Morbidias Schwester Helena kommt überraschend zu Besuch und involviert die Familie Plogojowitz in ihre privaten Probleme. Sehr zum Leidwesen von Lucius. Titelbild: www.Bilderkiste.de
Für den Bruchteil eines Augenblickes regte sich Lucius Plogojowitz gar nicht, denn in diesem Zeitraum versuchte sein Gehirn der Flut an Informationen Herr zu werden, welche von seinem Körper über es hereinbrach. Praktisch jedes Glied seines Körpers versuchte in eine andere Richtung zu fliehen. Nach dieser Phase kurzzeitiger ungeordneter Panik einigten sich Gehirn und Körper darauf mit einem Tempo bei dem sogar ein gedopter Usein Bolt wäre grün vor Neid geworden in den Gemeinschaftsraum zu sprinten, sich eine der alten Flinten zu schnappen, eine Pickelhaube auf dem Kopf zu platzieren und gleichzeitig hinter seinen Ohrensessel zu springen und dort vor Angst zitternd auf das nahende Unheil zu warten. Carmilla, die dieses Szenario beobachtet hatte, als sie gerade damit beschäftigt war ihre Fähigkeiten im Abschießen von Giftpfeilen zu verbessern indem sie auf eine Zielscheibe mit einem Blasrohr schoss, blickte erstaunt zum Sessel. „Vater, was ist passiert?“, fragte sie erschrocken. „Helena,
Helena“, stammelte er leise vor sich hin. Auch Lucius jr., der bis gerade eben in seinem Zimmer auf seiner Stradivari geübt hatte, wobei er dies so leise tat, dass niemand es mitbekam, stürzte die Treppe hinunter und fand seinen Vater in dieser angsterfüllten Position. „Was hat er jetzt schon wieder angestellt?“, kam es von den Lippen seines Sohnes. Lucius schien jetzt für kurze Zeit aus der Monotonie eines Wortes herausgerissen. „So spricht man nicht über seinen Vater!“, rief er um dann wieder permanent den Namen seiner Schwägerin zu stammeln. Jetzt trafen auch die Anderen im Gemeinschaftsraum ein. „Mutter, was ist mit unserem Vater?“, fragte Carmilla mit Entsetzen in der Stimme. „Meine Schwester kommt zu Besuch, das hat ihn emotional schwer mitgenommen.“ Ein erstickter Schrei erklang hinter dem Ohrensessel. Alle anderen Anwesenden atmeten erleichtert auf. Man hatte schon Schlimmeres befürchtet. „Wir müssen die Kinder von hier wegbringen, wie wäre es diesmal nach Oxford?“, kam es Lucius in den
Sinn. „Schatz, dürfte ich dich daran erinnern, dass unsere Kinder nicht wegen meiner Schwester in Cambridge studiert haben, sondern dass sie wegen ihrer Fähigkeiten dies taten? Und außerdem besuchte uns Helena erst nachdem die Kinder weg waren.“ „Da siehst du wie vorausschauend ich doch bin!“, schrie Lucius hinter dem Sessel hervor.
Es knallte laut als jemand gegen die massive Tür des Schlosses hämmerte. Blitzartig war Lucius aus seinem Versteck herausgesprungen und rannte im Zick zack durch den Raum. „Ruft Amnesty International, die NATO, die EU, egal!
Und wenn gar nichts mehr hilft eben Ceausescu[1]!“ Morbidia hob verwundert die Augenbrauen. „Aber Ceausescu ist seit 1989 tot.“ Mit irrem Blick starrte Lucius seine Familie an. „Da sieht man es wieder, man kann sich auf niemanden in der Politik verlassen.“ „Lucius, ich befehle dir sofort mit diesem Unsinn aufzuhören!“, machte seine Frau mehr als deutlich klar. Da verlor der Wahnsinn im Herrn des Hauses die Kontrolle und Lucius packte seine Frau leidenschaftlich.
[1] Nicolae Ceausescu war von 1967-1989 Staatspräsident von Rumänien. Ceausescu betrieb ab Mitte der 70er einen besonderen Personenkult, der, neben seiner stalinistisch, diktatorischen Herrschaft dazu führte, dass man ihn, zusammen mit seiner Frau, 1989 nach kurzer Verhandlung vor einem zusammengewürfelten Militärgericht hinrichten ließ.
