Erstes Buch: Holz Erstes Kapitel: Vorfreude des Drachen
Langsam drehte Mom den Lautstärkeregler am Radio auf Anschlag. Fröhlich trommelte sie mit ihrem Zeigefinger im Takt der blechern aus den antiquierten Lautsprechern dröhnenden Musik gegen das Lenkrad und summte dabei mit, wobei sie nicht einen einzigen Ton traf. "Kannst du das blöde Ding nicht bitte leiser stellen?" nörgelte ich vom Beifahrersitz. Sie verdrehte nur ihre Augen, nicht aber den Lautstärkeleger. "Hoppla, da hat wohl jemand gute Laune. Was ist los mit dir, Schatz?" "Da fragst du noch?" Ich drehte die Lautstärke nun selbst auf ungefähr halbe Kraft nach unten. "Die Ferien sind wieder zu Ende." Meine Mutter seufzte. "Ja, das stimmt." Ich rieb meine Hände aneinander. Der plötzliche Temperatursturz war ein eindeutiges Zeichen dafür, dass wir fast da waren. "Kannst du bitte die Heizung anmachen?" "Nein, ich glaube nämlich nicht, dass sie auf meine Sprüche positiv reagieren würde." Ich verleierte die Augen. Wenn ich nach den Ferien zur Schule fuhr, war ich meist nicht zu solchen Scherzen aufgelegt. "Ich will nicht, dass die Heizung „positiv reagiert“, ich will dass sie heiß wird und du weißt, wie ich das meine." Sie schmunzelte nur, dachte aber gar nicht daran, die Heizung anzuschalten.
*
Mom fuhr auf den üblichen Parkplatz, am äußersten Rand der Stadt, von wo aus ich dann zur Schule latschen durfte. "Soll ich vielleicht noch ein Stück mitkommen?" fragte sie besorgt. Ich schüttelte den Kopf, während ich ausstieg. "Und grüß Louis von mir!" sagte sie noch schnell, nachdem ich sie zum Abschied auf die Wange geküsst hatte. Ich war keine fünf Meter gelaufen, da rief sie mir hinterher: "Warte! Du hast was vergessen." Als ich mich umdrehte winkte sie mir mit meiner B-80,einer Pistole, und sah mich vorwurfsvoll an. "Oder wolltest du die hier lassen?" "Ich bin doch nicht lebensmüde." lachte ich, als ich ihr die Waffe abnahm. "Ich liebe dich!" rief sie mir winkend im Davonfahren zu. "Ich dich auch!" antwortete ich. Nachdem ich ihr noch eine knappe Minute nachgesehen hatte, drehte ich mich um und ging, wobei ich meine B-80 immer schön in der rechten Hand behielt, zur Sicherheit. In dieser Stadt war es extrem gefährlich, besonders dann, wenn man allein war. Selbst ich ging hier nie ohne Waffe auf die Straße, obwohl ich mich im Notfall wahrscheinlich auch so gut verteidigen konnte. Wer mich angriff und ein normales, harmloses Mädchen erwartete, der lag weit daneben. Dass würde der oder diejenige, die versuchte mich zu attackieren spätestens dann merken, wenn ich meine Krallen ausfahre oder mit dem Schweif um mich schlagen würde. Aber man muss ja nicht immer gleich großes Aufsehen erregen, wenn man es zuerst auch mit einer Pistole und anderen Wurfgeschossen probieren konnte. Ha!
Als ich ein Paar Minuten lang gelaufen war hörte ich plötzlich Schritte hinter mir. Sofort wirbelte ich herum und zog meine Knarre. Ich konnte niemanden sehen. Wieder Schritte. Der Schweiß rann mir über die Stirn. Ganz langsam ging ich rückwärts. Da - "Aaaaargh!" schrie ich, als mir jemand von hinten eine Hand auf die Schulter legte. Ich drehte mich um. "Jeanny?" keuchte ich. "Ist dir eigentlich noch zu helfen?"
