Die Schranktür quietscht wie eine rollige Katze. Hilfe, wenn das jemand hört, dann ist wieder Zoff, dann heißt es: Friss nicht so viel, schau wie fett du bist, du wirst jeden Tag hässlicher.
 In Tammi’s Wimpern tanzen Tränen und die Zunge fühlt sich ganz pelzig an. ‚Nein‘ sagt Tammi leise ‚nein' ich hole mir nichts von den klebrigen Gummifrüchten, dieses Mal bleibe ich stark. Ich brauch das nicht und ich will es auch nicht. Doch je mehr Tränen aus Tammi’s Augen rollen, umso mehr sehnt sie sich nach den Süßigkeiten. Leise schleicht Tammi in die alte Bauernstube und holt sich einen der braunen Holzstühle. Im Türrahmen verhakt sich eines der Stuhlbeine und gibt ein knarrendes Geräusch von sich. Bitte, bitte, lass das niemanden gehört haben. Tammi blickt flehend zur Zimmerdecke, grad so, als wollte sie den Himmel anbeten. Aber außer dem Fernseher, der irgendeine Gerichtssendung herausbrüllt, passiert nichts.
Tammi klettert auf den Stuhl und dann steht sie vor ihrem Paradies. Rosaweiße Schaumwaffeln und Pfefferminzbonbons mit innen Schokolade, Nougattaler, Kekse und eine Riesenpackung Geleefrüchte. Eine Verpackung nach der anderen reißt sie auf und stopft es sich in die Hosentaschen, als beide voll sind, hebt sie ihr TShirt hoch, zieht es vom Körper ab und füllt auch dort noch jede Menge Süßigkeiten hinein. Als sie vom Stuhl steigt, fallen die ganzen süßen und klebrigen Sachen auf die Erde. Panik lässt Tammi‘s Herz ganz schnell schlagen. Schweißperlen bilden sich auf der Stirn und auch im Rücken. Vor lauter Tränen kann das Mädchen kaum etwas sehen, aber sie weiß, dass alles aussehen muss wie vorher. Also zerrt sie den Stuhl wieder in das Nebenzimmer und versucht die Schranktür möglichst leise zuzumachen, was natürlich nicht gelingt. Warum ölt eigentlich keiner diese alte Tür. Für Tammi ist es so, als wäre die Tür ihr Feind, ein Feind der sie verraten will, der mit der Mutter unter einer Decke steckt.  Die Naschereien vom Boden stopft sie sich sofort in den Mund. Alles auf einmal.
 Jeder steckt hier mit jedem unter der Decke, nur Tammi ist allein. Alle sind gegen sie. In der Schule ist es nicht anders. Sie sitzt allein in der Bank. Früher saß Kathi noch neben ihr, aber die hat sich zu Elli gesetzt, weil sie lustiger und cooler ist. Elli darf sich auch schminken, ganz offiziell, ihre Mutter kauft ihr das Zeug sogar. Peter sitzt auch allein, aber nicht weil er so dick ist, sondern weil er seine Ruhe haben will. Er redet mit keinem, wird aber auch von keinem angemacht. Peter wird so akzeptiert wie er ist. Bei Tammi ist das ganz anders, wenn sie in die Klasse kommt, kichern entweder ein paar Mädchen oder die Jungen grölen *Na Tammischwein so ganz allein, wer will denn dein Freund heut sein* und dann schreit die ganze Klasse diesen Satz im Chor. Manchmal wünscht sich Tammi ihr Kopf würde zerplatzen oder sie wäre einfach tot oder ohnmächtig, so wie damals, als alles angefangen hat.
Denken will sie nicht daran, nie mehr. Sie hat ihrem Teddybär Puck die Geschichte erzählt. Immer wenn sie mit Puck redet, hat sie das Gefühl er versteht sie. Puck ist der einzige der alles über Tammi weiß. Niemals würde sie mit ihren Eltern oder irgendjemanden darüber reden, was in dem schwarzen Waldweg vorgefallen ist. Es ist Pucks und ihr Geheimnis.
