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              Der alte Kommissar und sein Dackel
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Hans bemerkte gerade noch rechtzeitig, dass der PKW vor ihm stark abbremste. Zum Glück war es ihm in all seinen Berufsjahren zur Gewohnheit geworden, immer auf ausreichenden Sicherheitsabstand zum Vordermann zu achten. Willy neben ihm auf dem Beifahrersitz stieß bei dem abrupten Bremsen unfreiwillig mit seiner Schnauze gegen das Armaturenbrett. Vorwurfsvoll blickte der Rauhaardackel zu seinem Herrn hinüber. Vor ihnen war ein Auto aus einem Seitenweg auf die Bundesstraße aufgefahren, ohne auf den Verkehr zu achten. Schnell waren dessen Rücklichter hinter der nächsten Straßenbiegung verschwunden. Über solche Rücksichtslosigkeit konnte Hans nur mit dem Kopf schütteln. Nach einem Blick in den Rückspiegel schaltete er das linke Blinklicht ein und bog in diesen Seitenweg. Dieser war durchgängig mit kleinkörnigem Kalkstein geschottert und führte nach knapp hundert Metern zu einer bewaldeten Hügelkette, dem Holzberg, der parallel zur Bundesstraße verlief. Am Rande dieses Waldgebietes machte der Weg hinter einem geöffneten Schlagbaum eine scharfe Biegung. Unmittelbar dahinter lud ein schmaler geschotterter Platz ein, hier Rast zu machen. Hans war zwar noch nie an dieser Stelle gewesen, hatte bei der Durchreise aber bereits mehr als einmal Autos hierher, beziehungsweise von hier wegfahren sehen.
„Willy komm, ein wenig Laufen kann dir auch nicht schaden.“
Der Dackel machte aber nicht die geringsten Anstalten, der Aufforderung bei dem schaurigen Novemberwetter Folge zu leisten. Er mochte absolut keinen Regen. Seinem Herrn war das eigentlich recht. Willy würde dann „schwerhörig“ wie Dackel nun einmal sind, entgegen des Verbotes doch wieder mit den zu erwartenden Dreckpfoten auf den Beifahrersitz springen. Das hatte Hans bisher nicht groß gestört. Aber jetzt bei dem neuen BMW, den er sich nach seiner Pensionierung gegönnt hatte, musste das nicht sein.
Trotz der Nähe zur Bundesstraße war hier kein Verkehrslärm zu hören. Stattdessen drang unüberhörbar das Gurren von Wildtauben und Krächzen der Kolkraben aus den Wipfeln der Bäume zu ihm herab. Hans reckte die Arme in die Höhe, so dass seine Schultergelenke laut knackten.  Mit aufmerksamem Blick musterte er die nähere Umgebung, mit der er die Überprüfung der letzten noch infrage kommenden Örtlichkeit abschließen wollte. Diesen Rastplatz beherrschte gleich neben seinem abgestellten Auto auf eindrucksvolle Weise eine leicht überhängende, etwa dreißig Meter hohe Felswand, die deutlich sichtbar aus großflächigen Felsenschichten bestand. Auf der anderen Seite des Weges machte sich ein kleiner Teich breit, der möglicherweise einem früheren Steinbruch seine Existenz zu verdanken hatte. Den Uferbereich bestimmte ein schmaler Schilfgürtel. Mit gerunzelter Stirn gewahrte Hans bei weiterer Betrachtung nun die vielen Plastikbecher, Papiertaschentücher, Colaflaschen und Zigarettenkippen zwischen dem Farnkraut unmittelbar neben seinem Fahrzeug.
