Auf dem Bett liegend hatte Hannes Arme und Beine weit von sich gestreckt, als wollte er Schneeengel auf dem Laken nachzeichnen. Als wäre er von starker Hitze umgeben, dabei war doch Winter und in seiner Wohnung war es auch nicht gerade warm. Die Kühle seiner vier Wände war im Augenblick jedoch sehr vorteilhaft, hatten sich doch die Kopfschmerzen nicht erneut verschlimmert. Immerhin waren sie jetzt nicht stärker als an manch anderem schlechten Tag.
Und dennoch war etwas anders, ohne dass Hannes bestimmen konnte, was es war. Er fühlte sich, als würde er zwischen zwei Stühlen sitzen müssen, wissend, dass sein Platz entweder links oder rechts neben ihm war, statt dort, wo er sich augenblicklich befand. Es war, als wäre ihm etwas Gewohntes aus dem Leben genommen worden und gleichzeitig, als wäre etwas um ihn herum, das hier nicht her gehörte. Vielleicht lag es an den verrückten Anrufen vom Vormittag im Studio, allerdings glaubte er das weniger. Es fühlte sich größer an, umfassender und zugleich weniger definierbar.
Hannes hatte gerade die Augen geschlossen, als die Kaffeemaschine in der Küche nicht mehr gluckste. Er atmete laut in die Weiten seines Schlafzimmers hinein und musste sich zugleich eingestehen, dass sein Seufzen die Ruhe wie ein akustisches Symbol für seine Einsamkeit überlagerte. Was hatte Janine das Thema auch anschneiden müssen? Andererseits hatte Hannes sich selbst oft genug den Kopf über sein nicht ganz freiwilliges Sololeben zerbrochen, was also sollte der plötzliche Gedankensturm? Immerhin war der Kaffee fertig.
Die kaputten Hauslatschen hingen wie Lappen an seinen Füßen und erzeugten ein patschendes Geräusch, als sie auf dem Küchenlinoleum aufkamen, das dringend einer gründlichen Reinigung bedurfte. Hannes griff eine Tasse aus dem Schrank. Ein alter Becher mit Haribo-Aufdruck und einem kleinen Sprung am oberen Rand. Er schenkte sich Kaffee ein, zog eine HB aus der neuen Schachtel und hockte sich mit Zigarette und Kaffeetasse auf die Küchentheke. Die Latschen ließ er zu Boden fallen, um die Beine auf der Theke zum Schneidersitz zu verschränken. Während er zum Fenster hinaus auf die Straßen des Bonner Stadtteils Bad Godesberg blickte, versuchte Hannes, seinen Gedanken freien Lauf zu lassen, vielleicht, um sie endlich los zu werden, vielleicht auch, um zur Ruhe zu kommen. Doch so recht wollte weder das eine, noch das andere klappen. Immer wieder wurde ihm bewusst, wie seltsam er sich heute in seiner eigenen Haut fühlte, wie fremd, wie fehl am Platz. War das einzig und allein Janines Anmerkung bezüglich seiner fehlenden besseren Hälfte gewesen, die ihn jetzt so sehr ins Trudeln gebracht hatte? Er hatte sich doch zuvor bereits seltsam gefühlt, oder nicht? Vollkommen sicher war er sich selbst nicht.
Es war still in seiner Wohnung. Unheimlich still. Nicht einmal eine tickende Uhr, die für Geräusche sorgen konnte, gab es. Störte ihn diese Ruhe heute wirklich zum allerersten Mal? Hannes wusste es nicht. Er seufzte, als er merkte, dass die Zigarette inzwischen halb heruntergebrannt war, ohne dass er ein einziges Mal an ihr gezogen hatte. Gedankenlos ließ er seinen Blick herumwandern. Vom Fenster über die Küchenschränke, über den Fußboden mit den vielen Brötchenkrümeln, die er endlich wegsaugen sollte, schließlich blieb er am Kalender hängen: 20. Februar, 1985. War es wirklich erst Februar? Ihm war absolut nicht nach Februar. Nicht nach Winter aber auch nicht nach einer anderen Jahreszeit. Ihm war überhaupt nicht nach Zeit, so seltsam entrückt fühlte er sich.
Als das Telefon schrillte, hätte Hannes beinahe die Kaffeetasse fallen lassen. Er stellte den Becher ab und ging hinüber zu der kleinen Anrichte, auf der sein schwarzer Telefonapparat stand.
»Hannes Achten, ja bitte?«
»Hannes? Ich muss dir was erzählen! Scheiße, wie heißt der Kerl, der heute Morgen bei euch die Sendung gemacht hat? Ich kann‘s noch immer nicht fassen! Wer war das, nun sag schon? Ich hab versucht, mich an den Namen zu erinnern, aber ich konnte mich beim besten Willen ...«
»Kai? Bist du das?«, unterbrach Hannes den Anrufer.
