Neuschnee
„Warum kann ich kein Popcorn haben, Papi?“ Die blassen Mandelaugen starrten ihn wütend an. Eine kindliche Wut, die genauso schnell wieder verschwinden würde, wie sie gekommen war.
„Weil wir keins gekauft haben, Mäuschen.“ Er lächelte milde.
„Aber in Opas Vorrat ist noch Mikrowellenpopcorn...“
„Mäuschen! Mikrowelle – Strom? Was haben wir seit einer Woche nicht?“
„Strom!“ kreischte sie neunmalklug. Sie setzte ein Lächeln auf, das ihm sonst immer zu Tränen rührte, aber nun, mit all den Zahnlücken und dem blassem Zahnfleisch eher erschreckte.
„Richtig Schatz!“ Er streichelte ihr über den Kopf, dann klaubte er die Haare zwischen seinen Finger heraus und warf sie mit Entsetzen auf den hölzernen Boden der Blockhütte.
Der Vater stand von dem alten Sofa seines Vaters auf und ächzte. Er rieb sich die juckenden Arme und schlurfte zu dem Ofen an der Wand, dann blickte er in den großen Vorratsschrank und meinte: „Ich könnte dir Bohnen machen.“
„Schon wieder? Bäh!“
„Die machen satt!“
„Die schmecken Scheiße!“
„Mäuschen!“ Ein Lachen huschte über das blasse Gesicht des Vaters.
Wozu hatte er sie hier hoch geschleppt? In der Stadt wären sie auch nicht besser dran gewesen, aber in der Stadt hätten sie wenigsten noch Supermärkte... Nein! Die waren alle geplündert! Und sie hätten ihn und seine Tochter schon tot geschlagen. Bestimmt. Der Vater versuchte die Verzweiflung, die sich in ihn rein gefressen hatte, wie eine tollwütige Ratte, zu verbergen, doch seine Tochter spürte auch so, dass nichts mehr so war, wie zuvor. Sie hatte die Nachrichten verfolgt, nach dem das Beben vorbei war und das Wasser nur Tod und Verderben hinterlassen hatte, wusste sie, dass ganz und gar nichts mehr in Ordnung war. Und Mama war weg. War jetzt bei den Wassergeistern. Musste den kleinen Geistern beibringen, wie man schwimmt und taucht. Und ihr Vater wollte plötzlich während der Schule Urlaub machen, in Opas alter Hütte im Wald auf den Bergen.
Ihr konnte man nichts vormachen. Doch er versuchte es. Versuchte ihr zu erklären, dass ihre Milchzähne ausfielen, weil sie nun langsam erwachsen wurde. Sagte ihr dass hin und wieder Haare in der Bürste bleiben und man manchmal etwas Blut aus hustete, wenn man eine schwere Erkältung hatte.
Die Abende waren schön. Wenn sie in der Dunkelheit auf das Rauschen des Windes hörten, der von der Küste kam, war fast alles in Ordnung – Auch wenn Mama nicht da war. Doch wenn ihr Vater versuchte das Rauschen des Radios als „Aus dem Empfang“ zu erklären, wusste selbst sie, dass in der Zeit von W-Lan und UMTS Nichts nicht mehr empfangen werden konnte. Dann verspürte sie ein wenig Angst und ihr Vater nahm sie in seine zitternden Arme, drückte und küsste sie herzlich. Manchmal konnte sie seine Tränen ihren Nacken herab rinnen spüren und sie wusste nicht, ob es wegen Mama war, oder weil er nicht wusste, wie es weiter gehen sollte. Er schüttelte sich immer und suchte aus der Spielebox ein Brettspiel heraus, mit dem sie sich dann bis zum Schlafengehen beschäftigten.
„Was ist jetzt mit den Bohnen?“
„Nö!“ Sie rannte auf ihn zu, vergrub ihr Gesicht in seiner schmutzigen Hose und küsste seine Beine. „Ich hab dich lieb Papa!“
„Ich dich auch Mäuschen!“
Sie hustete und spuckte Blut auf das Holz.
„Schatz bitte! Dafür haben wir Tücher!“
„'Tschuldige Papilein!“ Lachend lief sie weg, kam mit Toilettenpapier wieder und wischte das Malheur auf. „Schau mal Papi, es schneit!“
Der Vater guckte aus dem Fenster in die Wolke. Der Wolke, die sie nicht entkommen konnten. Das Mädchen lief zum Sofa und hüpfte aufgeregt auf dem Möbel herum. Matt und fast erschlagen kroch der Mann zu ihr und setzte sich, neben das springende Kind. Sie umarmte seinen Hals und schaute mit strahlenden Augen aus dem Fenster hinter der Couch.
„Ist es nicht viel zu spät für Schnee, Papilein?“
„Ja, Mäuschen...“
„Das ist komisch, oder?“
„Ja...“
Sie lächelte glücklich und ein Rinnsal frischen Blutes lief ihr aus dem rechten Nasenloch und die Einleitung eines grimmschen Märchens kam ihm in den Sinn, als er das Blut auf ihrer weißen Haut schimmern sah. Weiß wie Schnee, rot wie Blut und so schwarz wie Ebenholz. Sie legte sich auf seinen Schoss, hustete heftig und streichelte sein Knie
„Ich liebe dich mein Mäuschen!“
Als er das Knacken ihres Genicks vernahm, wusste er, dass er keinen Menschen auf der Welt mehr geliebt hatte als dieses kleine Mädchen...