Kapitel 5
Gogon, der Herr der Affen, erblickte den Baum als erstes. Er war vorausgegangen, die anderen Tiere des Tals waren ihm gefolgt. Sie zu überreden war selbst ihm nicht leicht gefallen, die Tiere waren in Panik, hatten Todesangst. Aber gottlob hatten sie auch noch Vertrauen in ihren König, in Ben. Die Tatsache dass er, wieder mal, einen Plan zu haben schien erweckte in jedem einzelnen Wesen noch einmal die letzten Lebensgeister. Doch was der mächtige Schimpanse nun sah, erschütterte ihn zutiefst. Da stand er, der König des Tals, der dem sie alle so viel zu verdanken hatten, der immer für sie dagewesen war, da stand er, die Äste hingen schlaff an seinem Stamm herunter, sein Laub war komplett braun geworden. Selbst seine mächtige Krone, mit der er stets zu ihnen gesprochen hatte wirkte vom Waldboden aus, als wäre sie verwelkt. Die anderen Bewohner des Tals hatten mittlerweile zu ihm aufgeschlossen, waren ebenso schockiert und sprachlos ob des Anblickes. Mihula, die kleine Vogeldame, hatte sich auf die Schulter Gogons gesetzt. Sie weinte. Ganz still, damit die anderen Tiere nichts merken. Wenn jetzt alle aufgeben würden, wäre dies das Ende, für jeden einzelnen von ihnen.
„Ben? Hörst du uns?“ ertönte die laute Stimme des Affen. Doch keine Antwort.
„Ben! Sag doch was! Wir brauchen dich! Wir brauchen deine Hilfe!“ Wieder keine Antwort. Der Affe drehte seinen Kopf Richtung Mihula.
„Es hat keinen Sinn, er spricht nicht mehr. Und ohne ihn wird dieses Tal nicht weiter existieren können. Wir kehren um.“
„Nein, bitte Gogon!“
„Was sollen wir noch hier, wir werden aufbrechen, solange wir noch können. Wir gehen in die Berge.“ Dann drehte er sich um und sprach zu allen Bewohnern des Waldes. Dabei musste auch er ein unbändiges Gefühl der Traurigkeit unterdrücken.
„Ben ist tot. Er hat aufgehört zu existieren. Wenn IHR weiter leben wollt, dann kommt mit mir!“
Die Tiere murmelten unsicher. Alle waren verzweifelt, viele weinten bitterlich. Doch sie wussten: Gogon hatte Recht. Es gab keine Zeit zu verlieren. Sie formierten sich, gingen in Reihe, bildeten eine Kolonne, so dass sie bei einem langen Marsch keine Angriffsfläche bieten würden. Gogon warf noch einmal einen letzten Blick auf den Baum. Nun rollte auch ihm einen dicke Träne die Wangen herunter. „Danke Ben, “ flüsterte er leise, „danke für alles.“ Dann marschierten sie langsam los. Mihula ging nicht mit, sie setzte sich auf den höchsten Ast ihres besten Freundes. Sie wollte ihn nicht allein lassen. Alle Hoffnung war vergebens. Nun war alles vorbei….
Ein leises Seufzen riss sie aus ihrer Verzweiflung. Das kam von oben. Blitzschnell breitete sie ihre Flügel aus und flog, so hoch sie konnte, Richtung Krone des Baumes. „Mi-hu-la“ Das war Ben! Er lebte noch, es war noch nichts verloren. „Ben, ist mit dir alles in Ordnung? Die anderen Tiere, ich konnte sie nicht aufhalten, ich…“ „Ich weiß, Mihula.“ Bens Stimme war leise, völlig entkräftet. Er krächzte, konnte kaum noch einen Laut rausbringen. „Ich habe alles gehört. Hol sie zurück. Ich habe einen Plan! Aber beeile dich, ich habe nicht mehr viel Zeit.“ Der Paradiesvogel verlor keinen Augenblick. Mit einem Riesensatz stieß sie sich von dem Geäst und hatte bald ihre volle Fluggeschwindigkeit erreicht.
Minuten später kehrte sie mit allen Bewohnern des Tals, die zuvor aufgebrochen waren, zurück. Aufgeregtes Tuscheln, Stimmgewirr überall. Es herrschte Hoffnung. Ben war indes wirklich am Ende seiner Kräfte. Es ging um jede Sekunde. Mit letzter Kraft hob er seinen rechten großen Ast. Innerhalb weniger Momente herrschte komplette Stille. Alle schauten gebannt auf ihren Herrscher.
„Es gibt eine Möglichkeit, meine Freunde.“ Ben versuchte, so laut zu sein, wie es nur ging, er musste Pausen einlegen, seine Stimme wurde immer schwächer. Mihula bemerkte das sofort und handelte. Blitzschnell flog sie zur Spitze des Baumes, so dicht an die Baumkrone, wie es ihr möglich war. Dann drehte sie ihr Ohr in Richtung Ben. Der verstand sofort und begann zu flüstern. Die Tiere wurden langsam unruhig, doch dann sahen sie, wie sich Mihula sich zu ihnen aufmachte. „Ben hat einen Plan, Freunde. Geht los, Richtung Gebirge. Dort gibt’s es Wasser. Sucht die Wölfe. Auf dem Weg dorthin bilden wir eine lange Kette. Jeder Baum, jeder Strauch, dem ihr unterwegs begegnet, soll so viele Äste geben, wie er kann. Die Löwen höhlen die Äste mit ihren scharfen Krallen aus. Die Affen mit ihren geschickten Händen stecken sie zusammen!“
Gogon verstand nicht. „Warum das alles, wie sollen uns ausgehöhlte Hölzer das Leben retten?“
Mihula grinste. Sie wusste, das es klappen würde.