"Wo warst ’n du?" fragte sie und guckte mich an, als ob ich etwas falsch gemacht hätte. Jeanny, meine beste Freundin. Sie war circa einen Kopf kleiner als ich, blond, schlank und wahnsinnig unselbstständig. Ohne Begleitschutz wie, zum Beispiel, in Form von moi, wagte sie sich meistens kaum vor die Tür, obwohl sie reintheoretisch zu denselben Maßnahmen fähig war wie ich. "Ich war zu Hause, wenn du nichts dagegen hat." "Ich hab mir Sorgen gemacht." "Mit anderen Worten: du hattest Angst." Sie sah mich böse an. Ihr böser Blick verflog sofort als wir erneut Schritte hörten. Ich entsicherte. "Was war das?" Wie immer, wenn Jeanny mir diese Frage stellte, antwortete ich ihr nicht sondern spitzte die Ohren und hoffte mehr oder weniger darauf, metallisches Klirren zu hören. Ich hörte es. Sofort grinste ich breit und flötete regelrecht :"Die Saison ist eröffnet." Ich packte Jeanny am Oberarm und zog sie um die Ecke. "Sind das schon welche?" "Na klar." Ich hatte keinen Zweifel und lugte um die Ecke. Bingo. Zwei potthässliche Roboter mit grünen Tentakelarmen und bis an die Zähne bewaffnet. Shot-Bots. "Jacky, wir sollten echt lieber abhauen." Sie versuchte mit aller Kraft, mich an einem Ärmel zurück zu ziehen, wobei die Betonung wirklich auf „versuchte“ liegt. "Psst! Sei doch mal still jetzt... meinst du ich schaffe es, dem kleineren direkt den Tank wegzuballern?" Ohne die Antwort abzuwarten zielte ich nun genau auf den Öl-Tank des einen, der sich an der Stelle befand, wo bei den meisten Menschen die linke Wade war. "Schluss jetzt! Hör auf damit, bitte." Für Jeanny war es in etwa so möglich mich von meinem Vorhaben abzubringen wie es für mich möglich war, das Wetter zu ändern: Es war theoretisch in gewisser Weise machbar, aber die Theorie ist nun mal etwas anderes als die angewandte Praxis. Bumm!
Der Roboter vor uns war mit lautem Donnern explodiert und riss seinen Kameraden direkt mit ins Verdereben. Jeanny starrte entsetzt auf die kläglichen Metallüberreste während ich schon auf sie zu ging. "Bist du eigentlich völlig wahnsinnig? Was ist, wenn uns jemand gehört hat?" "Ich hoffs." "Bitte?" sie schien mal wieder absolut schockiert obwohl sie in den letzten zehn Jahren eigentlich hätte mitbekommen müssen dass ich auf alles schoss, was entweder ein Alien war oder ein Roboter oder beides. Ich hatte genug Begegnungen mit diesen Wesen gehabt um sagen zu können, dass das an und für sich kein größeres Verbrechen war als einen Hochleistungscomputer und ein Schnitzel zu erschießen. "Ich hoffe dass uns jemand gehört hat." sagte ich grinsend und schoss danach in die Luft, um meinen Worten noch ein Fünkchen mehr Ausdruck zu verleihen. Meine liebe Freundin war weniger begeistert. "Wir sollten so schnell wie möglich von hier verschwinden und zur Schule gehen, und da können wir dann -" "Zur Schule?" Ich sah sie an als hätte sie grade vorgeschlagen auszuprobieren, wie Mayonnaise und Erdbeereis zusammen schmecken. "Himmelherrgott, Jeanny? Hast du vielleicht irgendwas vergessen?" Verdutzte Blicke ihrerseits. Das durfte doch wohl nicht wahr sein. Ich hielt mir beide Hände auf den rücken und wedelte damit hin und her und sagte: "Brüll." in der Hoffnung, dass es bei ihr Klick machen würde. Tat es aber leider nicht. "So." Mental bereitete ich mich darauf vor, ihr noch mal ihre halbe Lebensgeschichte vorzutragen. "Vor vielen vielen Jahren, als du aus dem Bauch deiner Mutter raus gekommen bist, was ist da passiert?" Jeanny legte den Kopf schräg um zu überlegen, und während sie sich mit einer Hand ans Kinn griff, griff ich mir an den Kopf. "Wahrscheinlich bist du direkt auf den Kopf gefallen." stöhnte ich genervt. "Vielleicht klingelt 's ja, wenn ich das, wovon ich spreche in einem Oberbegriff zusammenfasse." Ich atmete tief ein und brüllte es ihr ins Gesicht: "DRACHEN!"