Kurzgeschichte
Die blaue Königin

Ein wunderschöner Garten verströmt den betörenden Duft von vielen verschiedenen Blumen. Sie alle scheinen im Vollmondlicht in einem silbernen Glanz, während auf dem Weg leichte Schritte zu hören sind. So als würden sie sehen wollen, wer da kommt, werden die Blumen vom Wind hin zum Weg gebeugt. Es ist ihr Hüter, derjenige, der sie vor nicht allzu langer Zeit hier eingepflanzt und sie seitdem jeden Tag gegossen, mit ihnen gesprochen und sie gehegt und gepflegt hatte. Er wirkt wie ein König, dem seine Untertanen zuwinken, während er den Weg entlang einen Schritt nach dem anderen setzt. Die mannshohen Hecken wachen dabei darüber, dass das Volk nicht zu waghalsig wird und sich in seiner Euphorie auf ihn stürzt. Das würden sie jedenfalls gerne, doch wurden sie so beordert, dass sie das Volk vor den äußeren Einflüßen abschirmen, damit die Zarten und Gebrechlichen sich voll entfalten können.
Oft kommt der Hüter her und sieht nach seinen Schutzbefohlenen. Mit dem Fußvolk, welches einem täglich bei einem Spaziergang im Wald begegnet, spricht er selten, doch dies stört es nicht, da sie immer gut behandelt werden und es ihnen an nichts mangelt. Der farbenprächtige und exotische Adel dagegen bekommt viel Aufmerksamkeit von ihrem Hüter. Jeder noch so erlesene Wunsch wird erfüllt, sei es ein exklusiver Dünger, eine längere Sonnenanbetung oder sogar ein besonderes Mineral. Auch die Gespräche kommen dabei nicht zu kurz, wodurch der Adel immer über den Gemütszustand des Hüters informiert ist und es dem Fußvolk weiter zuträgt.

Wie jede Monarchie hat auch diese ein Oberhaupt. Es ist eine Königsrose in einem blauen Kleid, welche die Mitte des Gartens ziert und mit ihrer Schönheit den Adel farblos aussehen lässt. Doch der Adel grämt es ihr nicht, denn ihr ist es zu verdanken, dass sie den Hüter kennen lernen durften. Sie ist das Besondere, welches zwei mächtige Wesen vereint. Jeden Abend kommt der Hüter zu ihr und übergießt sie mit diamantenen Perlen und braunen Köstlichkeiten, während er ihr mit melodischer Stimme Geschichten erzählt und sie zum Erblühen bringt. An wenigen besonderen Abenden sind beide Wesen bei der Hoheit und eine Aura des Frohsinns und der Wärme erfüllt aus der Mitte den ganzen Garten. Die königliche Hoheit ist dabei ihrer Stelle bewusst und lässt jeden Morgen von den ersten Sonnenstrahlen ihr Geschmeide in einem Licht erstrahlen, dass Regenbögen das Volk erfreuen.
Aus diesem Grund ahnt sie allein, dass heute etwas anders ist. Die Schritte des Hüters, obwohl leicht, hallen in ihren Beinen schwer nach und noch bevor sie ihn erblickt, umfasst sie ein bedrückendes Gefühl, welches einige ihrer Blütenfächer unbewusst einziehen lässt. Als er dann ins Sichtfeld tritt, fließen die Mondstrahlen durch ihn, als wäre er gar nicht da. Während das Fußvolk und der Adel vom Wind bestärkt dem Hüter zuwinken, reißt die Königin sich zusammen und setzt einen freundlichen Glanz auf. Geisterhaft und unheimlich schreitet der Hüter zu der Königin, während der Wind mit jedem Schritt an Stärke zunimmt und die ersten Bewohner bemüht sind nicht fortgerissen zu werden.
Noch immer scheint der Vollmond silbern und erhellt die Farbenpracht der Königin, während schwarze Wolken Teile des Lichtteppichs verdecken und den Schatten ein Zeichen geben. Im selben Moment, in dem der Wind Orkanstärke erreicht und damit den letzten Widerstand vieler bricht, spürt die Königin die ihr vertrauten, erfrischenden Diamantperlen auf sich fallen und sie lässt die Blütenfächer erleichtert aufleben. Die Erleichterung weicht jedoch schnell Entsetzen, als sie das Kristall in den Diamantperlen bemerkt und den Schatten des Hüters zu sich beugen sieht.

Als der Sturm abebbt, versuchen die letzten Überlebenden, die nah genug an den schützenden Hecken standen, zur Königin zu schauen. Was sie aber sehen, können sie nicht fassen. Ihre Königin, die immer ein blaues Kleid getragen hatte, liegt nun sterbend auf ihrem Hüter in einem rotgefärbten Kleid. Das letzte Lebenszeichen ihrer Königin, sind die verbliebenen Tränen, die sich in ihren Kleidfalten gesammelt haben und auf den Hüter, der die Mitte des Gartens ausgestreckt besetzt, langsam runter schweben. Danach herrscht nur noch Stille im Garten.