Der Riesenadler trägt Câyleân über das Schattengebirge. Das Land auf der anderen Seite scheint unbewohnt. Über viele Stunden wandert der Junge allein umher, doch als er des Nachts erwacht, blickt er auf die Spitze eines Speers. Cover: © LiBro@Fotolia.com
Câyleân saß zwischen den Federn des Riesenadlers und blickte über das Wolkenmeer unter ihm. Er hatte eine unruhige Nacht hinter sich. Die Angst, den Halt im Federkleid zu verlieren und hinunter zu fallen hatte ihn nicht schlafen lassen. Doch während er wach war, quälten ihn die Erinnerungen an die Zwerge. Nun vertrieb der herrliche Anblick unter ihm selbst diese Gedanken.Der nachtschwarze Himmel nahm ganz langsam eine violette Färbung an. Weiße Wolken wurden von der aufgehenden Sonne beschienen rosa. Je höher die helle Scheibe stieg, desto mehr schwand die Dunkelheit, die Sterne verblassten und aus Violett wurde helles Blau.Über den Wolken herrschte weiterhin Stille. Es war eine friedliche Stille, gleich einem schönen Traum. Câyleân gab sich diesem Traum hin und vergaß alles, was unten auf der Erde geschah. Hier gab es keine Hetze und keine Flucht. So friedlich konnte nur der Himmel selbst sein. Für Câyleân war es ein beruhigender Gedanke. Zu Wissen, dass seine Eltern und sein Bruder diesen Frieden nun jeden Tag haben würden, minderte ein wenig seine Traurigkeit. Es war nicht schwer sich in den Wolkenbergen die Gesichter seiner Lieben vorzustellen. Die Mutter, wie sie an ihrer Lieblingsstelle am Fluss saß und einfach nur auf das Wasser blickte. Der Vater, wie er mit strahlendem Gesicht nach Hause kam, ein erlegtes Bergschaf auf den Schultern. Dânael, wie er mit Jalna um die Wette lief. Câyleân sog die frische Luft tief in seine Lungen und zog die warme Felldecke fester um seine Schultern. Trotz der dichten Adlerfedern war die Nacht so hoch oben bitter kalt gewesen. Erst langsam brachte die aufgehende Sonne auch Wärme. Der Junge strich sich das braune Haar aus der Stirn. Allzu lange konnte der Flug nicht mehr dauern. Die höchsten Gipfel des Schattengebirges lagen bereits seit einer Weile zurück. Wie weit ihn der Adler wohl ins Land tragen würde?Lâgiin – so hatte Pag dieses Land genannt. Der Gedanke an die Zwerge tat weh. Câyleân hoffte, dass Grosch und Pag dem Liuant entkommen waren. Er hatte sich nicht einmal richtig bei ihnen bedanken können. Ob er sie jemals wieder sehen würde? Der Junge hoffte es.Der Knabe richtete sich ein wenig auf dem Rücken des Riesenadlers auf, als dieser die Flügel anlegte und tiefer sank. Der Wind schlug dem Halbelf ins Gesicht und zerzauste ihm das Haar. Für Minuten war er von dichten, weißen Wolken eingehüllt. Die Luft war feucht und er konnte kaum seine eigene Nasenspitze erkennen. Es war der dichteste Nebel, den der Halbelf jemals erlebt hatte. Bei der Kälte in dieser Höhe war es alles Andere als eine schöne Erfahrung. Er war froh, als sie die Wolken hinter sich ließen und das Land sich unter ihm ausbreitete. Ein weiteres Mal in so kurzer Zeit kam er aus dem Staunen nicht heraus. Noch niemals hatte er so etwas gesehen. Câyleân kannte das raue Vorgebirge und die weite Tundra, die westlich am Schattengebirge grenzte. Dort war alles gelb, braun und grau. Aber dieses Land war bunt. Soweit das Auge reichte, entdeckte Câyleân riesige Wälder, Ebenen und sanfte Hügel. Die vorherrschende Farbe war grün. Im Sommer musste das ganze Land in allen nur vorstellbaren Grüntönen leuchten. Doch auch hier hielt der Herbst Einzug – wenn auch ganz anders, als der Junge es gewohnt war. Statt Grau in Grau