Kapitel 1
Majestätisch steht der Baum
Seit hunderten von Jahren
Bedeckt beinahe den ganzen Raum
Wo einst nur Gräser waren
So wacht er hier
Ăśber das Feld, die BĂĽsche und die Wiesen,
auch ĂĽber das kleinste Tier
und des Tierreichs Riesen
Ben der Baum
Kapitel 1
Als die Sonne den Hügel endlich überquert hatte und ihre Strahlen wie einen Schleier über das riesige Tal gleiten ließ, ganz sachte und vorsichtig, hatte man einen wunderbaren Ausblick. Ben, der Baum, war schon etwas länger wach. Er liebte es, lange bevor alle anderen Lebewesen aufwachten einen wachenden Blick über die üppige Landschaft zu werfen. Das tat er seit über hundert Jahren und mit jedem Jahr, das er älter wurde, konnte er ein Stück weiter schauen. Mittlerweile war er größer geworden als
alle anderen Bäume des Waldstückes, auf dem er gewachsen war. Deshalb, aber auch wegen seinem herzensguten Wesen, hatte man ihn vor etlichen Jahren zum König des Tals ernannt. Ben war zunächst etwas peinlich berührt gewesen, wollte erst ablehnen, schließlich war er nur ein Baum. Er konnte bei Gefahr nicht weglaufen, konnte lediglich zwei große Äste bewegen, einer lag links in der Mitte des mächtigen Stammes, einer parallel auf der Gegenseite. Dies reichte gerade aus, um ihn bei akuter Gefahr selber zu schützen, anderen vermochte er so nur schwer zu helfen. Doch die Bewohner des Tals ließen das nicht gelten. Sie
wussten, wann immer sie Sorgen hatten, wann immer sie Rat benötigten, wenn sie traurig waren oder wütend, immer konnten sie zu ihm kommen und immer tat er was er kann, um zu helfen. Letztendlich blieb ihm keine Wahl, er hätte keinen Grund gehabt, dies abzustreiten. Tief im Inneren war er sogar ein kleines bisschen Stolz.
Die Sonne stand mittlerweile vollständig am Himmel und begann langsam mit
ihrer ganzen Macht zu strahlen. Wenn man Ben, dem Baum, eine Schwäche zum Vorwurf machen konnte, dann die, dass er desöfteren tief in seinen Gedanken versunken war. Insbesondere
morgens, wenn die Sonne aufging. Dann dachte er über die Sorgen und Nöte seiner Freunde nach, versuchte Lösungen zu finden, damit jeder gemeinsam in Frieden leben kann. Doch die Lage war ernst. Ernster als jemals zuvor. Und diesmal war auch er selber in großer Gefahr. Seit mehreren Wochen hatte es nicht geregnet. Es war heiß und trocken. Die unzähligen Tiere des Tals versammelten sich immer dichter um die noch übrigen kleinen Flüsse, ein großer Teil jedoch war schon vertrocknet. Er blickte besorgt nach oben in Richtung Sonne. „Liebe Sonne,“ dachte er, „ich, nein wir alle hier lieben dich sehr, aber wir brauchen
Wasser!“ Ihm war durchaus bewusst, dass die große gelbe Kugel am Himmel seine Gedanken nicht hören konnte, doch er hoffte, er hoffte so sehr, dass da oben irgendetwas wäre, oder irgendjemand, der die Not sah und etwas dagegen unternahm. Er spürte, wie seine zahlreichen Blätter immer trockener und schwächer wurden. Auch er fühlte sich schwach, unkonzentriert, geistesabwesend. So bemerkte er auch nicht, dass er mittlerweile Gesellschaft bekommen hatte.
„Hey du Faulpelz, starr nicht wieder den ganzen Tag in den Himmel, davon
wird es auch nicht regnen….“
Ben erschrak fürchterlich. So sehr, dass seine Äste kurz begannen zu zittern. Der kleine Vogel, der sich eben auf seine Baumkrone geschlichen und ihm mit einer lauten, krächzenden Stimme ins Ohr gebrüllt hatte, rutschte dadurch ab und purzelte mehrere Meter in die Tiefe. Der Vogel war dabei so überrascht, dass es ihm nicht gelang, seine kleinen Flügel auszubreiten, um den Flug abzufangen. Aber Ben war wieder voll da. Geistesgegenwärtig hob er vorsichtig seinen rechten Ast und fing seinen Freund ganz behutsam mit ein paar Blättern auf. „Eins muss man dir lassen, Ben,“ krächzte es von unten,
„die Trockenheit hat deine Reflexe auf jeden Fall nicht weniger werden lassen.“
„Sei nicht so frech, Cula, „konterte Ben ärgerlich, „du bist selbst schuld, ich sagte dir schon hunderte Male, erschrecke mich nicht, wenn ich in Gedanken bin. Ich bin es leid, dich und deinen großen Schnabel immer wieder vor Ärger zu bewahren.“ Cula war auf der Baumkrone angekommen und Ben sah ihn böse an.