„Dem Menschen geht es noch mal wie dem Milchsäurebakterium, das an seinem eigenen Erzeugnis kaputt geht“, dachte er angesichts des menschlichen Unrates, setzte sich wieder auf den Fahrersitz, ließ die Rückenlehne etwas nach hinten klappen und schloss entspannend seine Augen. Er könnte sich eigentlich alle Zeit der Welt gönnen, denn als allein stehender Pensionär bestimmte er seinen Tagesablauf selbst. Er war in jungen Jahren zwar verheiratet gewesen, doch seine Frau hatte es nicht lange mit ihm ausgehalten, und das konnte er ihr auch nicht verdenken. Der unregelmäßige Dienst, nie so richtig Feierabend, das hatte damals ihre Ehe bald zermürbt. Sie waren damals im Streit auseinander gegangen, doch im Laufe der Jahre hatte doch sich so etwas wie Freundschaft eingestellt, obwohl seine Ex wieder geheiratet hatte.  Müßiggang war nicht sein Ding. Beim letzten Besuch seiner ehemaligen Dienststelle hatte er Kenntnis von einem verzwickten aktuellen Fall erhalten, bei dem seine ehemaligen Kollegen nicht vorankamen. Ursächlich ging es um das Verschwinden eines jungen Mannes, Ralf Gerblinger mit Namen. Erste Nachforschungen der ermittelnden Polizeibeamten ergaben, dass es zwischen dem Vermissten und seinem Schwiegervater, einem Werkstattbesitzer in dessen Unternehmen Gerblinger nach der Hochzeit eingestiegen war, in jüngster Vergangenheit immer wieder zu Streitigkeiten kam. Der Schwiegervater hatte unmittelbar bei der ersten Befragung die Vermutung geäußert, dass sich sein Herr Schwiegersohn einfach nur aus dem Staub gemacht habe, da er von geregelter Arbeit ganz offensichtlich nichts hielt. Mitarbeiter der Firma hatten die Einschätzung ihres Chefs bestätigt. Gerbling war vor seiner Hochzeit mit der Unternehmertochter regelmäßiger Besucher von Nachtklubs gewesen und man hatte den Verdacht, dass er bis dahin seinen aufwendigen Lebensunterhalt mit zwielichtigen Geschäften bestritten hätte. Eine Bestätigung der Vermutung seines Schwiegervaters bekamen die Kriminalisten schon bald von spanischen Kollegen, die ihnen ein Foto des Vermissten beim Geldabheben an einem Bankautomaten zukommen ließen. Damit wäre der Fall für die Kriminalisten eigentlich erledigt gewesen, wenn da nicht vor wenigen Tagen ein anonymes Schreiben eingegangen wäre. Darin wurde behauptet, der Schwiegervater hätte in Wirklichkeit den Vermissten ermordet, da er Kenntnis von seinen unlauteren Machenschaften erhalten hätte und dies der Polizei melden wollte. Die Werkstatt würde seit dem Inkrafttreten der Abwrackprämie nicht mehr gut laufen und der Besitzer, der erst im letzten Jahr neu gebaut und investiert hätte, könne seine Schulden nicht mehr abbezahlen. Sein Schwiegersohn hätte außerdem herausgefunden, dass er hinter dem mysteriösen Verschwinden von mehreren Personen und ihren Nobelkarossen stecken würde. Das angebliche Beweisfoto an dem Bankautomaten wäre eine Fälschung. Die Spezialisten der Kripo hatten daraufhin nochmals die betreffende Aufnahme  genauer in Augenschein genommen und hatten bei der Person, die den Schwiegersohn darstellen sollte, tatsächlich Anhaltspunkte für eine falsche Identität entdecken können. Bei der daraufhin erfolgten Hausdurchsuchung bei dem Schwiegervater entdeckten die Ermittler in der Werkstatt sorgfältig verwischte Blutspuren, die wieder sichtbar gemacht werden konnten und vom Vermissten stammten. Im Kofferraum vom Auto des Werkstattchefs wurden ebenfalls verwischte Blutspuren und Haare gefunden. Dann entdeckten die Ermittler gut versteckt einen Fahrzeugbrief, der zu einem der Nobelkarossen gehörte, mit denen ihr Besitzer verschwunden war.
Trotz Beteuerung seiner Unschuld wurde der Werkstattbesitzer in Untersuchungshaft genommen. Die Beweise waren gar zu erdrückend, zumal der Mann bei der Vernehmung sich mehrfach in Widersprüche verstrickt hatte.
In diese Gedanken trommelte überraschend wieder einsetzender Regen auf die Autokarosse. Hans öffnete für einen Moment seine Augen, sah nichts weiter als die abperlenden Regentropfen auf der Frontscheibe, die die Umwelt auf einmal in der grauen Novembertristess verschwimmen ließen.
Willy neben ihm hatte sich auf dem Beifahrersitz eingerollt, bekam aber sofort mit, dass sein Herr nach ihm schaute.
