DEINE BEERDIGUNG
Du wolltest verbrannt werden, und Deine Verwandten sind dem Wunsch gerne nachgegangen. Wenn man in Betracht zieht, dass Nägel und Haare auch nach dem Tod weiterwachsen irgendwie nachvollziehbar, braucht kein Mensch, schon gar nicht bei nem Junkie.
Mein Vater fährt mich zur Beerdigung. Ich ganze 17 im Sgt. Pepper Mantel „Du traust Dich was“ sagt er. Noch nie habe ich Bewunderung in seiner Stimme gehört, zumindest nicht was mich betrifft, und ich weiß nicht genau womit ich diese verdient habe. Und das ausgerechnet zur Beerdigung meines Liebsten. Deiner Beerdigung.
Ich komme zu spät und kann die große Flasche Jägermeister die für Dich gedacht ist, nicht mehr zu den Gaben an Deinem Sarg stellen. Den mochtest Du so gern, weil Du Dir einbilden konntest er sei Medizin. Wir hatten immer Dutzende der kleinen Flaschen dabei, die wir achtlos durch die Gegend warfen, und so eine Jägermeisterspur durch München Giesing zogen. Dorle, die Lotterielose auf dem Stachus verkauft, Deine beste Freundin, hat ein Spritzenmobile gebastelt, das finde ich mutig, und mein Geschenk kommt mir banal und treulos vor. Ich bin überrascht über die vielen Gesichter, die mir alle völlig fremd sind. Wieviel Leben Du schon hattest mit Deinen 21. Aber Dein treuer Kumpel Ronnie aus Grundschultagen, der Dich so bewunderte, dass er aus Solidarität oder aus was weiß ich was, die Weisse Scheisse mit Dir ballerte, der, der Dich aus der Klapse befreit hatte, ist genauso wenig da, wie Ralf die miese Ratte, den ich dann doch irgendwann hatte heulen sehen. Vielleicht weil sie wissen, dass sie die nächsten sind. Die Seuche hattet ihr ja alle.
Roger – diese Scheiß Blumen – immerzu sehe ich Dich wie Du Dich darüber lustig machst. Dieses verfickte Scheiß Blumenmeer. Oh mann BLUMEN! Wie ich diese Blumen hasse. Ausgerechnet für Dich. Die ganze Zeit habe ich das Gefühl, dass Du auf mich herabschaust und willst das ich cool bleibe und nicht greine wie die ganzen treudoofen oder heuchlerischen Wichser in der Kirche. Ich finde es so verlogen, diese ganzen Arschlöcher die auf Kommando nass im Gesicht werden.
Dorle war die Erste an die ich dachte als ich aufwachte und Du Dich neben mir nicht mehr bewegtest. Junkies haben einen tiefen Schlaf. Als ich Dich küsste waren Deine Lippen kalt. Aber hey ein Junkiekreislauf ist selten auf Körpertemperatur. Du warst aus Haar(*) abgehauen, und ich wollte Dich den teuflischen Ärzten nicht ausliefern. Vier Jahre lang hatten sie Dich dort gequält. Deswegen zögerte ich die Sanis zu holen und telefonierte in meiner Verzweiflung nach Dorle um Rat. Ich wollte Dich den Sanis nicht schutzlos ausliefern und zog Dir Deine armaniverseuchten Klamotten an. Der Krankenwagen kam zu spät. Meine Mutter kam von der Arbeit nach Hause, als sie Dich mit einem Laken über Kopf und Körper aus dem Haus trugen. Sie dachte ich wäre darunter.
Nur Dir zu Liebe heule ich nicht. Nicht eine Träne. Ich heule nicht, weil ich nicht zu diesen Wichsern gehören will die sich mit ihren Tränen in Szene setzen wollen. Für mein kurzes Leben habe ich schon zu viele Witwen in meinem Bekanntenkreis gesehen. Ich war so sauer auf Dich, dass Du Dich einfach verpisst hast. Als hättest Du es so geplant. Erst viel später erfuhr ich, dass Du etwas verändern wolltest, Dir einen Job gesucht hattest, als Spüler, das Du noch mal was versuchen wolltest, aber Du warst viel zu Stolz mir das zu sagen. Da fühlte ich mich wie ein Killer.
