Was für ein Gefühl
Das Läuten der Glocke reißt mich aus meinen Gedanken. Ich höre unangenehmes Lärmen im Stiegenhaus. Nervöses, schon fast hysterisches, Gekicher junger, um die 15 jähriger Mädchen dringt in meine Ohren. Zwischendurch ein paar Stimmen in Bass. Ich vernehme den Gang stöckelbeschuhter Füße.
“Das kann nur die Sekretärin des Direktors sein”, schießt es mir durch den Kopf.
Ich sitze an einem runden weißen Tisch. Auf ihm steht meine Colaflasche, in der ein Strohhalm auf Tiefseegang geht. Der Trinkhalm ist blau gestreift und der obere Teil durch eine Faltung nach unten geknickt. Der Tisch steht neben einem Heizkörper, der eines neuen Anstrichs bedarf. Über ihm befindet sich ein Fenster, bestehend aus jeweils zwei Flügeln; zwei äußere und zwei innere. Der Lack der Fensterrahmen bröselt herunter, wenn man ihn nur ansieht.
Worte dringen an mein Ohr:
”Französisch...vergessen...Frankreich...(dazwischen leises, mir unverständliches Gemurmel). Ich blicke zu der Quelle dieser Stimmen. Drei Oberstufenmädchen warten dort, mit Schulbeuteln und Rucksäcken behängt, auf - ich weiß nicht was.
Nein es sind vier. Auch sie setzen sich an einen der Tische, die hier, neben mir, herumstehen.
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“Es ist so lustig, ich verstehe nicht einmal die Ãœberschrift”, höre ich eine von ihnen sagen. Ein anderes Mädchen bepackt mit Mac Donalds Sack betritt den Bereich in dem sich die wartenden Mädchen aufhalten. - Halt, das war kein Mädchen. Das ist ein Junge, der seine Federschachtel aus der Tasche hervorkramt und verdutzt in sein Lehrbuch blickt.
Dazwischen immer wieder Klaviertöne aus dem Zimmer nebenan. Die Mädchengruppe unterhält sich über Französischaufgaben. Eine weitere Schülerin stößt zu dieser Gruppe, einen Kornspitz verdrückend, hinzu.
Ich dreh mich um und blicke kurz auf das, was sich hinter meinem Rücken abspielt, und beobachte die Französischprofessorin, die in Richtung wartender Mädchengruppe marschiert; mit einem Holzknüppelchen, an dem der Schlüssel des Klassenraumes hängt, in Händen. Ein äußerst seltsames Gefühl überströmt mich und dauert nur einen Atemzug lang. Die Professorin verschwindet mit ihren Mädels in einen Raum, auf dessen Türe das Wort Bibliothek geschrieben steht. Darunter hängt ein Zettel mit den Öffnungszeiten. Nun ist wieder Stille eingekehrt.
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Ich höre Wasser rauschen. Es ist die Bedienerin, die einen Eimer mit Wasser füllt.
Der Junge, der eben vor einigen Minuten mit der Mac. Donalds Jause herkam, tut sich nun gütlich an dieser. Er starrt mich an. Vermutlich fragt er sich, wer ich denn sei und was ich hier zu suchen hätte. Eine der Französischschülerinnen verlässt den Raum, mit einem Leihbuch in der Hand. Wieder rauscht das Wasser. Mein Blick fällt zum Fenster, neben mir. Ich will hindurch nach draußen blicken, und schaffe es kaum. Vor dem Fenster eine riesige Baustelle. Der Junge zerknüllt die papierenen Überreste seines Essens und beugt sich mit vollem Munde wieder über sein Buch. Alle zwei Minuten trippelt jemand im Stiegenhaus hinter mir.
Wieder kommen zwei Mädchen neben mir vorbei. Ich mustere die Schülerinnen und bemerke, dass sie für ihr zartes Alter umwerfend gut proportioniert sind. Diese Tatsache wird auch nicht unter Schlabberpullis versteckt. Nein: Ein hautenges Oberteil und eine Stretchjean bieten der Umwelt ein imposantes Bild.
Der Mac. Donalds Junge versuchte eben mit mir Blickkontakt aufzunehmen. Etwas in mir sagte:
 “So setz dich doch zu ihm und biete ihm eine Ansprache.” Doch ein anderer Teil verbot es mir. Ein zweites Mädchen verlässt den Französischraum.
Aus dem Klavierzimmer ertönt die Melodie von “My heart will go on”, einem Song aus TITANIC.
Soeben bewegte sich eine Schülerin auf Krücken, da nur ein Bein, an mir vorbei.
Das Mädchen, das vorhin bei dem Mac Donalds Jungen gesessen hatte und sich vor geraumer Zeit verdrückte, ist soeben zurückgekehrt und setzt sich nun an einen Tisch neben dem Tisch des Jungen.
Die Französischgruppe löst sich auf und verschwindet. Auch die Professorin kommt in meine Richtung.
Das Rätsel für den Mac Donalds Jungen, der mich die ganze Zeit beobachtet löst sich. Die Französischprofessorin wird von mir begrüßt. Sie erkennt mich sofort wieder.
Nach ein paar Allgemeinplätzen versuchen wir zu eruieren wer aller einst in meiner Französischgruppe war. Nach fünf Minuten stößt der Direktor hinzu. Er begrüßt mich kurz:
” Aha, sie hat Dich aufgehalten. Grüß Dich, wie geht´s?” Kaum ausgesprochen hatte er die Professorin schon zu sich auf die Seite gezogen um mit ihr etwas Wichtiges zu besprechen. Nach einigen Minuten kommt sie wieder zurück zu mir
Ich versuche ein paar Worte auf Französisch, aber leider vergeblich - Rien ne va plus!
Da sie schon immer in Wien wohnte, wie ich nun seit drei Jahren, gab sie mir ihre Nummer. “Da können wir besser quatschen.” Ich kann es kaum fassen. Da bekomme ich heute die Telefonnummer meiner ehemaligen Professorin. Meine Freude ist riesengroß.
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Ich sitze hier im Buffet der Schule, in der ich vor mehr als 6 Jahren die Reifeprüfung ablegte. Was für ein Gefühl. All diese jungen Menschen haben noch so vieles vor sich. Erfolgserlebnisse ebenso wie größere oder kleinere Enttäuschungen. Nun lächle ich dem Mac Donalds Jungen zu. Denn ich weiß. Ich hab schon alles hinter mir. Niemand kann mir meine Matura wieder nehmen.