Wieder schloss Hans die Augen und kehrte in seine unterbrochene Gedankenwelt zurück. Von seinen Kollegen wusste er, dass der tatverdächtige Werkstattbesitzer zum Zeitpunkt des Verschwindens der Besitzer von Nobelkarossen, diese Bundesstraße mehr als gewohnt befahren hatte. Das Gemeinsame in allen Fällen war die Nutzung dieser Verkehrsverbindung, sowie die Tatsache, dass es sich bei ihren Fahrzeugen immer um teure Automarken handelte. Die Überprüfung des Bewegungsprofils ihrer Mobiltelefone hatte ergeben, dass der Kontakt in jedem der Fälle  in einer Stadt abgebrochen war. Hans grübelte nun, wo zum einen in diesem Straßenverlauf die anderen Vermissten abgeblieben sein konnten, und wo man nach der Leiche Gerblingers suchen könnte, denn ohne Leiche keine Anklage. Doch die hatte man trotz großen Aufwandes bis jetzt noch nicht gefunden. An seinem Tod gab es faktisch keinen Zweifel. Nach Einschätzung des Gerichtsmediziners deutete die sichtbar gemachte Blutmenge zwingend darauf hin. Deshalb vermutete Hans, dass er möglicherweise auf einem nicht einsehbaren Rastplatz, so wie an dieser Stelle, verscharrt sein könnte. Er wollte abwarten, bis der Regen aufgehört hatte, um auch hier nach Anhaltspunkten für seine Vermutung zu suchen. Bei diesen Gedankengängen, unterstützt von der Einförmigkeit des trommelnden Regens nickte der alte Kriminalist aber doch ungewollt ein.
Die abgekühlte Außentemperatur ließ die Scheiben des BMW von der Atemluft von Mensch und Hund beschlagen. Für eine Weile bestimmten die Schnarchtöne des alten Kommissars die Innengeräusche. Draußen an der Waldgrenze senkte sich währenddessen der alte Schlagbaum wie von Geisterhand und versperrte somit weiteren Rastsuchenden den Weg zu ihrem Ziel. Kurz darauf tauchte zwischen den etwa drei Meter hohen Fichten vor dem BMW eine vermummte Gestalt mit einem Gerät auf, das an eine Rückenspritze zum Versprühen von Pflanzenschutzmitteln erinnerte. Vorsichtig näherte sich diese Gestalt dem Fahrzeug und suchte nach einem nicht ganz geschlossenen Fenster. Fündig geworden, wollte sie gerade einen Schlauch, der an der Rückenspritze angeschlossen war, in diese Fensteröffnung schieben. Da donnerte urplötzlich der Dackel mit wütendem Bellen und fletschenden Zähnen gegen die Scheibe. Damit hatte offenbar die vermummte Gestalt nicht gerechnet und verschwand hastig wieder zwischen den jungen Fichten.
Wie lange Hans geschnarcht hatte, wusste er nicht, schreckte aber sofort vom wütenden Gebell Willys hoch. Für einen Moment musste er sich doch erst einmal orientieren, um sich zu vergewissern, wo er eigentlich war. Der Dackel hatte sich an der Frontscheibe aufgerichtet und bellte wütend mit aufgestellter Rückenmähne zu den halbwüchsigen Fichten, da vor dem BMW. Durch die angelaufenen und mit Regentropfen benetzten Scheiben konnte Hans aber nicht die Ursache für Willys Unwillen erkennen. Der Regen hatte in der Zwischenzeit aufgehört. Entschlossen drückte Hans die Fahrertür auf und stieg aus dem Wagen. Er kannte seinen Willy lange genug um zu wissen, dass ein Fremder sich dem Fahrzeug genähert haben musste. Zu seiner Verwunderung war aber niemand zu sehen. Trotzdem drängte sich Willy jetzt entschlossen aus dem Auto und lief sofort zu den jungen Fichten. Sollte sich dort jemand versteckt haben? Für sich selbst überraschend, überkam Hans auf einmal ein irgendwie mulmiges Gefühl. Erst in diesem Augenblick wurde ihm bewusst, dass er sich hier trotz der nahen Bundesstraße an einem abgelegenen Ort befand. Dennoch näherte er sich entschlossen dieser Baumgruppe, um herauszubekommen, weshalb sich der Dackel so stark für diese Bäume interessierte. Auf den ersten Blick konnte er nichts Ungewöhnliches entdecken. Irgendeinen Grund für Willys Verhalten musste es aber geben. Hans schaute sich das Felsgestein hinter den Fichten genauer an und stutzte. Eine rechteckige Form in diesem Felsen erwies sich bei genauerem Hinsehen nicht aus Felsgestein, sondern als verwitterter Beton, der teilweise mit Moos überwuchert war.