»Was? Ich? Klar, was soll die blöde Frage? Hannes, wer hat heute gegen zehn Uhr die Sendung bei euch gemacht?«
»Kai, du verwirrst mich. Ich war auf Sendung und sie war furchtbar, wie du mitbekommen haben solltest. Aber das erzähl ich dir gern beim Bi ...«
»Nee, Hannes. Das warst nicht du. Ich kann mich ums Verrecken nicht daran erinnern, ob und wann der Kerl gesagt hat, wie er heißt. Jedenfalls dachte ich, frag ich einfach dich. Hab vor zwei Stunden oder so schon einmal angerufen.«
»Jetzt ...«, begann Hannes und verstummte. Er atmete laut in den Hörer. Ihm schwante, dass auch diese Geschichte auf die absurde Bahn abdriften würde, auf der bereits dieser ganze wirre Tag herumkurvte. »Kai, was ... was ist überhaupt los? Fang bitte ganz, ganz vorn an. Ich bin heute nur eingeschränkt aufnahmefähig.«
»Wieder Kopfschmerzen? Na pass auf, ich war gerade dabei, mir Obst ins Müsli zu schnippeln und nebenher lief das Radio und ... Scheiße Hannes, weißt du was, ich komm vorbei. Ich hab alles auf Band. Ja, ich ... ich hab‘s auf Kassette aufgenommen und das macht mich ganz kirre, weil ... Ich komm vorbei und erzähl's dir.«
»Jetzt?«, fragte Hannes in ungewollt entsetztem Tonfall.
»Passt dir das nicht?«, fragte Kai und die Tatsache, dass er regelrecht enttäuscht klang, veranlasste Hannes dazu, ihn für zwanzig Uhr einzuladen.
»Super! Bis später! Ich bring das Tape mit«, sagte Kai und packte auf.
»Welches Tape?«, fragte Hannes noch, doch die Stimme aus dem Hörer war verstummt. »Ach ja, stimmt«, brummte er und legte auf. Als er zurück in die Küche gehen wollte, spürte Hannes, dass seine Kopfschmerzen wieder schlimmer wurden. Mit den Fingern an den Schläfen ging er stattdessen ins Wohnzimmer und ließ sich auf sein durchgesessenes Sofa sinken. Als er an die Decke starrte, schien diese auf ihn herabsinken zu wollen. So schloss er die Augen und sah wieder bunte Punkte, die vor ihm flimmerten wie schrille Diskothekenlichter.
»Was, zum Teufel, ist bloß los?«, hörte Hannes sich fragen, doch die Stille blieb die Antwort schuldig. Kurz darauf war Hannes eingeschlafen.
Als ein erneutes Klingeln des Telefons ihn aus dem Schlaf riss, war es draußen längst dunkel. Hannes stand vom Sofa auf, schaltete das Licht ein und taumelte schlaftrunken zum Telefon hinüber. Noch bevor er abhob, warf er einen Blick auf seine Armbanduhr, deren Zeiger auf halb acht standen. In einer halben Stunde wollte Kai da sein. Vermutlich würde er nun doch absagen. Umso besser.
»Achten?«
»Hannes? Wo warst du denn? Ich versuche schon den ganzen Nachmittag, dich anzurufen! Ich dachte, es wäre irgendwas passiert«, meldete sich eine aufgeregt klingende Frauenstimme.
Hannes blickte stumm zur Wand hinüber. Die Augenbrauen hatte er zu einem nachdenklichen Ausdruck heruntergezogen.
»Hannes? Hannes! Bist du noch dran?«, fuhr die Stimme am Telefon fort.
»Was? Ich ... ich bin dran. Wer ... Wer ist denn da?«
»Wie, was, wer ist da? Was soll die blöde Frage?« Dasselbe hatte Kai vorhin doch auch gefragt. Bei ihm war die Sachlage allerdings klar gewesen, ganz im Gegensatz zu jetzt: Die einzigen Frauen, mit denen Hannes regelmäßig zu tun hatte, waren seine Kolleginnen aus dem Studio. In Gedanken ging er noch die wenigen mauen Verabredungen durch, die er mit Frauen gehabt hatte, doch ihm fiel beim besten Willen nicht ein, auf welche von ihnen diese Stimme jetzt passen konnte.
»Kenne ich Sie?«, fragte Hannes nach seiner gedanklichen Pause.
»Hannes, ist es wieder die Migräne? Hast du etwa deine Medikamente nicht genommen?« Klang die Stimme am Telefon gerade anklagend? Seltsam, dachte Hannes, wüsste er doch nicht, wann er je regelmäßig Medikamente gegen seine Kopfschmerzen eingenommen hatte, abgesehen von Aspirin, die er jedoch ohnehin eher als eine Art Grundnahrungsmittel betrachtete. Und was nahm diese Person sich überhaupt heraus?