Schuldbewusst blickte der kleine Vogel zurück, und, wie immer, wenn das passierte, konnte der Baum den ernsten Blick nur ein paar Sekunden aufrecht erhalten, bevor er in schallendes Gelächter ausbrach. Cula lachte mit.
„Warum hat man mir bloß dich als besten Freund geschickt, altes Federvieh?“
„Weil ich der einzige bin, der mit dir auf Augenhöhe reden kann“ erwiderte dieser schelmisch.
„Wo hast du deine Schwester gelassen?“
„Die sammelt Futter, sie ist sehr früh aufgestanden, damit die anderen Vögel nicht alle saftigen Beeren für sich beanspruchen. Eigentlich sollte sie längst wieder hier sein….“ Ben war verwirrt. „Seit wann esst ihr Paradiesvögel Beeren?“ „Na du kannst Fragen stellen, wo sollen wir denn sonst Flüssigkeit her bekommen? Der Teich ist fast komplett trocken. Wenn
nicht bald ein Wunder geschieht, werden die großen Tiere nichts mehr zu trinken haben.“
„Wie viel Wasser hat der Teich noch?“
„Kann ich dir nicht genau sagen, das letzte Mal ais ich dort war, war schon kaum genug für alle Tiere übrig, einige von den Wölfen haben sich dann aufgemacht in die Berge.“
Ben spürte, wie sich seine Äste verkrampften. Er war jetzt sehr angespannt. Er wusste, dass die Lage ernst war, allerdings hatte er gedacht, es wäre noch mehr Zeit.
„In die Berge, sagst du? Was glauben sie da zu finden?“
Auch in Cula`s Gesicht war die Angst
und Anspannung mittlerweile deutlich zu erkennen.
„Ich weiß nicht genau, einer von Ihnen, Chorm, der Älteste sagte etwas von einer Quelle, aus der unendlich viel Wasser sprudeln soll. Hirngespinste, wenn du mich fragst.“
„Mag sein, aber wenn an der Geschichte was Wahres dran ist, sollten wir keine Zeit verlieren…. Wir müssen……“
Ben wurde von einer zweiten krächzenden Stimme unterbrochen. Mihula, die Schwester Cula`s nahte. Aufgeregt flog sie mit voller Kraft auf die beiden zu, die Flügel schlugen so wild, dass sie beinahe ins Straucheln
geriet. „Cula, Ben, es ist schrecklich……. Eine Katastrophe!“ Nur mit Mühe konnte sie sicher auf der obersten Spitze des Baumes landen. Ihr Gefieder war völlig durcheinander geraten, mit zersaustem Federkleid hockte sie auf dem Ast, auf dem es sich auch ihr Bruder bequem gemacht hatte. Ihre Flügel zitterten, in ihren Augen stand die geballte Angst. Sie keuchte, schnaufte, brauchte mehrere Sekunden, bis sie wieder Luft bekam. Ben und Cula sahen sie ungeduldig an.
„Mihula, so beruhige dich doch, was ist den passiert?“ unterbrach Ben den Schockzustand. So hatte er seine gute Freundin noch nie gesehen. „Do-dort
unten…..“ die Worte entwichen der kleinen Kehle nur langsam, „alle Bäume, sie zerfallen in sich, sie verlieren die Blätter……keiner spricht mehr….. wir brauchen Wasser…. Schnell…..! „
„Was ist mit dem Teich?“
„Der ist komplett ausgetrocknet, es ist kein Tropfen Wasser mehr übrig.“
Ben sah Cula an, der jedoch saĂź wie versteinert da, brachte keinen Ton heraus.
„Was ist mit den Tieren“?