und in nasskalten Nebel getaucht, war die Welt unter ihm mit gelben, orangen, roten und violetten Flecken übersäht. Ab und zu wurde das Gesprenkel unterbrochen von dem blauen Band eines Flusses oder einem glitzernden Bach. An einigen Stellen vermutete der Junge Dörfer, denn dort stiegen Rauchsäulen zum Himmel empor. „Bring mich zu diesen Dörfern“, flüsterte der Knabe. Der Adler dachte nicht daran. In einer enger werdenden Spirale, die Schwingen weit ausgebreitet, schwebte er hinab zur Erde. Je tiefer sie sanken, desto mehr Feinheiten machte der Dunkelhaarige aus. Sie waren noch gar nicht so weit vom Schattengebirge weg. Wo das Land von hoch oben so hell, farbig und voller Leben aussah, wirkte es nun mehr und mehr bedrückend und düster. Der Schatten des Gebirges lag über dem Land, so nah waren sie diesem. Obwohl die Sonne inzwischen höher stand und die meisten Wolken vertrieb, wurde es nicht wesentlich wärmer.Endlich landete der Riesenadler auf einer weiten Ebene. Câyleân raffte Decke und Rucksack zusammen und rutschte auf dem goldbronzenen Federkleid des Adlers hinunter. Dem Jungen blieb nicht einmal genug Zeit sich zu bedanken, da breitete der Vogel schon wieder seine Schwingen aus und hob sich in die Lüfte.Lächelnd blickte der Halbelf dem großen Vogel nach, dessen Federkleid in der Sonne schimmerte. Den Kopf langsam wieder senkend, glitten seine Augen an dem Gebirge entlang, das aus der Ferne seinen bedrohlichen Schatten warf. Nein, nie wieder wollte Câyleân dort hin. Er wollte auch nicht zurück blicken. Seine Zukunft lag in die andere Richtung und eben dorthin wandte er sich. Dort, wo er vom Himmel aus das weite, lebendige Land sah. Dort mussten die anderen Elfen leben, das Volk, von dem seine Mutter abstammte.
Den ganzen Tag wanderte Câyleân einsam über die grüne Ebene. Er begegnete niemandem und sah nicht einmal ein Tier, geschweige denn einen Menschen oder Ähnliches. Irgendwann setzte er sich hin und aß von den Vorräten, die ihm Gine Grenzgänger mitgegeben hatte. Die Gelegenheit nutzte er auch gleich, seine wenigen Habseligkeiten zu überprüfen. Er breitete seine Felldecke aus und setzte sich darauf. Aus dem Rucksack kramte er etwas Trockenfleisch und ein halbes Laib Brot. Wenn er sparsam war, reichte es noch für das nächste Frühstück. Der Wasserschlauch war noch zur Hälfte gefüllt. Außerdem besaß er sein Messer, die Laterne der Zwerge und die kleine Flöte von Pag, mit der er den Riesenadler anlocken konnte.Sehr weit würde der Junge damit nicht kommen. In der Ferne sah er einen Wald und hoffte, ihn bis zum Abend zu erreichen. Dort würde er sicher einen Bach oder eine Quelle finden und Tiere jagen können.Als die Sonne hinter den Bergen versank, erreichte der Junge sein Tagesziel. Im Schein seiner Laterne betrachtete er die hohen Bäume. Nie zuvor hatte er so hohe Pflanzen gesehen und ihm wurde bewusst, dass es in diesem Land sicher sehr viel gab, das er noch nicht kannte. Unter einem der Bäume legte der Bursche seine Sachen ab und sammelte auf dem Boden liegende Zweige, um ein Feuer zu entfachen. Immer wieder blickte er sich dabei um. Irgendetwas war seltsam in diesem Wald. Es war zu still. Câyleân hörte das Rauschen des Windes in den Baumwipfeln und seinen eigenen Atem. Nicht einmal das Gezwitscher von Vögeln oder das Summen von Insekten vernahm er. Dabei hatte der Junge immer geglaubt, so ein Wald müsste voller Leben sein.Es dauerte nicht lange, bis Câyleân ein kleines Feuer entfacht hatte und sich in die Felldecke einwickelte, ein mageres Abendbrot zu essen.