»Ich kenne Sie nicht«, sagte er nur. Das Stechen in seinem Kopf, das durch den Schlaf abgeklungen war, setzte jetzt wieder in voller Schärfe ein. Für einen Moment hatte Hannes das Gefühl, als wollten seine Augen aus ihren Höhlen springen. Aus irgendeinem Grund wurden nun auch noch seine Knie weich, so dass ihn das Bedürfnis befiel, sich sofort hinzusetzen. Für einen kurzen Moment hatte diese Telefonstimme etwas Vertrautes bekommen, ohne dass Hannes dieses Gefühl näher deuten konnte. Auf jeden Fall war ihm nicht wohl dabei, mit dieser Frau zu telefonieren.
»Hannes, du machst mir gerade wirklich Angst. Ich wollte eigentlich nur Bescheid sagen, dass ich nach der Arbeit noch mit Mareike weggehe, aber ich glaube, ich sollte doch lieber nach Hause kommen, oder?«
Seine Brust schnürte sich zusammen. Er machte dieser Frau also Angst? Sie war es, die ihm Angst machte! Die Vertrautheit, die er aus ihrer Stimme heraushörte, versetzte ihn in eine Befindlichkeit, die ihm völlig unbekannt war, ein Gefühl, das er als Panik deutete.
»Soll das ein Telefonstreich sein, oder was?«, fragte Hannes mit einem Zittern in der Stimme. »Das ... das ist nicht lustig. Sagen Sie verdammt noch mal, wer Sie sind und was Sie wollen, oder ich lege sofort auf!«
»Willst du mir etwa erzählen, dass du nach vier Jahren Ehe meine Stimme plötzlich nicht mehr erkennst?«, fragte die Anruferin wieder in diesem anklagenden Tonfall.
Hannes knallte den Hörer auf die Gabel und zog blitzartig die Hand zurück, als hätte sie auf einer toten Ratte gelegen. Was hatte das jetzt zu bedeuten gehabt? Hörte dieser Terror heute denn gar nicht mehr auf? Die Frau hatte etwas von Ehe gefaselt. Sie hatte so selbstverständlich davon geredet, als hätte sie selbst an den Mist geglaubt, der da aus ihrem Mund gekommen war. Als hätte es nicht gereicht, dass Hannes sich bereits selbst den Kopf über Janines Kommentar nach der Sendung zerbrochen hatte. Diese durchgeknallte Anruferin hatte nun noch kräftig nachgelegt. Was immer auch Kai heute noch mit ihm besprechen wollte, dachte Hannes, schlimmer konnte es gewiss nicht werden.
Für den Fall, dass noch weitere Verrückte beschlossen, ihn anrufen zu wollen, zog Hannes den Stecker aus der Telefondose. Er hob den Apparat hoch und begann gerade, das Kabel herumzuwickeln, als er das Telefon beinahe wie eine glühende Kohle von sich gestoßen hätte. Es klingelte.
Er wollte den Hörer wirklich nicht abheben, wollte nicht wissen, ob tatsächlich jemand anrief, obwohl das Telefon nicht eingesteckt war, doch er konnte nur hilflos dabei zusehen, wie seine eigenen Finger das Kabel wieder entrollten, wie seine zitternde rechte Hand sich auf den glatten Kunststoff des Hörers legte und vorsichtig abhob. Mit festem Griff, der seine Fingerknöchel weiß hervortreten ließ, hob Hannes den Hörer ans Ohr. Wie durch einen Schleier nahm er wahr, dass er ein ängstliches »Ja?« ins Telefon hauchte.
Stille. Reglos wie eine Wachsfigur stand Hannes mit dem schweren Telefon in der Hand im Flur. Er spürte, dass er zu schwitzen begann, obwohl ihm so kalt war, dass seine Füße sich taub anfühlten.
»Hannes, ich ... ich habe ... habe es verstanden«, stammelte die Stimme der Frau, die zuvor bereits angerufen hatte, verzweifelt klingend.
»Wie können Sie ...«
»All das war ... es sollte sein, doch es durfte nicht, nicht wahr, Schatz?«
»Wovon reden Sie, verdammt?« Hannes spürte, wie die nackte Angst ihn mit ihren kalten Klauen umpackte.
»Es tut mir alles unendlich leid!«, jammerte die Frau und begann, zu schluchzen.
»HÖR ENDLICH AUF!«, schrie Hannes, bevor er die Beherrschung verlor. Als er wieder zu sich kam, stand er in gebeugter Haltung und laut keuchend noch immer im Flur. Das schwarze Telefon lag in seine Einzelteile zerschmettert an der Wand gegenüber.
... Fortsetzung folgt ...