Es war vor einem halben Jahr, vor sechs Monaten. Aber für Tammi war es heute oder vor hundert Jahren, eigentlich schon immer.
Die Schule war zwei Stunden früher aus, weil Frau Schneider krank geworden war. Tammi hatte noch auf dem Klo rumgetrödelt, sie durfte Ellis Wimperntusche ausprobieren. „Wir gehen schon mal“ sagten Kathi und Elli und weg waren sie. Tammi pinselte und pinselte und ihre Wimpern wurden immer länger und die braunen Augen strahlten mit jedem Pinselstrich mehr. Ja und als sie dann auf dem Schulhof stand, war dort kein Mensch. Naja kein Mensch ist auch nicht richtig, aus der achten Klasse standen ein paar Jungs und pfiffen, als sie vorbei ging. „Na Kleine, wo geht’s denn hin, sollen wir dich begleiten? Machen wir gern, Null Bock auf *Relli* und den Strube“. Tammi war ganz rot geworden und ist dann schnell weiter gegangen. Zwei Stunden auf den Bus warten, nein darauf hatte sie keine Lust. Wenn sie den Waldweg nahm, war sie in circa dreißig Minuten zu hause.
Die Schultasche war so schwer, dass die Schulter, über der sie diese trug, schon richtig brannte. Sie stellte die Tasche auf den Boden, rieb sich die Schulter und wollte sie gerade wieder aufnehmen, als sie die Jungen sah. „Wir haben uns überlegt, dass wir mit dir gehen. Du kannst doch nicht ganz allein durch den dunklen Waldweg marschieren. Gib die Tasche her, Marcel trägt sie für dich.“
 „Lasst mal“ sagt Tammi und lacht „ich trag die ja jeden Tag, die ist zwar schwer und es ist lauter unnützes Zeug drin, aber ist nicht so schlimm. Danke, echt nett von Euch“.
„Kennst du uns eigentlich?“ fragt der Junge der neben dem geht, der wohl Marcel heißt.“Klar vom Sehen schon, aber ich bin in der vierten Klasse und ihr in der achten, da haben wir wohl nicht so wirklich viel miteinander zu tun, oder?“
„Da hast du recht Kleine. Tammi, hab ich recht?“
 „Woher weißt du das denn?“
„Von deinen Freundinnen. Die haben vorhin laut über dich geredet, als sie weggegangen sind. Ãœbrigens blöde Hühner, wenn du mich fragst“, lachend legt er ihr den Arm um die Schulter und zieht sie an sich.
„Lass das, ich mag das nicht“.
„Pass auf Tammilein, wenn ich was will, dann will ich das und wenn ich meinen Arm um dich lege, dann mach ich das und wenn ich dich küssen will, dann küss ich dich“. Mit diesen Worten greift er mit einem Ruck in ihre Haare, zieht Tamaras Kopf nach hinten und presst seine Lippen auf ihre.
 „Spinnst du, Alter, lass das Küken in Ruhe. Mit Kindern will ich nichts zu tun haben. Die ist ganz bestimmt noch Jungfrau, sowas gibt Ärger. Lass sie los. He nun  komm!“. Wer das jetzt gesagt hat, das weiß Tammi nicht, es war auf jeden Fall nicht dieser Marcel.
„He, ich hör doch jetzt nicht auf, wo ich schon mal hier bin. Sieh dir diesen Waldweg an. Weich wie ein Teppich, was meinst du wie gut man da liegt. Wer von euch zu feige ist, kann ja gehen. Das ist was für Männer und nicht für Softies. Ich dachte wir sind Männer, oder?“
„Bitte, lasst mich in Ruhe, meine Mutter wartet auf mich, ich bekomme Ärger, wenn ich nicht gleich nach der Schule nachhause komme“.
„Siehst du“, genau das habe ich eingeplant „du kommst ganz pünktlich, wenn du keine Zicken machst. Die zwei ausgefallenen Stunden müssen doch genutzt werden. Was meinst du?“ noch einmal küsst er Tammi auf den Mund und dann kickt er ihr mit seinem Bein in die Kniekehle, so dass sie stolpert und hinfällt.