Das Interesse des Kriminalisten war geweckt. Was hatte diese betonierte Fläche zu bedeuten? Sollte das etwa eine verborgene Tür sein? Sein suchender Blick konnte keine Anhaltspunkte für diese Vermutung ausfindig machen. Trotzdem versuchte er, dieses Betonstück an verschiedenen Stellen auf Nachgiebigkeit zu testen. Die umgebenden Fugen deuteten jedoch unmissverständlich auf eine in sich geschlossene Wand.
Hans musste sich geschlagen geben und rief seinen Hund. Willy folgte im ersten Moment auch bereitwillig der Aufforderung seines Herrn, blieb dann aber vor ihm stehen und blickte ihn für einen Moment starr in die Augen – ein Verhalten, dass diesem signalisierte, er habe etwas entdeckt. Und tatsächlich! Auf eine kurze Aufforderung hin, lief der Dackel einige Meter seitlich zwischen die Fichten und blieb dort stehen. Hans konnte aber nicht erkennen, was er eigentlich damit bezwecken wollte. Doch dann sah er es auch. Sein kluger Hund wollte ihm damit anzeigen, dass er etwas gefunden hatte. Zwischen seinen krummen Vorderbeinen lag eine Zigarettenkippe. Sofort fiel ihm auf, dass sie trotz der nassen Umgebung noch vollkommen trocken war. Bevor er die Kippe sicherte, schaute Hans sich sehr aufmerksam die Zweige der umstehenden Fichten an. Ein zufriedenes Lächeln spielte für einen kurzen Augenblick um seine Mundwinkel, als er einen frisch abgebrochenen Zweig entdeckte. Von dieser Stelle aus war er ganz offensichtlich beobachtet worden und Willy hatte das gemerkt. Doch wie konnte diese Person unbeobachtet verschwinden, obwohl er sofort aus dem Auto gestiegen war und sie eigentlich hätte noch sehen müssen?
Wieder wanderte sein zweifelnder Blick zu dem betonierten Stück in der Felswand, an der Willy jetzt sehr aufmerksam herumschnüffelte. Kopfschüttelnd stieg der alte Kriminalist wieder in seinen Wagen und verstaute die gefundene Zigarettenkippe in einer kleinen Plastiktüte im Handschuhfach. Vielleicht konnte das Kriminallabor daran eine bekannte D N A feststellen. Wie befürchtet, hatte es sich Willy verdächtig schnell mit seinen nassen Pfoten auf dem Beifahrersitz gemütlich gemacht, noch bevor er ihn in dessen Fußbereich kommandieren konnte und blickte seinem Herrn unschuldig und in die Augen. Doch den beschäftigte wieder die unsichtbare Person, die sich zweifellos hier versteckt haben musste, während er ein Nickerchen gemacht hatte. Hans spürte, dass gerade hier an diesem versteckt gelegenen Rastplatz irgendetwas nicht zu stimmen schien. Wie an keinem der vorher angefahrenen Plätze hatte er hier ein solch starkes Gefühl. Er beschloss, über diese betonierte Fläche Erkundigungen einzuziehen. Irgendeinen Grund musste es schließlich dafür gegeben haben. Beim Starten des BMW hatte er auf einmal spontan die Eingebung, nicht wie vorgehabt, auf die Bundesstraße zurückzufahren, sondern diesem geschotterten und gut zu befahrendem Weg weiter in den Wald  zu folgen. Deshalb bekam er auch nicht mit, dass jener Schlagbaum an der Waldgrenze auf einmal wieder hochgezogen war. In gemächlichem Tempo fuhr Hans die ansteigende Schotterpiste weiter und entdeckte an der auch hier sich entlang ziehenden Felswand in fast gleichem Abstand zwei weitere eben solche betonierte Rechtecke. Zweifellos mussten sie mal eine Bedeutung gehabt haben, doch welche? Verdammt! Unversehens sah sich Hans hinter einer Wegbiegung einem Holzlaster gegenüber, der nun ebenfalls stoppte. Es würde für ihn nicht einfach sein, auf der relativ schmalen Piste an dem großen Gefährt vorbei zu kommen. Er war sich bewusst, dass er hier eigentlich nicht lang fahren durfte. Da konnte es allerdings nicht schaden, wenn er den Fahrer des Holzlasters nach der Bewandtnis mit den betonierten Rechtecken fragen würde. Das würde zumindest eine gewisse Berechtigung für seine Anwesenheit hier begründen und zum anderen konnte der Mann ihm tatsächlich die Frage beantworten. Mürrisch ließ der Holzlasterfahrer die Seitenscheibe herunter, als dieser Opa seinen neuen BMW am äußersten rechten Rand des Forstweges abgestellt hatte und nun neben seinem Fahrzeug stand.
