Biografien & Erinnerungen
Mikrokosmos des "Nachtjackenviertels"

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"Mikrokosmos des "Nachtjackenviertels""
Veröffentlicht am 01. März 2011, 6 Seiten
Kategorie Biografien & Erinnerungen
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einer der auf dem Weg ist ...
Mikrokosmos des "Nachtjackenviertels"

Mikrokosmos des "Nachtjackenviertels"

Mikrokosmos des „Nachtjackenviertels“

oder

die Lebensretter um die Ecke

 

Irgendwann hatte man sie entdeckt!

Diese „Wundertäter“ und Alleskönner.

Wo man alte Schuhe hinbringen konnte und sie generalüberholt nach einer Woche zurückbekam. Damals für „Peanuts“. Dieser Laden an der unteren Ecke des Hinterrasens, mit den steilen Stufen und der auffälligen Bimmel an der Tür, war der Schuster Reise. Dort roch es immer angenehm nach Klebstoff und überall warteten Schuhe in hohen Regalen auf ihre Abholung. Immer kam einer der „Reise- Brüder“ aus der Werkstatt in den Laden und fragte nach dem Begehr. Dann malte er mit einem Stück Kreide den Namen auf die Sohle und man bekam eine Abholmarke.

Ohne Kostenvoranschlag und ohne mehrfache Nachfrage war nach dem exakten Zeitraum das Schuhpaar fit. Einfach toll.

Links um die Ecke lag im Hof die feinmechanische Werkstatt von Mertens. Frau Merten war überaus vornehm, stets gut frisiert und immer geschminkt.

Bei Mertens konnte man Filme entwickeln lassen und Kameras zur Reparatur bringen. Ihr Sohn Manfred war unser Spielkumpel.

An die Werksatt schloss sich der berühmte Friseur Krieg an. Unser Vater rief uns stets nach: „Vergesst das Fremdwort nicht!“ – Fasson, wie peinlich. Wir wollten Rundschnitt, wie die Großen. Beim Friseur gab es jede Menge Zeitungen, die Luft roch nach Parfüm und Haarlack, es war immer feucht von den Handtüchern, die auf dem Heizkessel trockneten. Damen und Herren wurden noch getrennt abgefertigt. Die Männer flüsterten mit dem Chef an der Kasse und bekamen dann kleine Schachteln in die Hand gedrückt. Später erkannten wir, es waren Pariser oder auch Kondome – der Friseur war eine Vertrauensperson.

Der alte Krieg stellte stets den Kinderdrehstuhl in die Salonmitte, wir bekamen rote Ohren und fühlten uns blamiert und vorgeführt. Wir waren doch schon größer. Meister Krieg hatte schlohweißes Haar, man munkelte, dass er im Knast gewesen sei, wegen eines politischen Witzes. Seine rechte Hand, die die Schere führte, zitterte sehr stark und wir vergingen vor Angst um unsere ach so jungen Ohren.

Die beginnende „Güldene Pforte“ war besonders nachts echt gruselig. Dort wohnten nur „schräge Vögel“, der Jürgen W. der nuschelte und der N. der uns die Trockentoilette im Hof zeigte, wo er sich mit einem Stück Putz den Po abwischte.

Schnell durch.

Steil fällt danach die Burgasse ab, die auf den Standort der alten Wasserburg hinweist, wo zu unserer Zeit die „Mädchenschule“ stand.

Die Burggasse passierte man, wenn man zufällig eine Kellerfensterscheibe demoliert hatte und zum Glaser musste. Oft kam das nicht vor, aber es war ungeheuer peinlich.

Auf der rechten Seite der Burggasse hatte der Klempner Völlkopf sein Geschäft.

Wir wurden geschickt, wenn das Schmutzwasser nicht ablaufen wollte, um den Meister zu holen. Völlkopf war ein harter Fall. Zuerst musste man an seiner Frau vorbei, die war schon mürrisch. Dann betrat man im Hinterhof die Werkstatt. Irgendwo im Dunkel werkelte der Alte, er hatte immer einen Zigarrenstummel zwischen den Lippen. Wortlos hörte er sich unsere Sorgen an, schimpfend packte er sein Werkzeug zusammen und brammelnd trottete er hinter uns her. In der Wohnung erstarrte jedes Leben, die Mutter brachte Kaffe, der Vater (wenn er da war) stand Spalier mit einer guten „Handelsmarke“.

Völlkopf schimpfte auf alles, was sich bewegte und besonders auf den Staat – aber Völlkopf arbeitete. Langsam und zielsicher stemmte er ein Loch ins Fallrohr, führte die Spirale ein und sprengte den Pfropfen aus Schmutz und Fett.

Dann nahm er huldvoll sein Salär und kleine Geschenke und verlies dampfend unsere Wohnstätte.

Neben dem Klempner war der Maler Anschütz, ein privater Maler, der immer mit der Leiter unterwegs war. Werner war der Schwager vom Bäcker Berlet und ging mit einem Lächeln durch die Stadt.