„Wenn du mich so anschreist, dann bin ich ganz dein, meine schwarze Rose.“ „Schatz, bitte, wir haben einen Gast im Haus.“ Dem wurde er sich dann doch bewusst und er ließ von ihr ab.
„Fräulein Helena Wieczorek ist soeben eingetroffen“, sprach Alaister mit leichtem Groll in der Stimme während er, behangen mit einer Armada aus Handtaschen und 3 Kisten schleppend die Treppe zum Gästezimmer hinauf schwankte. Kemal folgte ihm mit einer weiteren Kiste. Helena trat in den Gemeinschaftsraum und umarmte ihre Schwester herzlich. „Schwester, wie lange ist es her, dass wir uns das letzte Mal sahen?“ „1466 Tage, heute nicht mitgezählt“, antwortete Helena wie aus der Pistole geschossen. „Zählst du etwa die Tage, bis du uns wieder belästigst?“, fragte Lucius zynisch. „Lucius, bitte“, ermahnte ihn Morbidia, doch Helena schien diese Worte überhaupt nicht vernommen zu haben und umarmte ihren
Schwager so, als wären beide die dicksten Freunde. Er schob sie bestimmt von sich weg. Nun begrüßten auch die Kinder ihre Tante freundlich. „Carmilla, was hast du doch wieder für ein schönes Kleid an, aber die Farbe, schrecklich langweilig! Aber meine Schwester trägt ja auch dieses schwarz ganz gern, obwohl dieses Jahr blau das neue schwarz ist“, plapperte Helena vergnügt.
An dieser Stelle merkt man bereits, dass Helena Wieczorek etwas anders war, als die restlichen Familienmitglieder[1].
[1] Die Familie Wieczorek ist eine Familie, die einstmals von Polen aus sich dafür entschied gen Balkan zu ziehen. Im Gegensatz zu den Plogojowitz haben sie keinen berühmten Vorfahren hervorgebracht, aber auch sie sind eine sehr ehrwürdige Familie. Im Gegensatz zu ihrer Schwester Morbidia war Helena kein Kind nach Familienart. Allein ihre Erscheinung ist nicht gleich der der restlichen Familienmitglieder. Helena ist auf eine recht penetrante Art und Weise strohblond. Und obwohl sie viel Zeit investiert möglichst gleichmäßig glatte Haare zu besitzen entdeckt sie doch immer wieder vereinzelte Locken, die sich nicht glätten lassen wollen. Auch ist sie mit einem sehr sonnigen Gemüt ausgestattet. Übel kann sie einer anderen Person nichts nehmen, was man an der Bemerkung von Lucius eben merkte. Eigentlich kann man Helena nicht verdammen, denn sie ist wahrlich bildhübsch, allerdings nicht geheimnisvoll anziehend wie ihre Schwester sondern eindeutig nur ausgesprochen attraktiv mit einer besonderen Wirkung auf Männer aller Altersgruppen. Ihr Kleidungsgeschmack deckte sich auch nicht mit irgendjemandem anderen in der Familie, denn Helena bevorzugte frische helle Farben, obwohl auch sie als Vampir eigentlich nur in der Dunkelheit unterwegs war. Dummerweise schlug sie auch was die Intelligenz anging nicht in die Kerbe der Familie. Sie war Treu wie ein kleines Hündchen wenn es um Männer ging, jedoch hatten die schnell genug davon, dass ihre Partnerin einen latenten Mangel an intelligenter Konversation zeigte wenn die Phase des übermütigen Matratzensports vorbei war. Helena war nicht dämlich, aber besonders intelligent auch nicht. Ihr Vater hatte über das Gesamtpaket an jüngerer Tochter einmal gesagt: „Wenn ich bei der Zeugung nich dabei gewesen wäre, dann würde ich glauben, dass meine Frau fremd gegangen wäre, mit irgendeinem dümmlichen Schönling.“