„Können Sie mir sagen, welche Bedeutung die betonierten Rechtecke
dort in der Felswand haben?“
„Also Opa, bei aller Liebe, ich bin kein Fremdenführer und dieser Forstweg ist auch keine öffentliche Straße und jetzt hälst du mich auch noch von meiner Arbeit ab, ich muss schon sagen, du traust dir was.“
Hans hatte in seinem Berufsleben recht viel Erfahrung mit den unterschiedlichsten Menschentypen sammeln können. Sie fiel es ihm auch nicht schwer, sich auf diesen Mann einzustellen und dessen Unmut zu besänftigen.
„Sie haben ja Recht, wenn Sie meinen, ich wäre ein Urlauber. Als Archäologe bin ich natürlich auch auf solche Forstwege angewiesen. Können Sie mir also meine Frage beantworten?“
Sofort wich die abweisende Miene des Fahrers einem aufmerksamen und freundlichen Gesichtsausdruck und er stellte sogar den Motor ab.
„Entschuldigung, konnte ich ja nicht wissen. Diese betonierten Rechtecke kenne ich schon aus meiner Kindheit. Warum man das gemacht hat, kann ich auch nicht genau sagen. Ich habe nur mal gehört, dass vor dem zweiten Weltkrieg die Nazis hier im Wald irgendetwas bauen wollten und dass dieser Wald zu der Zeit Sperrzone gewesen sein soll. Mehr weiß ich auch nicht.“
„Wissen Sie möglicherweise jemanden, der mehr darüber berichten könnte?“
Der Fahrer schüttelte mit dem Kopf.
„Keine Ahnung. Doch halt“, für einen Augenblick sah er Hans nachdenklich an, „ auf der anderen Seite vom Holzberg, gleich am Waldrand, da ist das Grundstück vom alten Stubbenhauer, aber der ist vor gut einem dreiviertel Jahr gestorben. Der hätte bestimmt mehr darüber sagen können. Vielleicht weiß sein Enkel etwas  darüber, der dort jetzt wohnt.“
Hans dankte dem Fahrer, der nun als erster seine Fahrt fortsetzte und deutlich bemüht war, im Vorbeifahren das Auto des „Archäologen“ nicht zu streifen. Mit grübelndem Blick schaute Hans dem voll beladenen Fahrzeug hinterher. Der Beton von besagten Flächen könnte dem Anschein nach wirklich aus der Zeit des dritten Reiches stammen. Doch wozu? Er beschloss, dem Grundstück vom Stubbenhauer auf der anderen Seite des Waldes einen Besuch abzustatten. Vielleicht konnte er den Enkel von ihm antreffen oder jemanden aus dessen Familie, vorausgesetzt, er hatte eine. Nach etwa zehnminütiger Fahrt erreichte er das beschriebene Grundstück auf der anderen Seite des Holzberges. Noch bevor er aus seinem Wagen aussteigen konnte, tauchte ein sehr kräftiger Rottweiler aus dem Hintergrund des umfriedeten Grundstücks auf und sprang mit gefletschten Zähnen an dem altersschwach wirkenden Lattenzaun hoch. Sofort tobte Willy beim Anblick des aggressiven Artgenossen mit ebensolchen Gebärden gegen die Frontscheibe. Erst der energische Ordnungsruf von Hans ließ ihn murrend und knurrend auf seinen Platz zurückgehen. Der marode Zaun mit dem tobenden Rottweiler auf dem abseits gelegenen Grundstück hielt den Kriminalisten im Fahrzeug zurück. Mit lang gezogenem Hupen versuchte er auf sich aufmerksam zu machen. Soweit er das Grundstück vom Auto aus einsehen konnte, machte es trotz des Hundes einen verlassenen Eindruck. Vielleicht war der Hund nur deshalb hier, um das Grundstück vor Vandalen zu schützen? Hans fragte sich, ob er hier überhaupt jemanden antreffen würde. Er überlegte bereits, ob er dort unten im Dorf nach dem Enkel fragen sollte, als er sah, wie der Rottweiler