Romane & Erzählungen
Der gute Feddersen

Der gute Feddersen

Feddersen lebte ein ausgesprochen wohl geordnetes Leben, was sich strickt nach der Uhr richtete. Er stand jeden Morgen um sechs Uhr auf, rasierte und duschte sich, aß zwei Scheiben Toast mit bitterer Marmelade, kam um halb neun ins Büro, machte pünktlich Mittag und ging pünktlich um 17: 30 Uhr nach Hause, kochte sein Abendessen um sieben, schaute etwas fern und ging pünktlich um 23 Uhr zu Bett.
Doch an einem Donnerstag im November sollte sein geregeltes Leben einen kleinen, aber feinen Stich erhalten. Für einen Mann wie Feddersen ein wahnsinns Ereignis!
Es war 17:30 Uhr, als Feddersen sein Büro verließ und neben der kleinen Bude des Pförtners stand.
„Na Herr Feddersen, pünktlich wie immer!“
„So soll es sein!“ Steif, wie ein junger Heinz Rühmann, stapfte Feddersen an ihm vorbei und nickte abweisend. Zwei Minuten Fußweg zur Haltestelle durch tristen Novemberregen, drei Minuten warten, einsteigen, viertel Stunde Fahrt, durch eine in Zwielicht getauchte Stadt und dann in sein Appartement wo er zwanzig Minuten duschte. Er ging in sein Wohnzimmer, legte eine CD von Bach in den DVD- Player und setzte sich in Unterhosen und mit nassem Haar auf seine weiße Ledercouch und starrte erst auf die Spiegelung seines Deckenfluters in dem blitzblanken Chriestalltisch und dann durch das Fenster in das lausige Hamburger Wetter.
Etwas verschnaufen, dann die Vorbereitungen für das Abendmahl und dann…?
Wie durch Magie berührte er den Knopf seiner Fernbedienung, auf der Turner stand. Die Streicher erloschen, machten dem Dröhnen der letzten deutschen Punker platz.
„…in der Castro seinem Volk noch mal verspricht: Wir werden siegen! Irgendwann einmal! Wir werden siegen, doch bis dahin ist es noch ein langer Weg!*“ kreischte Campino.
Erschrocken zielte Feddersen auf seine Hightech Minianlage von Bang& Olafsson und stellte den Krach ab. Die CD wurde wieder regestartet und die Streicher versuchten den kleinen Funken in ihm zu löschen. Wir werden siegen! Feddersen tippte mit allen zehn Fingern auf seine nackten Knie und starrte frustriert in den dunklen Novemberabend.
Karfreitag sollte im November stattfinden, dachte er und atmete schwer durch.
Vielleicht bringe ich mich selber um?
Er grinste über den Gedanken. Er wusste, er war viel zu feige, außerdem war das Leben viel zu süß. Kreuzigung? Heute würde er sogar mit … tauschen? Verrückter Gedanke, alter Freund! Schweres Seufzen! Dann sah er den jungen Mann auf dem Hamburger Hauptbahnhof.
Vor vier Jahren. War es schon so lange her? Mann, die Zeit verging wie im Fluge – da war er noch fünfunddreißig – Herr im Himmel! Es war ein Montag, irgendeine Festivität war in HH über das Wochenende gewesen. Vielleicht ein Rave, oder ein Konzert, oder ein Hippiefest? Was wusste er! Er wusste nur, er musste an diesem schönen Sommermorgen arbeiten. Damals wohnte er noch in der Vorstadt, ja scheiß U-Bahn!
Der Typ stand auf einem der Abfalleimer, er trug eine graue Hose mit chinesischen Schriftzeichen, eines dieser blauen Hemden mit einem japanischen Samurai, hellblaue Stoffsneaker und eine quietschgelbe Sonnenbrille.
„Warum geht ihr arbeiten, ihr Narren?“ schrie er von seinem seltsamen Podest. „Die scheiß Arschgeigen nutzen euch doch nur aus! Alles was ihr tut ist schuften, dann lassen euch die Bosse fallen, wenn ihr alt und grau seid und sie bescheißen euch noch um die paar Kröten eurer Rente! Amerika macht euch alle nass!“
Er schien schwer betrunken, er sprang von dem Abfalleimer und torkelte umher. „Wir sind alle Sklaven der Amerikaner! Nur Geld verdienen! Wofür?“
Ja, wofür eigentlich? Für die neusten Möbel von IKEA? Für ein schickes Appartement in Hamburgcity? Ich habe nicht einmal ein Auto und auf meinen tollen, sauberen Regalen aus Schweden, steht nicht mal ein silberner Bilderrahmen mit dem
Foto einer mittelmäßigen Freundin. Okay, es können nicht alle aussehen wie JLo**, aber du bist der einzigste, der dich seit fünf Jahren anfasst. Jeden Morgen nach dem Aufstehen Sportkanal und die letzten Sexyclips und die letzten Telefonsexspots und das was einen Mann verrückt macht, liegt dann glitschig und matt glänzend neben dir auf dem Sofa.
Wofür verdammt noch mal?
Morgen gehe ich nicht arbeiten! Ich werde leben, atmen ich werde ausgehen und ein Mädchen vögeln und dann und dann… Ich bleibe einfach zuhause! Ausklinken, nicht mehr dem System zur Verfügung stehen!
An diesem Abend blieb Feddersen bis weit nach eins auf, onanierte auf wahre Liebe , legte sich ins Bett, schlief selig ein und erwachte am nächsten Morgen um halb sieben.
Routine! Schoss es ihm durch den Kopf. Ich werde nicht aus dem Bett steigen, ich gehöre nicht mehr dazu, ich will Leben! Um sieben brach ihm der Schweiß aus. Nein, ich werde nicht gehen. Um halb acht raffte er sich auf, duschte, zog sich an und fuhr mit dem Bus durch die verregnete Stadt zur Arbeit.
Um 9: 15 stand er vor der Bude des Pförtners. „Oh Herr Feddersen, verschlafen!“
Ein zerknirschtes Nicken.
„Na, ja! Das kann ja jedem mal passieren!***“
Heute würde Feddersen wohl nicht gewinnen.




* Die Toten Hosen aus dem Album „Auswärtsspiel“
** Jennifer Lopez
*** Alter Rühmannfilm