegen wir, während sie mich um die Kirche führte, die sie mir im Rahmen dieser kleinen Ortsbesichtigung, welche wie ich annehme ihre Mutter vorgeschlagen hatte, zeigte. Da ich davon ausging, dass sie selbst so schnell wie möglich diese Tour beenden und nach Hause wollte fragte ich nicht, ob wir vielleicht langsamer laufen und ich mir einiges genauer ansehen könnte, obwohl diese Frage für mich, zumindest in englisch, nicht schwer zu stellen und für sie auch gewiss nicht schwer zu verstehen gewesen wäre, davon unabhängig wessen Sprachkenntnisse diesbezüglich nun besser oder schlechter waren. Da ich mich mit Architektur nun so überhaupt nicht Auskenne und ich die meiste Zeit ein Gedächtnis wie ein Sieb habe verlasse ich mich auf meine Erinnerungen und meinen persönlichen Geschmack wenn ich sage dass die Kirche vom Äußeren eher schlicht gewesen war, dennoch so einige Details hatte und mir persönlich recht gut gefiel. Wir liefen über knirschenden Untergrund und als ich meinen Blick senkte, was ich in letzter Zeit verhältnismäßig häufig tat, sah ich dass es viele, in einzelnen Teilen verschieden großer und überwiegend glatter Kies war, auf dem wir gingen.
Als wir um eine Ecke bogen und ich die Augen wieder nach vorn richtete keimten in mir neben leichter Verwunderung die üblichen Gefühle auf wie sonst, wenn ich etwas ähnliches sah: ein Anflug von Trauer und Wehmut, Respekt und sogar etwas Ehrfurcht. Ein Friedhof. Grabsteine in unterschiedlichen Größen, Formen und Farben flößten mir dies ein. Einige waren die „üblichen“ Marmorblöcke, andere waren mit Kreuzen versehen. Auch sah ich in einer Ecke gleich mehrere steinerne Kreuze. Das Größte ragte, für Menschen wie mich noch immer Ehrfurcht erregend, in den grauen, von einer scheinbar undurchdringlichen Wolkendecke durchzogenen Himmel, ein kleineres, welches mit steinernen Rosen und Ranken verziert war, lehnte an einer niedrigen Mauer, ein weiteres lag auf einer Marmortafel, auf welcher es zuvor gestanden haben musste, was ich aus dem weißen Fleck schloss. Die Jesusfigur auf dem Kreuz war durch diese Lage gezwungen, in den verhangenen Himmel zu schauen. Es war eigentlich alles ganz friedlich, und doch konnte ich den Gedanken nicht aus meinem Hinterkopf verbannen, dass dieses Bild etwas makaberes hatte. Wir gingen weiter und erreichten etwas, was ich sofort als Denkmal und oder Massengrab identifizierte. Ich kann mich nicht mehr genau erinnern, doch ich weiß noch dass es größer war als ich und dass viele Namen darauf standen, welche ich nicht kannte, von deren Besitzern ich meines Lebens noch nicht gehört hatte. Aus dem, was sie mir auf englisch erklärte, frag mich bitte keiner ob sie es in diesem Moment oder später getan hatte, erfuhr ich, dass es sich um ein Denkmal zu Ehren im Weltkrieg Gestorbener handelte, doch da sie selbst lange nach dem entsprechenden Begriff gesucht hatte bin ich mir nicht mehr sicher, ob es um den ersten oder den zweiten ging. Mein Blick wanderte weiter und weiter über die Liste der in Stein gehauenen Namen und erreichte schließlich eine Tafel, etwas schräg gestellt. Sie hatte mir erklärt, dass hinter den Namen unter anderem immer eine Zahl stand, welche das Alter der jeweiligen Personen angaben. Bis dahin hatte ich dort nur Zahlen gelesen, doch dann fand ich einen Namen, bei welchem die Zahl noch mit einem Wort versehen war, welches ich zu verstehen meinte. Doch ich wollte mir einbilden, dass es ein anderes Wort war, und ich etwas durcheinander brachte. Mein französisch war nie das Beste, das war also durchaus möglich. Trotzdem beging mich ein ungutes Gefühl. Auf englisch fragte ich sie und sprach somit meinen Verdacht aus. Sie sah mich fragend an und ich wiederholte meine Frage langsamer. „If.. if this says... eighteen „mois“... does this... does it mean it was... a baby?“ Ich war mir nicht einmal sicher ob der Satz so korrekt war, und das französische Wort für achtzehn fiel mir in diesem Moment auch nicht ein, doch sie schien mich mich zu verstehen, sagte nur: „Euh... yes. A baby.“ und nickte. „Oh...“ war meine Antwort darauf. Ich hatte es also vollkommen richtig interpretiert. Mit traurigem Blick sah ich nochmal auf die schwarzen Zeichen auf der Platte, welche das Alter dieses Verstorbenen verkündeten: 18 mois. Wären wir nicht gleich weitergegangen und wäre ich allein dort gewesen, hätte ich vermutlich wieder angefangen in düstere Gedankenwelten ab zu tauchen und darüber zu sinnieren, warum das Leben so grausam war. Ein Krieg war immer etwas furchtbares, bei dem Blut floss und bei dem für gewöhnlich beide Seiten verloren, egal wer nun aus militärischer Sicht gewann. Das wusste so ziemlich jeder und somit auch ich, dass im Krieg überwiegend unschuldige starben, von den einige nie hätten kämpfen wollen, einige nicht kämpfen konnten. Das war mir klar und ich hatte von mehr als einem Beispiel gehört welches mir die Grausamkeit zeigte, mit welcher Menschen bereit waren sich untereinander auszulöschen. Mir war klar dass für so viele Schützen alles was sie durch ihr Fadenkreuz sahen gleich war, dass ihre Waffen keinen Unterschied zwischen Männern, Frauen und Kindern, gegnerischen Soldaten und Zivilisten machten. Das alles war mir klar, doch immer wieder, wenn ich damit konfrontiert wäre senke ich zumindest innerlich den Blick und schüttle den Kopf, mich immer und immer wieder fragend: „Warum?“ „Wofür?“ „Warum so?“ Ich glaubte einige Gründe zu kennen, dennoch war es für mich immer unbegreiflich, wie ein Mensch derartig grausam sein konnte, so zu handeln wie manche es taten, oder Menschen dazu zu bringen, so wie sie zu handeln.
Betrübt wandte ich mich von den Altern und den Namen ab und folgte ihr. Warum mussten so viele Unschuldige sterben? Von der Unschuld der anderen Menschen, die dort aufgelistet waren konnte ich nichts wissen, doch bei diesem war ich mir absolut sicher. Was konnte ein Mensch in diesem Alter schon getan haben, dass er den Tod, egal auf welche Weise, verdient hatte? Auch nur in Ansätzen? Kein Mensch hatte es verdient, nur ein derartig kurzes Leben führen zu dürfen. 18 mois, 18 Monate...