mit seinem Bellen auf einmal innehielt und zurück zu dem Fachwerkbau schaute. Im selben Moment glaubte er eine Bewegung bei den Gardinen dort hinter einem der Fenster wahrgenommen zu haben. Es musste demnach doch wer da sein. Wieder hupte Hans und der Rottweiler setzte mit seinen Scheinangriffen sofort wieder ein. Eine Person ließ sich aber auch nach weiteren Hupen nicht blicken. Das war für das Verständnis des pensionierten Kriminalisten zumindest fragwürdig. Erfahrungsgemäß waren Personen, welche auf abseits gelegenen Grundstücken wohnten, in der Regel misstrauischer als normale Ortsbewohner, was auch verständlich war. Sie würden aber meistens bei einem so auffordernden Hupen wie eben, mit Sicherheit bis an das Tor kommen, was in diesem Fall nicht geschah. Hans war sich aber sicher, dass sich auf dem Grundstück eine Person befinden musste, mit großer Wahrscheinlichkeit der Besitzer selbst. Ein so aggressives Tier wie der Rottweiler hier, hätte keinen Fremden reingelassen. Weshalb also kam dieser Enkel vom alten Stubbenhauer nicht raus? Wenn er erst kürzlich hier eingezogen war, weshalb verhielt er sich so zurückhaltend? Sein Instinkt sagte ihm: HIER STIMMT WAS NICHT!
Vordergründig hatte diese Beobachtung zwar nichts mit seinem Fall zu tun, trotzdem besorgte er sich nach seiner Rückkehr über seine ehemalige Dienststelle auf dem zuständigen Gemeindebüro die Unterlagen von diesem Grundstück und ihrem Besitzer.
                                                  *
Es war faktisch wie in alten Zeiten. Hans saß an seinem ehemaligen Schreibtisch, zu seinen Füßen ruhte Willy und genoss die wohlige Wärme der angrenzenden Heizung. Die Kollegen vom Morddezernat hatten ihrem ehemaligen Chef, der hier respektvoll den Spitznahmen „der Lord“ innehatte, seinen alten Arbeitsplatz bereitgestellt. Neben ihm hatte sich sein Nachfolger Herbert einen zweiten Sessel herangezogen und überreichte ihm die Laboranalyse von dem Zigarettenstummel, den dieser von seinem letzten Ausflug mitgebracht hatte.
„Was hälst du davon?“
Hans war zwar auf eine Überraschung gefasst, doch damit hatte er auch nicht gerechnet. Die an der Zigarettenkippe gefundene D N A gehörte eindeutig dem für tot gehaltenen Schwiegersohn des Werkstattbesitzers.
Da jene Kippe jüngsten Datums war, bedeutete das, dass Ralf Gerblinger noch leben musste. Doch wie war diese Kippe zu diesem Rastplatz gekommen?  Von einer Sekunde auf die andere war dieser Vermisstenfall wieder völlig offen. Wenn der Schwiegersohn des Werkstattbesitzers nicht tot war, wo steckte er jetzt? Wurde er verschleppt, oder war sein Verschwinden nur inszeniert? Fragen über Fragen tauchten plötzlich wieder auf.
Hans hatte eine zeitlang wie man es von ihm kannte, geschwiegen, und wandte sich dann Herbert zu:
„Ich glaube, das Ganze könnte sich noch schwierig gestalten, aber wenn du mich fragst, die Lösung dieses Falles muss irgendetwas mit diesem Rastplatz zu tun haben. Wenn dieser Holzberg, wie der Lasterfahrer mir gesagt hat, tatsächlich mal Sperrgebiet bei den Nazis gewesen ist, dann könnten ja die betonierten Rechtecke in den Felswänden möglicherweise Zugänge zu Stollen sein. In dem Fall hätte man auch Gerblinger dort verschwinden lassen können.“Â
Der alte Hauptkommissar tippte jetzt auf die Unterlagen, die er kurz zuvor durchgesehen hatte.