„Sie wandern aus, wollen alle fort.“
„Aber wohin denn? Nicht weit von hier sollen Menschen wohnen, denen wird das nicht
gefallen“
„Einige von Ihnen wollen in die Berge, die anderen in die andere Richtung, sie wollen weg, nur weg…“ Tränen schossen aus den Augen der kleinen, zierlichen Vogeldame. Für einen Moment war auch Ben, der König des Tals, der Verzweiflung ausgeliefert. Die vielen schönen Jahre flogen an ihm vorbei. Die Zeit, in der alle in Frieden zusammen lebten, die Zeit in der es Wasser und Nahrung im Überfluss gegeben hatte. Er, der König, der Beschützer, hatte versagt. Und er selber wurde ebenfalls immer schwächer. Lange würde auch er nicht mehr überleben können
Chorm, der Herr der Wölfe, war schon immer ein Sturkopf gewesen. Ein Raubein, tief innen zwar mit einem sanften Gemüt, wenn es um das Wohl seines Rudels ging aber, mit eiserner Willenskraft und absoluter Entschlossenheit. Trotzdem, oder möglicherweise auch genau deshalb, war er still und heimlich zum Alpha-Tier geworden. Niemand hat es ihm gesagt, er hatte es nicht gefordert, es war einfach so gekommen. Der kräftig gebaute Wolf hatte immer den Durchblick, in jeder noch so gefährlichen Situation. So hatten alle
anderen Wölfe, auch die Ältesten, irgendwann begonnen, wenn sie Fragen hatten, zu IHM zu kommen. Auch wenn ihn diese Tatsache erst ziemlich gestört hatte, auch wenn er anfangs nicht bereit war, diese Verantwortung zu übernehmen, hatte er aber genau dies irgendwann, ohne es zu merken, getan. Diesmal allerdings war ihm sein Rudel nur widerwillig gefolgt. Der Weg in die Berge war lang und beschwerlich. Er barg zudem viele Gefahren, gefährliche Tiere aus den Nachbartälern, die sich von dem Fleisch der anderen Tiere ernäherten. In ihrem Tal war das anders, schon seit er denken konnte. Alle lebten friedlich zusammen,
ernährten sich gemeinsam von den Pflanzen und Früchten. Niemand wäre auch nur auf die absurde Idee gekommen, einen seiner Artgenossen zu verspeisen. Chorm zog sich allein bei dem Gedanken an eine derartige Widerwärtigkeit die Kehle zu. Denen da drüben wird es anders gehen, sagte er sich. Die fressen, was sie fressen können. Ja, es war gefährlich. Aber im Tal war es das mittlerweile auch. Das Wasser ging aus, niemand hatte mehr etwas zu trinken, die Tiere und Bäume begannen, sich zu streiten, etwas, was es dort noch nie gegeben hatte. Er musste handeln. Ein großer Falke hatte ihm auf der Durchreise einmal von den
Bergen berichtet, über die Gefahren, aber eben auch über das „unendliche Wasser“. Er hatte ihn ausgelacht und musste sich jetzt eingestehen, dass er wünschte, der Falke hätte Recht. Ganz glauben konnte er immer noch nicht, dass in dem ganzen Stein und Fels ein Bach, Teich oder so etwas fließen könnte. Aber wenn es auch nur ein kleiner Hoffnungsschimmer ist, wenn da auch nur ein Fünkchen Wahrheit dran ist, dann war es seine Pflicht, sein Volk dorthin zu führen. Er hatte auch andere Tiere zu überreden versucht, doch die hatten ihn für verrückt gehalten. Wenn er ehrlich zu sich selber war, war er vielleicht genau das.
„Chorm, du führst uns im Kreis.“ grollte es aus der zweiten Reihe, Chorm ging voran, alle anderen folgten ihm. „Ich sehe diesen Baum schon zum dritten Mal. Die Idee war töricht. Wir werden verdursten… Wir….“ „SCHWEIG!“ Chorms donnernde Stimme duldete keinerlei Widerspruch. Die anderen Wölfe blieben stehen und sahen verängstigt zu ihm herüber. „Palos, du bist zwar mein Bruder und nächster Vertrauter,“ flüsterte der Rudelführer gerade so laut, dass nur der von ihm angesprochene Wolf es hören konnte, „ aber es ist unserem Vorhaben keinesfalls förderlich, wenn gerade
einer von uns lautstarke Zweifel äußert. Ich habe die Route bedacht und ich weiss , was ich tue. Wenn du also noch einmal dein Maul aufreißt, dann werde ich es dir mit meiner Pranke stopfen.“ Palos wich zurück. „Jawohl, Bruder.“ Beleidigt blieb er stehen, bis ihn ein paar Wölfe überholt hatten, um etwas weiter hinten zu marschieren. Er wusste, wenn Chorm mit dieser Entschlossenheit in der Stimme zu Werke geht, ist mit ihm nicht zu spaßen. Es ist besser jetzt seinen Mund zu halten. Aber er nahm sich vor ganz genau auf zu passen. Er traute seinem Bruder nicht. Diesmal noch weniger als
sonst.