Mitten in der Nacht erwachte Câyleân, ohne einen Grund dafür zu finden. Es war niemand da, der ihn hätte wecken können. Der Wald um ihn herum war immer noch still. Und doch hatte der Junge das Gefühl, nicht allein zu sein, beobachtet zu werden. Gespannt lauschte er in die Nacht. Das Feuer war zu einem Haufen Glut zusammen gesunken. Câyleân lag mit dem Rücken dazu, aber er hörte das trockene Holz in der Hitze knacken. Der Wind rauschte gleichmäßig durch die Baumwipfel. Es klang, als würde der Wald atmen und ebenso wie er in die Dunkelheit lauschen. Der Herzschlag des Waldes ging schwer und dumpf und fügte sich so harmonisch in das Rauschen, dass Câyleân sich ganz bewusst daran erinnern musste, dass ein Wald gar keinen Herzschlag besaß. Als diese Erkenntnis endlich im Kopf des Knaben greifbar war, pochte sein eigenes Herz so schnell, als sei er eben die Treppe zum Pass im Schattengebirge hinauf gerannt. Er war nicht mehr allein. Câyleân bemühte sich, Ruhe zu bewahren und horchte auf weitere Geräusche. Tatsächlich erkannte er ein Rascheln von Stoff und Leder. Mit Schrecken dachte er an seinen Rucksack. Er lag hinter ihm, neben dem Feuer und darin sein Messer. Der Junge fluchte lautlos. Seine einzige Waffe war so nah und zugleich so unerreichbar, dass sie ebenso gut auf der anderen Seite der Berge hätte liegen können.Ganz langsam drehte sich der Halbelf um und erstarrte mitten in der Bewegung. Er blickte genau auf die Spitze eines Speers, die mit Widerharken versehen war. Die Speerspitze bewegte sich von dem Gesicht des Jungen zu dessen Brust und weiter zum Bauch. Câyleân folgte ihr mit dem Blick und sah noch weiter. Neben sich erkannte er ein paar Pferdehufe mit weißen Fesseln – der Herzschlag des Waldes. Ganz langsam hob der Bursche den Kopf und schaute hinauf. Über den Fesseln wurde das Fell des Pferdes, nichts anderes konnte es sein, rotbraun. Doch dann weiteten sich die Augen des Jungen. Etwa an der Stelle, wo der Hals des Pferdes anfangen sollte, befand sich der Oberkörper eines jungen Mannes. Seltsame Muster waren auf die nackte, helle Haut gemalt. Câyleân hob den Kopf noch weiter und blickte in ein durchaus hübsches Gesicht. Es wurde von einer rotbraunen Mähne eingerahmt, deren Farbe nur an den Schläfen von weißen Strähnen unterbrochen wurde. Das Haar war lang und reichte dem Pferdemann bis zum Rücken. Trotz dieser Zeichen der Reife, wirkte das Gesicht nicht älter als Dânael gewesen war.Der Halbelf schluckte hart. Seine Augen huschten zu dem Speer, den der Pferdemann in seiner Hand hielt und dessen Spitze immer noch auf ihn gerichtet war, und wieder hoch zu diesen gelben, leuchtenden Augen.„Wer bist du?“, nur leise kamen die Worte über die Lippen des Jungen. Der Pferdemann antwortete nicht. Drohend hielt er weiter den Sperr hoch, doch seine gelben Augen glitten von Unsicherheit geprägt zwischen dem Feuer und dem Halbelf hin und her. Vorsichtig fuhr sich Câyleân mit der Zunge über die Lippen und setzte sich langsam auf. Die Spitze des Speers folgt seinen Bewegungen unnachgiebig und endlich sprach auch der Pferdemann: „Steh auf. Lauf nicht weg. Ich bin schneller als du. Du gehörst mir.“ Der Knabe schluckte noch einmal hart, ehe er der Anweisung folgte und sich erhob. Seine Augen huschten über die Gestalt und weiter durch den dunklen Wald, wobei er sich seine Chancen ausrechnete. Um Zeit zu gewinnen fragte er: „Was hast du vor?“„Du kommst mit mir. Ich habe dich gefangen“, antwortete der Pferdemann. Câyleân runzelte überlegend die Stirn. Wenn das Wesen so schnell wie ein richtiges Pferd war, sah es mit einer Flucht wirklich schlecht aus. Den Blick wieder zu dem Fremden angehoben, meinte er: „Du hast mich nicht gefangen, du hast dich nur angeschlichen während ich schlief.“Die Mundwinkel des Pferdemannes zuckten. „Das Ergebnis ist dasselbe. Du wirst mit mir kommen. Wenn du nicht weg läufst, werde ich dir nichts tun. Räum deine Sachen zusammen und lösch das Feuer.“Câyleân atmete einmal tief durch. Irgendwie hatte er sich seinen Start in diesem neuen Land anders vorgestellt. Doch mit einem Blick auf den spitzen Speer und das Seil, das der Fremde in der anderen Hand hielt, ergab er sich vorerst in sein Schicksal. Mit wenigen Handgriffen rollte er seine Felldecke zusammen und packte seine Habseligkeiten in den Rucksack. Unter den wachsamen Blicken des Pferdemannes bedeckte der Knabe das Feuer mit Erde, hob den Rucksack auf die Schultern und richtete sich schließlich wieder auf. „Und was jetzt?“, verlangte er zu wissen. „Jetzt gehst du.“ Der Pferdemann deutete mit seinem Speer in den Wald hinein.