„Im Hinblick auf das Ergebnis vom Labor dürfte nun dieses hier von Bedeutung sein. Ihr habt doch das Umfeld vom Gerblinger unter die Lupe genommen. Ich habe vorhin darin gelesen, dass hierzu auch ein Frank Stubbenhauer gehört. Laut Auskunft der Gemeindeverwaltung hat dieser junge Mann das Grundstück auf der Nordseite des Holzberges geerbt. Für meinen Geschmack hat er sich bei meinem Auftauchen merkwürdig verhalten. Irgendetwas scheint mit dem Kerl nicht zu stimmen. Kannst du mal nachschauen, ob er bei uns aktenkundig ist?“
„Mach ich. Musst mich aber jetzt mal auf meinen Platz lassen.“
Hans nickte.
„Ich wollte mir sowieso ein wenig die Beine vertreten und Willy möchte bestimmt auch mal wieder die Kantine sehn.“
Als hätte der Dackel die Worte verstanden, war er aufgesprungen und schaute erwartungsvoll zu seinen Herrn auf.
Hans wollte seinen Nachfolger nicht in Verlegenheit bringen, wenn dieser im Polizeicomputer Informationen über Frank Stubbenhauer abrufen wollte und die mittlerweile geänderten Passwörter eingeben musste.
Als er mit Willy wieder das Büro betrat, erwartete ihn Herbert bereits mit dem Ergebnis seiner Recherche.
„Hast immer noch eine verdammt gute Nase, Hans. Dieser Frank Stubbenhauer hat eine Akte, die ist bald so dick wie ein Gesangbuch. Es gibt bald kein Delikt, mit dem er noch nicht in Zusammenhang gebracht wurde. Seine Zurückhaltung bei deinem Besuch ist demnach verständlich.
Angesichts seiner Verbindung zu unserem Vermissten und den neuen Erkenntnissen in dem Zusammenhang werden wir uns wohl mit ihm unterhalten müssen.“
Diese Information hatte auf den pensionierten Kriminalisten Hans eine belebende Wirkung gleich einer Tasse frisch aufgebrühten Kaffees.
„Ich fress ne/n Besen, wenn dieser Typ nicht irgendwas mit dieser Geschichte zu tun hat. An eurer Stelle würde ich ihm sobald wie möglich einen Besuch abstatten. Da man unter den neuen Gesichtspunkten annehmen muss, dass Gerblinger noch lebt, sehe ich hier Gefahr in Verzug, so dass der Staatsanwalt keine Bedenken haben dürfte, einen Durchsuchungsbeschluss zu unterschreiben. Wie gefällt dir mein Vorschlag?“
Sein Nachfolger schmunzelte:
„Wenn ich  nichts verkehrt machen soll, dann gibt es wohl keine andere Variante, oder?“
                                                      *
Der Holzberg war noch in nächtliches Dunkel gehüllt, als mehrere zivile Polizeifahrzeuge  sich dem abseits gelegenen Grundstück an dessen nördlicher Seite näherten. Die Scheinwerfer des Führungsfahrzeuges hatten den morschen Staketenzaun noch nicht erfasst, da tobte der aggressive Rottweilerrüde bereits an den verwitterten Latten. Aus einem der dunklen Fenster zischte mehrmals eine männliche Stimme:
„Kanter, fass“, was den Rottweiler noch mehr anstachelte und den nun aussteigenden Beamten die gefletschten Zähne und die unheimlich funkelnden Augen, verbunden mit wütendem Grollen eine Gänsehaut bescherte.
Doch ihr alter Chef, der ebenfalls auf der Bildfläche erschien, hatte mal wieder auf seine Art vorgesorgt.
„Worauf wartet ihr denn?“. fragte er schelmisch, als er ihre ratlosen Gesichter sah, „ ihr habt doch wohl vor dem Hundchen da keine Angst.“
Bei diesen Worten ging er noch mal zu seinem Wagen zurück und kehrte zu ihrer Verwunderung mit einem ihnen unbekannten Mischlingshund zurück. Sofort verstummte das wütende Gebell des Rottweilers. Stattdessen war von ihm angesichts der läufigen Hündin nur noch ein begehrliches Winseln zu hören. Wie zu alten Zeiten übernahm Hans wie selbstverständlich das Kommando:
„Hier nimm den Hundefänger, damit ziehst du dem Rottweiler die Schlinge über den Kopf, wenn er zur Hündin kommt. Also los, macht das Tor auf!“
Ohne Zwischenfall wurde der eben noch so aggressive Rottweiler dingfest gemacht. Als auf wiederholtes Rufen und Klopfen an der Haustür niemand öffnete, traten die Beamten durch die unverschlossene Tür.
