Morbidias Schwester Helena kommt überraschend zu Besuch und involviert die Familie Plogojowitz in ihre privaten Probleme. Sehr zum Leidwesen von Lucius. Titelbild: www.Bilderkiste.de
Derweil im Schloss versuchten es Carmilla, ihr Bruder und Alaister mit wissenschaftlicheren Methoden das Problem von Helena zu lösen. „Es ist ganz einfach, du musst lediglich die dir gestellten Fragen wahrheitsgemäß beantworten. Danach werten wir die Ergebnisse aus und wissen welcher Typ Mann zu dir passt“, erklärte Lucius jr. in möglichst einfachen Worten. „Gut, ich bin bereit.“ „Erste Frage: Wie stellst du dir einen perfekten Tag vor?“ „Lange ausschlafen, Frühstück im Bett, ein ausgedehnter Spaziergang im Mondschein und dann noch ein romantisches Dinner.“ Lucius jr. hielt sich den Magen vor Schmerzen, Alaister hatte plötzlich einen unwiderstehlichen Gefallen an der Zimmerdecke gefunden, nur Carmilla schien diese Vorstellung nicht abwegig zu finden. „Frage zwei: Wie sollte dein Traummann aussehen?“ Helena sah sich im Raum um. „Schwer zu sagen, irgendwie wie Alaister, nur athletischer und vielleicht noch ein wenig größer als ich.“ „Ich mag nicht athletisch erscheinen, aber ich bin unglaublich drahtig“,
empörte er sich. „Dritte Frage: Welchen Charakter soll dieser Mann haben?“ „Nett, höflich, aber nicht zu intellektuell und…wenn er reich wäre, wäre das auch nicht schlecht.“ Sie kicherte aufgrund dieser Aussage. „Gut, ich denke wir haben alles, Carmilla, was sagt das Ergebnis?“ „Zusammenfassend will Tante Helena einen Mann der romantisch, athletisch, mindestens 1,80 Meter groß, möglichst vermögend und nicht zu klug sein darf?“ Helena nickte verträumt. Die anderen 3 gingen stumm den Auswertungsbogen durch. „Ein Sportler käme für sich in Betracht, vielleicht ein erfolgreicher Fußballer?“ „Ein Sportler?“, fragte sie verwirrt. „Stimmt, so einer würde wahrlich zu dir passen.“ „Reich, athletisch, Größe kein Problem und Intelligenz haben die Meisten sowieso nicht mit Löffeln gefressen“, zählte Lucius jr. auf. „Nicht schlecht, aber, wo ist die Romantik?“, fragte Helena. „Man kann nicht alles haben“, fügte Alaister hinzu. „Und was ist, wenn ihr die Sportler weglasst?“ Erneut ging man die Liste durch und blickte sich danach
erschrocken an. „Willst du es ihr sagen?“, fragte Carmilla ihren Bruder, „Bestimmt nicht und du?“ „Wenn ich dich doch frage!“ „Dann mache ich es eben“, erklärte sich Alaister bereit, „Fräulein Helena, es gibt keinen Männertypen auf der Liste mehr.“ Ihre Mundwinkel bebten und ihre Augen wurden feucht. Ein ersticktes Wimmern entfuhr ihr. „Macht nichts Tante Helena, du wärst bestimmt eine sehr schöne alte Jungfer“, versuchte es Lucius jr. tröstlich. Daraufhin wurde ihr Taschentuch wieder zu ihrem engsten Freund. „Klasse gemacht, Brüderchen.“ „Das war nicht charmant, Master Plogojowitz.“
Als das Ehepaar Plogojowitz vom Spaziergang zurückkehrte war Helena bereits im Gästezimmer verschwunden. „Hat jemand von euch meine Schwester gesehen?“ Alle verneinten. „Ihr wisst also nicht wo sie sich aufhält?“ Erneute Verneinung. „Ich habe so das Gefühl das hier irgendetwas verschwiegen wird.“ Verneinung. „Siehst du Schatz, es
besteht nicht der geringste Grund zur Sorge“, beruhigte sie Lucius und versuchte Morbidia von den anderen weg zu manövrieren. „Oh, da wäre noch eine Frage. Was ist das für ein Papierstreifen, der aus deiner Anzugtasche herausragt, Alaister?“, fragte Morbidia scharf. „Mein Rezept zur ärztlichen Befugnis Marihuana konsumieren zu dürfen.“ „Dann dürfte es dir auch nichts ausmachen, wenn ich es mir mal ansehe?“ Widerwillig überreichte er das Papier. Morbidias Augen schienen sich bei jeder Zeile zu weiten. Dass sie nicht aus dem Kopf fielen kam dabei schon einem Wunder gleich. „Ihr habt diesen fürchterlichen Test mit meiner armen, verwirrten Schwester durchgeführt?“ Diesmal nickten alle. „Schämt ihr euch denn nicht das arme Ding so zu desillusionieren?“ „Cherie, der Test wurde von Wissenschaftlern führender britischer, amerikanischer und deutscher Universitäten zusammengestellt. Die Seriosität ist damit nahezu unendlich!“ „Papperlapapp!“ Morbidia zerriss das Papier in 2 Teile und warf sie mit
einer ausladenden Geste hinter sich. „Am Ende haben diese Testergebnisse auch noch recht!“, rief sie den anderen zu und verschwand im Raum mit den Pflanzen.