Unten links wohnte der letzte Dienstmann Hartung, dessen Sohn mit uns zur Schule ging. Der hatte noch eine richtige Dienstmannmütze und eine „Dreikantfeile“ mit der er die Koffer der Gäste zu den Quartieren fuhr. Das waren die letzten Dienstleister, bevor man aufhörte zu dienen.

Heute wäre das eine Tourismusattraktion, aber der Bahnhof ist nicht mehr.

Ganz am Ende der Burggasse stieß man ultimativ auf die „Glocke“ und dort mussten wir Flaschenbier holen, wenn der „Kühns Speller“ nicht aufhatte.

 

2011-02-27

 

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Boris
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Boris Re: Spitzenmäßige Milieubeschreibung, - da hast du völlig recht

LG und Dank

JFW
Zitat: (Original von baesta am 01.03.2011 - 16:26 Uhr) wie ich sie in ähnlicher Weise auch noch kenne. Heute heißen die Dienstleister "Abzocker", weil unsere Regierung den Kleinunternehmen keine Chance mehr gibt.
Liebe Grüße
Bärbel

Vor langer Zeit - Antworten
Boris Re: - ich sehe mich ein wenig als Bewahrer dieser Tage

LG und Dank

Jürgen
Zitat: (Original von mukk am 01.03.2011 - 16:25 Uhr) Ach,lieber Jürgen, wie vertraut tröpfeln diese kleinen Geschichten in meine Erinnerung... ... und an der Kreuzung lag das kleine Geschäft der Frau Pospischil, sie schrieb unsere Ausgaben in ein Büchl, und am Ersten zahlte meine Mutter. Herr Fingerhut war wie ein kleiner Gott für uns, in seinem winzigen Geschäft lag alles, wovon Kinder träumen und er reparierte alle Puppen, jedes Spielzeug... wohin ist diese Zeit entschwunden?
Herzliche Grüße
Ingrid

Vor langer Zeit - Antworten
Boris Re: Re: Re: Die Milieubeschreibung - das gibt mir neuen Mut

Zitat: (Original von wega am 01.03.2011 - 16:11 Uhr)
Zitat: (Original von Boris am 01.03.2011 - 15:46 Uhr) es kommt mir so vor, als ob meine Kurzgeschichten
besser "gehen", als die Gedichte?!

Danke dir vielmals

LG Jürgen
Zitat: (Original von wega am 01.03.2011 - 13:18 Uhr) deines Kindheitsviertels gefällt mir sehr.
Richtig gute Sprache, knapp und auf den Punkt.
Auch der Titel ist super gewählt.

LG wega


Ich weiß nicht, lese nicht allzu viele KG's. Deine Gedichte gefallen mir fast alle, auch wenn ich sie nicht immer kommentiere.

LG wega

Vor langer Zeit - Antworten
baesta Spitzenmäßige Milieubeschreibung, - wie ich sie in ähnlicher Weise auch noch kenne. Heute heißen die Dienstleister "Abzocker", weil unsere Regierung den Kleinunternehmen keine Chance mehr gibt.
Liebe Grüße
Bärbel
Vor langer Zeit - Antworten
mukk Ach,lieber Jürgen, wie vertraut tröpfeln diese kleinen Geschichten in meine Erinnerung... ... und an der Kreuzung lag das kleine Geschäft der Frau Pospischil, sie schrieb unsere Ausgaben in ein Büchl, und am Ersten zahlte meine Mutter. Herr Fingerhut war wie ein kleiner Gott für uns, in seinem winzigen Geschäft lag alles, wovon Kinder träumen und er reparierte alle Puppen, jedes Spielzeug... wohin ist diese Zeit entschwunden?
Herzliche Grüße
Ingrid
Vor langer Zeit - Antworten
FLEURdelaCOEUR Re: Re: Die Milieubeschreibung -
Zitat: (Original von Boris am 01.03.2011 - 15:46 Uhr) es kommt mir so vor, als ob meine Kurzgeschichten
besser "gehen", als die Gedichte?!

Danke dir vielmals

LG Jürgen
Zitat: (Original von wega am 01.03.2011 - 13:18 Uhr) deines Kindheitsviertels gefällt mir sehr.
Richtig gute Sprache, knapp und auf den Punkt.
Auch der Titel ist super gewählt.

LG wega


Ich weiß nicht, lese nicht allzu viele KG's. Deine Gedichte gefallen mir fast alle, auch wenn ich sie nicht immer kommentiere.

LG wega
Vor langer Zeit - Antworten
Boris Re: Die Milieubeschreibung - es kommt mir so vor, als ob meine Kurzgeschichten
besser "gehen", als die Gedichte?!

Danke dir vielmals

LG Jürgen
Zitat: (Original von wega am 01.03.2011 - 13:18 Uhr) deines Kindheitsviertels gefällt mir sehr.
Richtig gute Sprache, knapp und auf den Punkt.
Auch der Titel ist super gewählt.

LG wega

Vor langer Zeit - Antworten
FLEURdelaCOEUR Die Milieubeschreibung - deines Kindheitsviertels gefällt mir sehr.
Richtig gute Sprache, knapp und auf den Punkt.
Auch der Titel ist super gewählt.

LG wega
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