Beschreibung
Eine Holzfigur, an der es noch einiges zu feilen gibt...
So wie es mir einfiel...
Inspiriert von offener Kritik...
Der echte Kritiker
Ein junges Mädchen schrieb ein Gedicht. Es schrieb, weil und wie es ihr eingefallen war. Ohne großes Überdenken, ohne große Selbstkritik. Man konnte sagen, dieses Werk war wie eine grob geschnitzte Holzfigur, an welcher es noch einiges zu feilen gab. Und das wusste sie auch selbst. Bei einigen Stellen hatte sie selbst die Mundwinkel kritisch nach oben gezogen, allerdings nichts geändert sondern einfach nur geschrieben, wie es ihr grade durch den Kopf ging. Als sie fertig war war sie weiß Gott nicht ganz zufrieden, jedoch wie immer auch ein klein wenig stolz auf ihre neueste, lyrische Schöpfung. Nun wollte sie natürlich wissen, was genau sie noch verändern sollte und wie. Schließlich sollten ihre Werke nicht nur bei ihr selbst, sondern auch bei eventuellen Adressaten einen gewissen Anklang finden. Also rief sie einige Leute aus Freundeskreis und Familie auf einen etwas größeren Platz in der Stadt ein. Zu Haus im Stillen Kämmerlein würde sie vermutlich nie eine wirklich gute und unparteiische Kritik zu hören bekommen, da war sie sich sicher. Allerdings war die liebe Familie auch nicht ganz frei, so schien es, was die Art ihrer Kritiken betraf. „Wundervoll, ganz ausgezeichnet!“ drängte es sofort aus der geschlossenen Fraktion der liebenden Großeltern, als das junge Mädchen sein Gedicht vorgetragen hatte. „Zwar nicht ganz mein Genre, aber ansonsten war es gut.“ sagte die liebende Tante und reckte lächelnd einen Daumen in die Höhe. „Buh!“ stöhnte der eingeschnappte kleine Cousin, auf dessen Urteil nun wohl wirklich nicht der größte Verlass war. „Also dieser Ausdruck, mit den ganzen Wörtern und das alles... das hätte ich nicht geschafft.“ sagte die liebende Patentante. „Na, ist doch gut.“ sagte der liebende Stiefvater und nickte. „Toll!“ sagte eine Freundin, „Super!“ sagte eine andere. Und so ging es weiter, die Reihen durch. Das Mädchen nahm das Lob mit einem leicht verlegenen Lächeln und Kopfnicken an. Natürlich war sie froh über das Lob ihrer Bekannten, recht zufrieden war sie damit allerdings nicht. Unbemerkt hatte sich jedoch ein fremder Mann unter die lauschenden gemischt. Er hatte der Vorlesung des Mädchens gelauscht und danach mit leichtem Kopfschütteln den nicht abschwellen wollenden Lobgesang der Lieben abgetan. Als sie alle fertig waren trat der Fremde an das Mädchen heran, und sie sah ihn mit großen Augen an. „Ich würde sagen, der Ausdruck war ziemlich schwach. Und die Reime stammen teils auch aus wenige anspruchsvollem Repertoire. Da muss mehr Gehalt rein! Du musst dich besser formulieren. Beispielsweise an der Stelle in Vers drei, da hättest du besser...“ Die Umstehenden sahen erschrocken und empört den Fremden an. Was bildete er sich wohl ein, einfach dieses kleine Mädchen so rüde niederzumetzeln? Das kleine Ding hatte doch kaum eine Ahnung von der Lyrik, was sollte dann dieses Getue? Doch das Mädchen hörte zu. Der Fremde kritisierte ausdrücklich ihr Werk, sachlich, und sie hörte ihm zu. Er warf ihr schwachen Ausdruck und eine kindische Wortwahl vor, sie hörte zu. Er sprach von schlechter Metrik und unsauberen Reimen, sie hörte ihm zu. Und Schluss gab er ihr Ratschläge was sie wie vielleicht besser machen könnte, sie hörte ihm zu. Zum Schluss sagte er, dass dieser Text ihn nicht recht überzeugt hatte und dass sie sicherlich mehr könne, als dieses Werk vermuten ließ, und sie hörte ihm zu. Als er ging hatte sie ein oder zwei Tränen in den Augen und die liebende Bekanntschaft begann, sich über diesen Störenfried zu echauffieren. Doch während noch diese liebenden Leute immer lauter wurden, begann das Mädchen mit den tränenden Augen zu lächeln. Zwar hatte der Fremde wirklich keine schonende Umschreibung seiner Botschaft benutzt und das Mädchen ein wenig verletzt, woher ja auch die Tränen rührten, doch letzten Endes, so dachte sie, war dieser echte Kritiker ihr bald der liebste Gast gewesen...
Dies soll natürlich nicht heißen, dass ein ehrliches Lob verwerflich sei oder zu unterlassen sei, denn das würde auf Dauer das Selbstbewusstsein schwächen. Dies soll heißen, dass ein Künstler offene Kritik braucht, um sich zu entwickeln. Niemand ist ohne Fehler, daher sollte auch niemand nicht kritisiert werden. Allerdings macht auch hier wie immer der Ton die Musik, und eine Kritik die ganz offensichtlich den Künstler oder das Werk schlicht und ergreifend und ohne weitere Begründung nieder macht anstatt sachlich zu bewerten, was natürlich nicht heißt dass eine persönliche Wertung ausgeschlossen werden soll, so sollte man diese getrost überhören. Jedoch, wenn jemand an einem Werk wirklich nichts zu beanstanden findet, so sollte er auch nicht krampfhaft danach suchen.
Das Mädchen ging, tief in Gedanken versunken, nach Haus. Sie legte das Gedicht vor sich auf den Tisch, nahm einen Füller in die Hand und begann. Sie strich weg, sie fügte an, sie tauschte aus und stellte um, und brauchte für die Überarbeitung dieses Gedichtes viel länger als zuvor für das Schreiben. Im Hinterkopf flüsterte ihr ein Fremder oft etwas zu. Oft hielt sie sich daran, bei einigen wenigen Stellen hörte sie auf sich selbst. Als sie nach einer ganzen Weile fertig war lächelte sie. Sie für ihren Teil war sie eindeutig zufrieden mit ihrem Werk. Sie ging wieder auf den großen Platz und zu ihrer Freude traf sie dort den Fremden und einige seiner Freunde. Mit ihrer aller Erlaubnis trug sie das Gedicht vor, und als sie fertig war sah sie den Fremden an. Er lächelte und nickte, und sprach ihr dann sein Lob aus. Ähnlich taten es die meisten anderen der Freunde des Fremden, nur zwei von ihnen schüttelten die Köpfe. Zunächst war das Mädchen nur traurig darüber, doch dann fiel ihr etwas ein: Sie konnte nie allen gefallen, sie wird auch nie allen gefallen, und ehrlich gesagt war das auch gar nicht ihr Ziel. Ihr Ziel war es, Menschen wirklich von ihren Fähigkeiten zu überzeugen und sie wirklich zu erreichen. Und mit ein wenig Arbeit und dem einen oder anderen Umweg, hatte sie das geschafft.