Die überraschend sich zeigende Novembersonne beschien an diesem Morgen zwei festgenommene Männer, die die Beamten des Sondereinsatzkommandos in einem gut ausgebauten Tunnelsystem unter dem Holzberg aufgespürt hatten. Bei der vom Staatsanwalt angeordneten Durchsuchung waren sie an der Schuppenrückwand zum Felsen auf eine garagentorgroße Öffnung gestoßen, die neben mehreren Nebengängen auch zu einem direkten Stollen führte, der bis zur gegenüberliegenden Bergseite ging. Dort erwartete die Kriminalisten eine weitere Überraschung in dem geheimen, von den Nazis gebauten Stollen. An dieser Stelle bildeten natürlich aussehende Felsplatten, welche an Schienen verankert waren, ein von außen her nicht erkennbares Tor, direkt über dem idyllisch gelegenen Rastplatz neben der Bundesstraße. Weitere Untersuchungen ergaben, dass man von diesem Stollen aus, der rund fünf Meter über dem Rastplatz lag, über die montierte, ausfahrbare Kranvorrichtung in wenigen Minuten einen PKW von dort anheben und im Stollen verschwinden lassen kann. Reifenspuren auf dem Boden des Stollens und auf dem Grundstück von Stubbenhauer deuteten unmissverständlich auf eine solche Nutzung hin.
Die Sonne hatte bereits am späten Nachmittag dem grauen Vorboten der Nacht, dem Nebel Platz gemacht, da stand der Fall des vermissten Schwiegersohns vom Werkstattbesitzer und den anderen vermissten Personen mit ihren Autos bereits vor seiner kompletten Aufklärung.
Bei den beiden festgenommenen Männern handelte es sich um Frank Stubbenhauer und um den tot geglaubten Ralf Gerblinger. Jener hatte ursprünglich aus Berechnung die Tochter des Werkstattbesitzers geheiratet, da er in ihr eine reiche Erbin vermutet hatte. Nicht zuletzt durch die weltweite Krise und der in dem Zusammenhang eingesetzten Abwrackprämie war die Werkstatt seines Schwiegervaters in Turbulenzen geraten. Clever wie er war, versuchte der Schwiegersohn sich auf eine besonders hinterhältige Art aus dem Staub zu machen Er täuschte sein Verschwinden mit Hilfe seines Freundes  Stubbenhauer als vermeintlichen Mord vor, und lenkte geschickt unter Verwendung seines eigenen Blutes den Verdacht auf seinen Schwiegervater. Kurz vor dieser Aktion hatte sein Kumpan Frank das Grundstück seines Großvaters geerbt und dabei das Tunnelsystem unter dem Holzberg entdeckt. Diese geheimen Hinterlassenschaften nutzten die Zwei bereits vor der inszenierten Entführung für den Überfall und den Raub von hochwertigen Autos, sowie den Mord an dessen Besitzern. Die Vorgehensweise dabei war stets die Gleiche. Wenn sie durch verdeckte Beobachtungslöcher am östlichen Tor des Tunnelsystems ein teures Fahrzeug gewahr wurden, schlich sich einer von Beiden mit einem Behälter mit Kohlenstoffmonoxid zu dem Fahrzeug mit dem schlafenden Fahrer und ließ das tödlich wirkende, geruchlose Gas durch ein meist geöffnetes Fenster in den Innenraum. Innerhalb weniger Minuten war der Fahrer nicht mehr am Leben und wurde sofort im Auto mit der ausfahrbaren Kranvorrichtung in die Höhe und in den Stollen gehoben, der dann mit den natürlich wirkenden Felsplatten wieder verschlossen wurde. Dann wurde der zuvor heruntergelassene Schlagbaum wieder geöffnet. Mit den Handys der Opfer fuhr man dann in die nächste Stadt und vernichtete sie, um so die Funkspuren zu verwischen. Die geraubten Autos wurden dann ins Ausland verscheuert. Leichenspürhunde entdeckten außerhalb des Grundstücks in einer entlegenen Waldecke die vergrabenen Toten. Hans war bei der Vernehmung der Tatverdächtigen anwesend. Ihm wurde so auf drastische Weise bewusst, dass er um ein Haar das gleiche Schicksal erlitten hätte, wenn sein Willy nicht gewesen wäre.
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                                                                         Ende
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       Gewidmet meiner schönen Muse !