Raul erwachte, als eine warme klebrige Flüssigkeit über sein Gesicht lief. Noch bevor er völlig benommen die Augen aufschlagen konnte, schmeckte er im Mundwinkel sein eigenes Blut. Hustend und spuckend stützte sich Raul, der immer noch auf seinem Bauch lag, auf seinen Unterarmen ab und versuchte die staubige Luft aus seiner Lunge zu pressen. Sein Husten hallte eine Weile nach und vermischte sich letztendlich mit den übrigen Geräuschen, die hier und da zu hören waren. Ein Kratzen oder Scharren. So sehr Raul sich auch bemühte, seine Augen gewöhnten sich einfach nicht an die schwarze Dunkelheit. Selbst die Umrisse seiner eigenen Hände konnte er nur erahnen. Um nicht in Panik zu geraten, versuchte er sich angstrengt an die letzten Stunden und somit an einen Anhaltspunkt für seinen Verbleib zu erinnern. Er wusste weder, wo er sich befand, noch wie er überhaupt hierhergekommen war. Langsam setzte er sich auf und versuchte das Blut von seiner Stirn zu wischen. Erst dachte er, sein Kopf würde dröhnen aber schnell merkte Raul, dass diese Laute über ihm entstanden. Sie schienen nicht weit über ihm aber immer noch weit genug entfernt, als dass ihn jemand hätte hören können. Anscheinend befand er sich in einer Art Höhle oder unterirdischem Gang. Raul musste weiter, er musste den Ausgang finden. Fast blind durch die Dunkelheit, bahnte er sich nun wackelig seinen Weg über Gestein, Müll und Ungeziefer. Hier und da hörte er Ratten oder Mäuse davon rennen. Manchmal sogar verängstigt durch seine Person aufkreischen. Eher schleichend und immer wieder stolpernd bewegte er sich nun fort. Raul konnte nicht wissen, ob er noch tiefer in diese "Höhle" schlich oder gar im Kreis lief. Unsanft lief er plötzlich gegen eine Wand. Hier roch es modrig und alt. Feuchte Kälte stieß ihm entgegen und hinter seinem Rücken vernahm er ein kurzes leises aber hasserfülltes Lachen. Nun kroch ihm die Angst langsam seinen Rücken empor und entlud sich als Schaudern in seinem Nacken. Er musste sich selbst daran erinnern zu atmen, nicht zu erstarren, drehte sich und rannte ohne auch nur einen Meter vor seinen Füßen zu erkennen, an der Wand entlang. Er hörte und spürte, dass er verfolgt wurde. Ein fast widerliches Schnauben und keuchen rannte ihm ebenso schnell hinterher. Plötzlich trafen ihn zwei Lichtkegel. Weit vor ihm. Orangenes Licht und Raul hoffte nun endlich den Ausgang aus dieser Hölle zu finden. Rasend schnell kamen diese Lichtkegel auf ihn zu, gefolgt von heftigen Surren und Donnern. Erst jetzt bemerkte er, dass er auf Gleisen stand. Er war also in einem U-Bahn Schacht gefangen. Er wusste selbst, dass es unmöglich war, ihn hier in dieser Dunkelheit zu entdecken. Ihm blieb nichts anderes übrig, als ein Stück abseits der Gleisen nach Schutz vor dem Sog und der erachtlichen Kraft des Zuges zu suchen. Schnell fuhr die Bahn an ihm vorbei. Menschenleer. Polternd und ratternd verschwand sie in der Dunkelheit, als ihn erneut ein kleinerer sanfterer Lichtstrahl von der gegenüber liegenden Seite traf. "Erschrecke dich nicht." flüsterte die sanfte weibliche Stimme. Raul war froh, noch einen Menschen hier unten zu begegnen. "Was machst du hier unten? Hast du mich eben verfolgt?" rief er dennoch panisch hinüber. "Pscht, nicht so laut. Ich komme zu dir rüber." antwortete sie wieder flüsternd. Als sie neben ihm stand, packte sie seine Hand und zog ihn hinter sich her. Ohne