„Wir bauen eine Wasserleitung!“
----- ----- ----- ----- ----- ----- ----- ----- ----- ----- ----- ----- ----- ----- ----- ----- ----- -----
Cula war nicht imstande, einen Gedanken zu fassen. Der Panther hatte Chorm förmlich überrannt, der Wolf lag dicht an der Felswand. Er sah, wie er kurz den Kopf hob. Instinktiv, ohne darüber nachzudenken, ließ der Vogel sich fallen, war nun nur ein paar Meter über dem Geschehen. „Chorm, lauf! Lauf so schnell du kannst, ich hole Hilfe!“ Mit diesen Worten stürzte Cula sich blitzschnell auf dem Panther, landete, ohne dass dieser reagieren konnte auf seinem Kopf, und pickte ihn mit dem Schnabel in die Augen. Noch bevor Neo vor Schmerz um sich schlagen konnte, war er auch schon wieder in der Luft. Chorm sah die sich ihm bietende Chance, erhob sich und stürmte mit aller Kraft, die er noch besaß, mit dem Kopf voran in die Seite der Bestie. Die machte einen hohen Satz und prallte mit dem Rücken gegen eine Felswand. Das war die Gelegenheit. Chorm lief los, er vergaß alles um sich, die Angst, den Durst, die Wut auf seinen Bruder. Er lief, so schnell er konnte. Zurück zum Rudel war unmöglich, Palos würde Verdacht schöpfen, außerdem würde er so die anderen Wölfe in Gefahr bringen. Er musste den Panther selber in einen Hinterhalt locken. Und er musste hoffen, dass Cula schnell mit Hilfe zurück kommen würde.
Cula flog, wie er noch niemals geflogen war. Dicht über dem Boden, er musste die anderen Tiere suchen, die, die er vorhin überredet hatte, zu Ben zu gehen. Doch es war dunkel, er bedauerte, keine Wolfsaugen zu haben. Er befand sich bereits fast am Fuße des Berges, zum Tal konnte es nicht mehr weit sein. Doch soweit er auch schaute, kein Tier weit und breit war zu sehen.
Unter ihm blitzte plötzlich etwas. Irritiert verlangsamte er seinen Flug und ging noch tiefer. Dort unten zwischen den Felsen schimmerte etwas. Es war…… der Mond! Cula flog vorsichtig dichter…. und traute seinen Augen nicht. Er starrte auf den Mond zwischen den Felsen, dann drehte er seinen Kopf Richtung Himmel. Der Mond war mittlerweile aufgegangen. Das bedeutet, dass da unten ist ein Spiegelbild. Und ein Spiegelbild zwischen den Felsen bedeutet…. Er traute sich kaum den Gedanken zu Ende zu führen, denn auch er hatte die Hoffnung beinahe schon aufgegeben…… bedeutet… WASSER! Er hatte die Quelle gefunden, gar nicht weit vom Tal entfernt. Mit einem Sturzflug flog er auf den Felsen zu, dann sah er die riesige Wasserfontäne, die aus der Felsspalte schoss. Vor ihr hatte sich ein üppiger Bach gebildet. Das war die Rettung aller. Allen, außer Chorm. Cula`s Freude wich unbändiger Entschlossenheit. Jetzt lag es an ihm. Er musste die anderen Tiere finden, einmal um sie zum Wasser zu führen und um den Herren der Wölfe zu retten. Er setzte sich auf den höchsten Baum, den er sehen konnte, holte tief Luft und begann zu Krächzen. So laut, dass es jeder im Umkreis von mehreren Metern hören konnte. Ein Knacken im Geäst. Da war etwas. „Cula, bist du das?“ Eine riesige Gestalt trat aus den Büschen. Es war der Anführer der Löwen. Und hinter ihm seine ganze Familie und alle anderen Tiere. „Kommt hierher!“ krächzte Cula. „Hier ist Wasser! Jede Menge Wasser! „ Die anderen Tiere trauten ihren Ohren nicht, dann sahen sie den Paradiesvogel, dann den Bach. Unbändiger Jubel folgte. Alle Lebewesen ließen sich sofort in das lebenserhaltende Nass fallen, kühlten sich ab, schwammen, tranken. Sie waren gerettet.
Cula hatte mittlerweile mit dem Löwen geredet. Entschlossen und voller Wut drehte dieser sich zu den anderen um.
„Ich werde mit dem Vogel gehen, die Wölfe schweben in großer Gefahr. Diesmal werden wir diesen Panther endgültig aus dem Tal werfen! Ihr alle bleibt hier. Ich möchte, dass diejenigen, die klettern können, sich auf die Bäume begeben, alle anderen verteilen sich soweit sie können. Dann beginnt ihr zu schreien, zu krächzen, was immer ihr an Geräuschen machen könnt. Alle Vögel fliegen sofort ins Tal und versuchen die anderen zu finden und sie hierher zu lotsen. Mit den Geräuschen können sie euch gar nicht verfehlen. Auf geht’s!“