Ich sitze dort, in dieser antiseptischen Kirche ganz allein in einer Reihe, nur Du da oben und ich. Ohne Sentimentalitäten. Ich weiß Du willst das nicht. Dann fängt dieser Scheiß Pfaffe an seinen Standart Text zu labern. Wahnsinn was für eine Witzfigur, was für ein Heuchler. Der redet über Dich! Wo gibt’s den einen Standart Text über Dich? In diesem Moment ist er die Verkörperung des Bösen. Würde er Dich verachten wäre es erträglich. Aber ich sehe den kaum verhohlenen Ausdruck von Gleichgültigkeit in den Augen seines ausdruckslosen Gesichts während er seine Grabrede runterleiert. Nächstenliebe für einen Giftler. In der ersten Reihe Deine Verwandten. Ich erkenne Deinen morphiumsüchtigen Vater, weil er aussieht wie eine Stahlhelmversion von Dir. Vor Jahren jagte er ein paar Kugeln aus seiner Wehrmachtspistole durch die geschlossene Schlafzimmertür. Hinter ihr verschanzte sich Deine Mutter. Wie auf ein geheimes Zeichen hin ziehen sie plötzlich alle gleichzeitig die zu diesem Zweck vorsorglich eingesteckten Taschentücher und tupfen sich ihre staubtrockenen Augen. Sie haben Dich und Dein verpfuschtes Leben schon lange abgeschrieben, und Dein Abgang überrascht sie keineswegs.
Die Musik leiert aus einem Tonband, ich hätte mir „I’m waitin for my man“ von Oberjunkie Reed für Dich gewünscht, aber geht natürlich nicht, ist nicht genormt. Dann öffnet sich ein Tor, der Sarg verschwindet und Du verbrennst.
Auf dem Weg nach draussen, ich immer noch der verkrampfte Super Cooper begegne ich Dorle die mich mit geschwollenen Augen und tränenverschmiertem Gesicht in die Arme nimmt. Sie liebte Dich und ich glaube, erst da wird mir richtig bewusst, dass Du für immer weg bist. Da kann ich meinen Schmerz nicht mehr zurückhalten. Die Tränen bahnen sich den Weg, unaufhaltsam. In Sturzbächen laufen sie über mein Gesicht. Ich rotze und heule und bin sauer auf mich, dass ich mich so gehen lasse. Deine Mutter, die mich verantwortlich machte für Deine Probleme, wie Mütter halt so sind, überall auf der Welt, und mich für den Teufel hielt, steht auch dort und plötzlich sind wir Schwestern im Schmerz und sie, die mich stets verjagt hat, lädt mich zu sich ein. Wie alle Mütter von toten Söhnen, die nicht wissen was ihre Kids bewegt hat, braucht sie die lebendige Gegenwart von jemandem der ihn kannte. Ich weiß jetzt schon, dass ich sie nie besuchen werde. Dann fange ich an zu laufen, flüchte, renne bis mir die Lunge zerreißt, immer noch die Plastiktüte mit der Flasche Jägermeister in der Hand.
Seit dem sind über 20 Jahre vergangen. Es gibt keinen Grabstein der an Dich erinnert, bis heute habe ich Dich nicht besucht. Ich weiß nicht einmal mehr auf welchem Friedhof Deine Asche aufbewahrt wird. Es dauerte ein Jahr bis ich in der Vergangenheitsform von Dir reden konnte. Ein Jahr bis ich die Hoffnung auf Deine Stimme am Telefon aufgab. Bela, die wir aus der Geschlossenen retten wollten, behauptete später, sie hätte schon immer gewusst, daß Du in meinem Bett sterben würdest. Nie wieder habe ich in dem Zimmer meiner Eltern übernachtet in dem Du gestorben bist. Noch heute bilde ich mir manchmal ein Dich zu sehen, aber die Momente werden immer seltener. Ralf traf ich ein halbes Jahr später zufällig am Chinaturm. Er schnitt gerade ein Loch in die geliehene Jeans die er trug, weil er das schick fand. Der treue Ronnie schrieb mir einen ungläubigen Brief nach Berlin. Dass ich keine Schore mehr ballerte konnte er nicht glauben, packte mir aber trotzdem einen riesigen Abzug von dem einzigen Foto das ich von Dir habe in den Umschlag. Der kleine höfliche Robert, von dem Du dachtest er wäre in mich verliebt, berichtete mir am Telefon von seiner trostlosen Therapie in einem Kaff in Süddeutschland und brachte mich zum weinen. Ich denke oft an Dich und höre Deinen ironischen Kommentar zu meinem Leben. Es gibt keinen Frühlingsanfang an dem ich nicht an den Tag denke, als Du neben mir nicht mehr aufwachtest. Meistens mit der Gewissheit der Schuld. Aber manchmal, an einem guten 21. entlockt mir die Erinnerung an Dich und unsere verliebten und gefährlichen Tage ein Grinsen und ich trinke einen Jägermeister. Auf den genialen begabten Giftler der sich jeden Morgen aus meinem Kinderzimmerfenster stahl.
*Nervenheilanstalt in der Nähe von München