„Bitte, setz dich doch erst einmal. Erzähl, warum bist du hier?“ Helena zog ein großes Taschentuch mit Blumenmuster hervor und trompetete laut hinein. „Manfredo, dieser italienische Kunsthändler, hat es nicht einmal soweit kommen lassen, dass ich seiner Mutter vorgestellt wurde. Und dann war da noch Jean, dieser nette französische Baguettebäcker, mit dem hatte ich immerhin 3 Dates, ein neuer Rekord!“ „Und dann?“, fragte Morbidia voller Erwartung. „Zum Vierten kam er nicht mehr.“ „Oh.“ „Welch unerwartete Wendung des Schicksals“, ließ sich Lucius vernehmen. Während ihn die restlichen Familienmitglieder mit wütenden Blicken durchlöcherten nickte Helena zustimmend. „Unerwartet, in der Tat. Und dann kam Hermann, ein deutscher Universitätsprofessor.“ „Von welcher Universität? Deppendorf?“, ließ sich ihr Schwager vernehmen. „Nein, Heidelberg. Und er hat mir viel beigebracht, viel erzählt, es war einfach perfekt, bis zu dem Punkt als er nichts mehr zu sagen hatte. Ich konnte ja nicht die
gleichen Dinge von Bedeutung sagen, Ende der Beziehung, c‘est la mie.“ „Helena, es heißt c’est la vie, so ist das Leben und nicht so ist die Krume“, korrigierte ihre Schwester. „Männer“, klagte ihre Schwester. Die anderen Frauen im Raum stimmten ihr zu. „Glücklicher Teufel“, erklang es diesmal aus Kemals Mund. Alaister kam mit einem Tablett auf dem er Tassen und eine große Teekanne balancierte herein. Alle bedienten sich vom Tablett, als Letzte Helena. „Alaister, wusstest du eigentlich dass ich euch Engländer wegen eures Akzentes schrecklich interessant finde?“ Er räusperte sich kurz. „Nein, vergebt mir meine Unwissenheit“, sprach er mit erzwungener Ruhe. „Bist du eigentlich momentan vergeben?“ „Allerdings, an meinen Beruf“, brachte er hastig hervor und verschwand dann in Rekordzeit, ohne dabei das Tablett zu verlieren, in der Küche. „Du musst entschuldigen, Alaister ist etwas scheu.“ „Ja, genau wie ich“, seufzte Helena, wobei sich Vater und Sohn beinahe an ihrem Tee verschluckt hätten.
Wenig später hatte sich die Gesellschaft aufgelöst und das Ehepaar Plogojowitz spazierte über den Friedhof auf dem zu dieser Jahreszeit die Grabgestecke besonders schön blühten. „Liebling, ich bin zutiefst enttäuscht von deinem Auftreten meiner Schwester gegenüber.“ „Aber du weißt doch dass deine Schwester bei mir Kopfschmerzen auslöst wie ich sie nicht habe, wenn ich versehentlich gegen den Deckel meines verschlossenen Sarges knalle.“ Morbidia musste leise lachen als sie sich Lucius dabei vorstellte. „Vergiss nicht dass sie zur Familie gehört.“ „Wie könnte ich das vergessen, da du doch ihre Schwester bist“, antwortete Lucius verträumt. „Ja, aber wir sollten uns umgehend darum kümmern, dass meine Schwester wieder normal wird. Man müsste sie ablenken können von ihren Problemen.“ Nach ein paar stillen Augenblicken kam Lucius Plogojowitz ein entscheidender Gedanke. „Ist doch ganz einfach, sie braucht einen Mann, ich hätte einen anzubieten; meinen alten Freund Charles Winterbottom,
Graf von Essex!“ „Lucius, der Mann hat nur noch ein Bein, ist heute mindestens 80 Jahre alt und hört praktisch nichts mehr“, warf seine Frau ein. „Dann wäre die Chance, dass er sie um ihrer Selbstwillen nimmt doch deutlich höher und außerdem ist er Engländer.“ „Lucius, er ist über 80!“ „Du meinst er ist zu jung für sie?“ „Er ist kein Vampir, da sind seine Jahre praktisch das Ende des Lebenstunnels.“ Lucius zuckte mit den Schultern. „Umso besser, dann profitiert sie aus dieser Beziehung, denn wenn er stirbt behält sie den Titel und erbt sein Vermögen.“