Vier Gesichter sieht sie über sich, vier Gesichter die sie nie mehr im Leben vergessen wird. Vier Jungen, die sich auf sie werfen. Vier Münder, die sich auf ihre Lippen pressen. Acht Hände, die an ihren Kleidern zerren und vier Männer, die sie spüren lassen,  was sie zu einem Mann macht.
Wenn ich nicht denke, dann passiert das alles auch nicht, geht es Tammi durch den Kopf. Ich denke an nichts, außer an rosarote Wolken. Die Sonne scheint so heiß, dass sie glaubt ihr Gesicht verbrennt. Hinter den geschlossenen Lidern wird es ganz bunt. Regenbogenfarben wechseln sich ab. Alles ist ganz heiß, fast wie Feuer und wie lodernde Flammen so tanzen auch die Farben durcheinander.
Tammi weiß nicht, wann die Jungen sie in Ruhe gelassen haben. Sie spürt nichts, überhaupt nichts. Kurz überlegt sie ob sie vielleicht gestorben ist oder ob sie träumt, aber dann klopft ihr einer der Jungen auf den Rücken und sagt lachend „Mensch Tammi, du hast dich aber eingesaut, der halbe Wald hängt in deinen Klamotten, was soll denn deine Mutter von dir denken, wenn du heim kommst. O weh das gibt Ärger.“
Ein ganz schmaler Blutstreifen läuft an ihrem Innenschenkel herunter. Ihr ganzer Körper ist taub. Als sie ihre Tasche aufnimmt wird ihr bewusst, dass sie ganz allein im Wald ist. Sie hat nicht einmal bemerkt dass die Jungen weggerannt sind.
Fast pünktlich öffnet Tammi die Haustür. „Mein Gott Tamara, wie siehst du denn aus, kannst du deine Sachen nicht mal ein bisschen schonen. Ich kenne kein Kind, das so schlampig mit seinen Klamotten umgeht, wie Du. Du bist das Letzte. Setz dich und iss, oder meinst du ich mach alles nochmal warm für dich“. Die Worte der Mutter rauschen wie durch Watte an ihren Ohren vorbei. „Hab keinen Hunger, Ma, mein Kopf brummt wie verrückt, ich leg mich ins Bett“.
„Ich sag doch, dass du das Letzte bist. Schlampig, faul und zu nichts nutze. Ich dachte du würdest mir mal im Haushalt helfen, aber das war wohl ein Irrtum“.
„Mama, weißt du was…..“
„Tamara, sag jetzt besser nichts mehr, sonst könnt ich echt noch ausrasten“.
Leise geht Tammi in ihr Zimmer, nimmt Puck ganz fest in die Arme und weint dicke Tränen in sein Fell. Dann erzählt sie ihm alles was passiert ist.
 In der Nacht bekommt sie solch großen Hunger, dass sie in die Küche, an den alten Schrank geht, die quietschende Tür öffnet und  alles was sie findet isst.
Von dem Tag an isst Tammi was sie finden kann. Sie weint, wenn sie in den Spiegel schaut, weil sie sich nicht mehr wieder erkennt. Nichts von der alten Tammi ist mehr zu sehen. Die neue Tammi ist ein fettes Mädchen, das kein Junge je anfassen würde.
Auf der mit rosaroten Wolken bedruckten Bettdecke liegt der Teddybär Puck. Ganz verklebt und zerdrückt ist sein braunes Fell. Auch Puck sieht sich nicht mehr ähnlich. Tammy denkt manchmal, dass sogar seine Augen anders geworden sind. Sie sehen aus, als würden sie in Tränen schwimmen. Um den lädierten Teddy herum liegen kleine rosa und weißen Pfefferminzschokoladenbonbons und weiche rosa und weißen Schaumküsse.
„Weißt du mein Puckilein, meine Welt ist immer noch rosarot und wenn ich alles vergessen habe, dann bin ich auch wieder schön, dann brauche ich mich nicht mehr in einem dicken Körper zu verstecken. Aber zuerst muss ich alles vergessen.“
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(C)Ute AnneMarie Schuster 11.02.2011
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