jegliche Fragen zu stellen, folgte er ihr. Froh und erleichtert, da sie den Weg nach draußen zu kennen schien. "Wir müssen uns beeilen. Er hat bemerkt, dass du hier bist." "Wer ist er?" fragte Raul keuchend. "Harald." antwortete sie ohne weitere Erklärungen. "Verdammt, das ist doch total irre hier. Ich weiß gar nicht, wie ich hierhergekommen bin. Was suchst du hier?" Schnellen Schrittes zog sie ihn weiter hinter sich her. Jetzt erst merkte Raul, dass sie am ganzen Körper zitterte. "Vermutlich bist du so wie ich hierhergekommen. So wie alle anderen." Raul verstand nicht und stolperte erneut über einen größeren Stein. Er fiel zu Boden. "Schnell wieder hoch. Er ist dicht hinter uns." Langsam kroch das Gefühl der Angst wieder in ihm auf. Ein dicker Kloß schien nun in seinem Hals zu stecken und abwechselnd wurde ihm kalt und heiß. "Wenn du dich beeilst, musst du keine Angst haben, du hast es gleich geschafft." Nun begann sie zu rennen. Hinter ihnen konnte Raul wieder das hämisch widerliche Lachen hören. "Ich bin Lola. Es war damals eine Mutprobe. Genau wie bei dir. Du hast dir den Kopf gestossen. Deine Erinnerung wird bald wieder zurückkommen. Allein bei Nacht in einen U-Bahn-Schacht klettern. Wir töricht ich war. Los komm, gleich hast du es geschafft." Raul blieb keine Zeit, sich darüber zu wundern, dass sie stets nur von ihm und nicht von sich selbst sprach. Er konnte schon das Licht sehen. Er konnte den Bahnsteig sehen und das Personal eines Wachdienstes. "Lola schau, sie warten auf uns. Wir schaffen es." Die widerliche Kreatur war ihnen dicht auf den Fersen. Wieder stolperte Raul und roch den Hass förmlich, welcher von ihrem Verfolger ausging. Er raffte sich auf und wurde im selben Moment gepackt. Mit seinen Füßen trat er zu, ohne zu wissen auf wen oder was. Wild schlug er um sich und konnte im Augenwinkel beobachten, dass Lola ihn dabei musterte. Die Angst verlieh ihm unmenschliche Kräfte und so schaffte er es, sich los zu reissen. Lola stieß ihn in das Licht, welches vom Bahnsteig vor ihnen ausging und rief ihm hinterher. "Danke Raul, Danke dass du da warst." Raul konnte sich nicht mehr auf den Beinen halten und fiel geblendet vom Licht und vom Abfall seiner ganzen Angst auf die Schienen.
Eine Woche später saß er bereits wieder im Zug, die Tageszeitung vor sich aufgeschlagen. "Die Leiche des vermissten Mädchens Lola Reichert, wurde nach über einem halben Jahr erfolgloser Suche in einem stillgelegtem U-Bahn-Schacht aufgefunden. Auch ihr Mörder, Harald Hansen konnte gefasst werden"
Raul konnte immer noch nicht glauben, was ihm geschehen war. Noch weniger fassen, dass er alles ohne größeren Schaden überlebt hatte. Nachdem das Wachpersonal ihn versorgt, den Krankenwagen alarmiert hatte, stiegen sie selbst mit Verstärkung hinein und suchten den gesamten Schacht nach benannten zwei Personen ab, von denen Raul erzählt hatte. Lola Reichert wurde am hinteren Ende des Schachtes, welches nur noch als Abstelldepot diente, entdeckt. Schon vor 4 Monaten war sie brutal ermordet worden. Nachdem Harald Hansen seine Kündigung als Reinigungskraft des U-Bahn-Schachtes nie verkraftet hatte, lebte er nun versteckt in diesem. Neben Lola Reichert konnten noch drei weitere Leichen geborgen werden. Als Motiv gab Herr Hansen an, sich stets um die Sauberkeit bemüht zu haben und sich nicht wieder seinen Lebensinhalt durch Eindringlinge wegnehmen zu lassen.