Beschreibung
Theoretisch dürfte es mich nicht geben.
Während ich auf das Ergebnis der Untersuchung wartete, überdachte ich meine Situation. Als erstes brauchte ich ein Zuhause. Ich musste mich unbedingt mit unserem Clan in Verbindung setzen. Erst dann konnte ich weitere Entscheidungen treffen.Â
Also setzte ich mich ins Wartezimmer und blätterte durch die ausliegenden Illustrierten. Die Werbeanzeigen interessierten mich ganz besonders. Die Welt hatte sich während meiner Abwesenheit stark verändert. Wofür man wohl einen PC benutzte? Und was hatten Äpfel mit Fernsehern zu tun?
Bei einer der Anzeigen stutzte ich. Julians kleines piepsendes Gerät war ein tragbares Telefon! Begierig weitere Informationen über die Welt, in der ich aufgewacht war zu erhalten, las ich jede einzelne Zeitschrift von der ersten bis zur letzten Seite.
Die Sonne stand bereits hoch am Himmel, als eine der Krankenschwestern auf mich zukam:
„Sie können jetzt zu ihrem Mann. Er schläft.“
Vorsichtig beugte ich mich über Julian. Ein weißer Verband zierte seinen Kopf. Aus einem Transfusionsbeutel lief Blut in seine Armvene. Ich spürte, dass sein Leben an einem seidenen Faden hing. Sein Herz schlug langsam und holprig. Seine Seele schien nicht mehr mit dem Körper verbunden zu sein. Ich sah ihren Schatten neben dem Bett stehen. Beruhigend nickte ich ihr zu, gab ihr ein Zeichen, in der Nähe zu bleiben. Ich hatte Julian unter meine Fittiche genommen, also würde ich ihn vor dem fast unvermeidlichen Tod retten.
Suchend blickte ich mich im Krankenzimmer um. Neben dem Bett stand auf einem Rollwagen eine metallene Schale mit einer aufgezogenen Spritze. Vorsichtig löste ich die Schutzkappe der Nadel und stach mir damit tief in die Kuppe des Mittelfingers. Blut quoll hervor. Ich öffnete Julians Mund, quetschte weitere Tropfen aus dem Finger und lies drei Tropfen Blut in seinen Mund fallen. Vollbracht! Mittels dieses Blutes konnte ich Julian, selbst wenn er jetzt starb, wieder zum Leben erwecken. Jetzt gehörte Julian zu uns. Â
Hinter mir trat ein Arzt ins Zimmer. Er blätterte in der Krankenakte.
„Außer dem lebensgefährlichen Streifschuss an der Schläfe konnten wir auch eine starke Prellung am Hinterkopf, einen verstauchten Knöchel und ein verrenktes Knie feststellen. Ferner Hämatome am ganzen Körper. Was ist denn passiert?“Â
„Ich weiß es nicht. Ich ging eine Weile allein spazieren. Als ich zurückkam fand ich ihn blutend im Sand!“
Prüfend musterte mich der junge Arzt von Kopf bis Fuß. Ich sah irritiert an mir herunter. Mein graues Wollkostüm entsprach sicher nicht mehr der neuesten Mode. Ich trug es, als ich in einen Stein verwandelt wurde. Nun zierten es dunkle Flecken von Julians Blut. Verlegen zupfte ich die Jacke zurecht. Der Arzt wandte sich Julian zu, räusperte sich:
„Bei Schussverletzungen müssen wir die Polizei verständigen. Sie werden gleich hier sein und mit ihnen sprechen wollen!“
Die Polizei! Die Beamten würden von mir Julians Namen und seine Adresse wissen wollen. Sie würden seine Daten abfragen und auch meine Personalien überprüfen. Sie würden schnell herausfinden, dass ich nicht mit Julian verheiratet war. Und sie würden noch etwas feststellen. Mich gab es eigentlich nicht. Mich durfte es nicht geben. Vor 65 Jahren starb ich an eben jenem Strand, an dem mich Julians Blut in der vergangenen Nacht wieder zum Leben erweckte.
Mich äußerlich ruhig gebend nickte ich:Â
"Natürlich! Ich werde hier an Julians Bett auf die Beamten warten. Ich hole mir nur schnell aus der Cafeteria etwas zu trinken“.
Niemand hielt mich auf, als ich das Krankenhaus verließ.
(C): Erika Thomas