Jonathan sagt, es wird alles gut, aber ich glaube ihm nicht. Die Lüge sitzt wie eine fette giftige Spinne in seinem Gesicht und spinnt ein Netz um uns herum, ein Netz aus Unwahrheiten.
Wir haben meine Schwester getötet. Wie soll da überhaupt irgendetwas je wieder gut werden?
Der Bach war kühl und klar. Er sang ein schnelles, trällerndes Lied, trommelte den Rhytmus dazu auf den Steinen, die in sein Bett gefallen waren. Rabea spielte mit kleinen Holzstücken, die das Wasser ihr in die dreckigen kleinen Kinderhände geschwemmt hatte. Sie lachte, wenn die zutraulichen Wellen an ihren nackten Zehen leckten; es klang wie das Gebimmel des Glockenspiels, das vor meinem Fenster hängt. Wie waren glücklich, wir alle drei. Rabea und Jonathan und ich.
Jonathan und ich saßen auf der bunt karierten Picknick-Decke und sahen meiner kleinen Schwester beim Plantschen zu. Ihr Kleidchen war ganz durchnässt und in ihrem strubbligem Haar hingen Algen und borstige Zweige.
Jonathans Hand legte sich um die meine und ich schaute zu, wie unsere Finger ein Muster aus braun und beige woben. Er lächelte mich an, so wie nur er lächeln kann und die kleinen Grübchen erschienen in seinen Mundwinkeln. Er wisperte: "Ich liebe dich." , und ich glaubte ihm. Er küsste mich und ich küsste zurück. Es fühlte sich gut an, immer noch so gut an. Wie Datteln essen, nur noch viel süßer und aufregender. Wir ließen uns nach hinten sinken. Mein langes Haar floß in das Meer aus grünen Halmen hinter uns und ein Marienkäfer erkundete meine Ohrmuschel. Jonathan hob ihn auf seinen Finger und wir sahen zu, wie er seine gepunkteten Flügel ausstreckte und
davon schwirrte und ich küsste seine Fingerkuppe, seinen Unterarm, seinen Ellbogen... Schulter... "Shiloh....", hob er an und nickte mit dem Kinn zu meiner Schwester hinüber "Nicht. Nicht hier...", doch ich hielt ihm den Mund zu.
Ich wünschte ich hätte es nicht getan.
Die Sonne schien auf uns herab, der süße Duft der Wildblumen um uns herum vernebelte mein Gehirn. Jonathan und ich dachten nicht mehr an Rabea, die uns zusehen könnte. Wir dachten an seine Hände, die unter mein Sommerkleid glitten oder meinen Atem, der über seinen Hals schlich...
Ich hätte es bemerken müssen. Das Schweigen der Singvögel, das unheilvolle Rauschen in den Sträuchern.
Doch ich tat es nicht.
Ich fuhr erst aus Jonathans warmen Armen hoch, als ich das Fauchen hörte und den kleinen spitzen Schrei, hoch und schrill.
Das Bild brannte sich in meine Netzhaut und ich wusste, es würde nie wieder verschwinden. Rabea stand im Wasser, verdreckt und starr vor Schrecken. In der Hand hielt sie noch die Wurzeln, mit denen sie gespielt hatte, ihre Hände umklammerten sie krampfhaft. Und vor ihr, abgemargert und knurrend, kauerte einer der wilden Hunde, die verlernt hatten, den Menschen zu fürchten und sich nah an seine Städte gewagt hatten. Er war nicht groß, doch ich brauchte nur seine zum Zerreißen gespannten Muskeln und seine gelben, gebleckten Reißzähne sehen, um zu wissen, dass Rabea gegen ihn soviel ausrichten konnte wie ein Strohhalm gegen die reißende Strömung eines Flusses. Der Hund schüttelte sein triefnasses Fell und stinkede Tropfen
flogen in alle Richtungen. Meine Schwester wimmerte, als sie welche in die Augen bekam.
Jetzt weiß ich, was ich hätte tun sollen. Ich hätte aufspringen und mit den Armen wedeln sollen, damit der Hund sich umdreht und Rabea vergisst. Und mich angreift. Aber ich tat es nicht.
Die Angst fesselte mich an die Erde. Wie gelähmt verharrte ich, halb aufgerichtet auf der Picknick-Decke und starrte das seltsame Paar im Bachbett an.
Rabea und der Hund starrten sich an. Sie aus großen, versalzenen Augen, er grimmig und ohne zu Blinzeln. Selbst in seinem Blick lag ein stummes Knurren. Für eine Sekunde sah meine Schwester von dem Hund zu mir und Jonathan, dann zurück zu dem Hund. Ich erschrak, denn in ihren Augen hatte soviel mehr gelegen, als in den Augen einer Dreijährigen liegen durfte.
Etwas wie Erkenntnis?
Dann öffnete sie ganz langsam ihre Hände und ließ die Wurzeln fallen. Sie prallten schmerzhaft laut auf der Wasseroberfläche auf und der Hund stürzte vor.
Das Wasser färbte sich rot. Ich schrie. Jonathan schrie. Der Hund knurrte.
Und meine Schwester starb.
Sie starb, weil wir sie nicht gerettet haben.
Sie starb, weil wir sie getötet haben.
Meine Schuld.
Die Leute aus der Stadt kamen, die Schreie trugen wohl sehr weit. Aber es war zu spät.
Ich habe ihren Körper nicht gesehen. Auch nicht den des Hundes, den die Männer erschossen haben, habe nur den Knall gehört, der durch mein Trommelfell zischte, obwohl ich noch immer schrie.
Aber ich habe die Tränen meiner Mutter gesehen, glitzernd in der Sonne, das Händeringen meines Vaters und jetzt sehe ich den Grabstein und die Blumen und die kleinen Steinbrocken, die sie auf auf den großen legen, auf dem der Name meiner Schwester steht.
Jonathan sagt, es wird alles gut, aber ich glaube ihm nicht. Ich kann ihm nie mehr irgendetwas glauben oder ihn küssen, ihn nur an sehen, ohne an meine Schuld zu denken.
Meine Schuld. Meine übergroße Schuld.
Alle reichen uns die Hände und ihre Tränen und ihre Segenswünsche und was sonst noch und gehen schließlich.
Und ich bleibe allein zurück. ganz allein.