Am nächsten Abend hatte man immer noch keine Lösung für das Problem gefunden, jedoch hatte man Helena eine Beschäftigung gegeben, sie assistierte Alaister bei der Zubereitung eines Trankes zur Beseitigung von Halsschmerzen, was sie zumindest zeitweise von ihren Problemen ablenkte. „Sie braucht einen Mann, ohne Zweifel.“ „Aber woher nehmen, wenn nicht stehlen?“ „Kemal?“, schlug Lucius vor. „Nein, nicht einmal ein Misthaufen würde Kemal heiraten“, warf Carmilla niedergeschlagen ein. Plötzlich klopfte es höflich an der Tür[1].
[1] Ja, es gibt eine höfliche Form von anklopfen, Sie ist das genaue Gegenteil davon, was manche Zeitgenossen als Anklopfen bezeichnen, aber dabei praktisch die Tür einschlagen, obwohl sie einen nur mal nach der Uhrzeit fragen wollten.
Lucius öffnete. „Sie wünschen?“ „Entschuldigen Sie, mein Wagen hat einen Platten. Deshalb wollte ich fragen ob ich vielleicht in diesem wundervollen alten Schloss übernachten dürfte, denn bei diesem Licht ist es mir nicht möglich den Reifen zu wechseln.“ Lucius grinste breit. Ein neues potenzielles Opfer schien gefunden. „Aber natürlich, aber zuerst möchte ich wissen wer denn unser Essen, äh, Gast ist.“ „Entschuldigen Sie meine Indiskretheit“, er lüftete seine Melone, „Roderick Usher[1], New England, stets zu Diensten.“ Usher war dünn und hochgewachsen und strahlte die Würde eines Mannes aus, der aus einer sehr alten und nicht minder reichen Familie stammte. Plötzlich ging Lucius ein Licht auf. „Sagten Sie gerade England?“
[1] Nicht zu verwechseln mit dem Roderick Usher aus der Geschichte von Edgar Allen Poe, dem Niedergang des Hauses Usher, der ging ja gar nicht mehr aus dem Haus.
„New England.“ „Besser als kein England, treten Sie doch bitte ein, mein Name ist Lucius Plogojowitz, ich bin der Herr dieses bescheidenen Heimes.“ Stolz führte er den Gast in den Gemeinschaftsraum. „Familie, darf ich vorstellen, Roderick Usher aus New England. Mister Usher, das ist meine zum Verrücktwerden schöne Frau Morbidia“, Usher gab ihr einen Handkuss, „und meine beiden Kinder Lucius jr. und Carmilla.“ Auch sie begrüßte Usher höflich. „Kinder, würdet ihr bitte Alaister und Helena holen?“ „Ich möchte sagen dass sie einen exquisiten Geschmack für Kunstgegenstände haben. Einen solchen habe ich bisher bei noch keiner anderen Familie gesehen, da würde ja das Auktionshaus Chrisite‘s glatt neidisch werden“, ließ sich Roderick vernehmen und bestaunte den Gemeinschaftsraum. Alaister und Morbidias Schwester kamen in diesem Augenblick herein. „Das ist Alaister unser Butler und das ist meine Schwester Helena.“ „Oh, welch ein Bild von einer Frau haben sie doch zur Schwester. Ihr
Vater muss doch recht stolz sein auf zwei so bildhübsche Töchter.“ Auch Helena gab er einen Handkuss, die errötete. „Und mit wem haben wir das Vergnügen?“, fragte sie und kicherte. „Roderick Usher, New England, stets zu Diensten.“ „Aus den Kolonien ist der Herr?“ „Alaister, bitte“, ermahnte ihn Lucius, was für allgemeine Verwirrung sorgte, da Morbidia normalerweise diesen Part übernahm. Es lag definitiv etwas in der Luft und damit war nicht nur der Geruch von muffigen Dachböden gemein, den die schwarzen Rosen verströmten.
Am kommenden Morgen hatte Alaister den Reifen gewechselt und Roderick Usher machte sich bereit wieder in Richtung Frankreich zu fahren, von wo aus er ein Schiff an die Ostküste der USA nehmen wollte. Doch er nahm nicht nur sein spärliches Reisegepäck mit sondern auch Helena, in die er sich verliebt hatte. „Ich freue mich ja so für dich, dass du endlich den Mann deiner Träume gefunden hast.“ „Ja, er ist wie ein Prinz, nur in einem
Auto und nicht auf einem Pferd - der Fortschritt der Technik.“ „Und Sie haben wirklich nichts mit den anderen Ushers zu tun, denen aus Poes Geschichte?“, fragte Lucius. „Nein, wo denken Sie denn hin?“ „Und Sie sind sich wirklich sicher, dass sie mit dieser Frau zusammen sein wollen?“ „Es ist mein vollster Ernst, ich war mir in einer Sache noch nie so sicher.“ Lucius gab ihm einen festen Händedruck. „Viel Glück, Sie werden es brauchen.“ Dann fuhren sie davon. Alle waren bereits wieder ins Schloss gegangen, außer Morbidia und Lucius. „Ist es nicht unglaublich, dass Helena doch noch ihre große Liebe gefunden hat, obwohl es scheinbar unmöglich war?“, fragte Morbidia und legte ihren Kopf auf die Schulter ihres Mannes. „Ja, es ist unglaublich wie viele Wahnsinnige es auf dieser Welt gibt.“