Am Stand der Sterne, die ab und zu durch die Baumkronen funkelten, konnte Câyleân erahnen, wie lange sie quer durch den Wald liefen. Der Pferdemann blieb stets dicht hinter dem Halbelf. Ab und zu spürte er gar die Speerspitze an seiner Schulter. Bisher waren sie schweigend gegangen. Der Junge war zu sehr mit seinen Gedanken beschäftigt und ohnehin nicht sicher, ob diese Pferdegestalt ihm antworten würde. Er hatte sich vorgenommen, erst einmal zu tun, was das Wesen von ihm verlangte. Immerhin wurde er noch nicht verletzt und vielleicht war der Pferdemann nur so etwas wie ein Wächter des Waldes, der die Aufgabe hatte, jeden in das Lager zu bringen. Die Nomaden hatten meist solche Wächter, weil die verschiedenen Stämme oft im Streit miteinander lagen.So hatte Câyleân beschlossen erst einmal abzuwarten. Doch mit der Zeit bekam er ein mulmiges Gefühl in der Magengegend, von der Müdigkeit einmal ganz abgesehen, und mit Schweigen würde er nicht weiter kommen. „Wie weit gehen wir noch?“„Bis der Morgen anbricht“, antwortete der Pferdemann hinter ihm mit ruhiger Stimme.„Und wohin bringst du mich überhaupt?“, verlangte der Knabe weiter zu wissen.„Das wirst du sehen, wenn wir da sind.“Der Junge blieb stehen und drehte sich auf der Stelle zu seinem Wächter um. Sogleich drückte dieser die Speerspitze gegen seine Brust. Câyleân versuchte sich seine Furcht nicht anmerken zu lassen, blickte einmal auf die Spitze der Waffe und wieder zu dem Pferdemann hoch. „Warum können wir nicht Rast machen? Ich bin müde.“ Der Wächter ließ langsam seine gelben Augen über den Dunkelhaarigen gleiten. Beinahe hatte der Bursche das Gefühl, dass das Wesen den Wahrheitsgehalt seiner Worte prüfen wollte. Ein wenig Hoffnung keimte in dem Knaben auf, als die gelben Augen an seinen Ohren hängen blieben, deren Spitzen zwischen dem wirren, braunen Haar zu sehen waren. Grosch hatte gesagt, Menschen dürften nicht auf die andere Seite des Schattengebirges. Aber er war kein Mensch. Er war ein Halbelf. Vielleicht hatte dieser Pferdemann es bisher einfach nicht gemerkt.„Du kannst noch laufen“, entschied der Bewaffnete schließlich. Er stieß Câyleân mit dem Speer gegen die Brust, so dass dieser ein paar Schritte rückwärts trat, um Abstand zwischen sich und der Spitze zu bringen. „Aber ich bin müde“, erwiderte der Junge unwillig: „Ich bin schon den ganzen Tag gelaufen. Mir ist kalt und ich muss mal.“ Der Pferdemann runzelte die Stirn und neigte den Kopf etwas seitlich, während er den Knaben weiterhin aufmerksam betrachtete. „Was?“„Ich muss mal“, wiederholte Câyleân die letzten Worte und setzte erklärend hinzu: „pinkeln“. Der Pferdemann begann tatsächlich leise zu lachen. Er senkte den Speer ein wenig und deutete mit der anderen Hand auf den Waldboden. „Na dann mach.“„Aber doch nicht hier vor dir!“ Entrüstet schüttelte der Knabe den Kopf und verschränkte die Arme vor der Brust. Der Bewaffnete lachte erneut leise, doch rammte er mit einem kräftigen Stoß den Speer in den weichen Waldboden. Irritiert blinzelnd ging Câyleân noch zwei Schritte rückwärts. Sein Gegenüber bewegte sich jedoch schneller. Schon hatte er aus dem Ende des Seils eine Schlinge gemacht und legte diese um den Hals des Jungen. „Wenn du weg läufst, werde ich dich jagen und fangen und dann werden wir die ganze Nacht durch laufen“, erklärte er: „Wenn du nicht fliehst, werden wir ein paar Stunden lagern.“ Câyleân seufzte leise, doch nickte er. Er war wirklich hundemüde und eine Jagd würde er kaum lange durchhalten. Seine Augen glitten noch einmal über den Pferdemann, ehe er sich den dicht stehenden Bäumen zuwandte.
Câyleân lag auf der Seite auf dem harten Waldboden. Der Pferdemann hatte ihm die Hände auf dem Rücken zusammen gebunden und seine Füße an den Knöcheln gefesselt. Nur die Felldecke wärmte den Jungen, denn sein Wächter weigerte sich beharrlich ein Feuer zu entzünden. Der Rucksack lag außerhalb der Reichweite des Knaben. Obwohl Câyleân so müde war, fand er keinen Schlaf. In der Dunkelheit konnte er die Stämme der nahen Bäume nur erahnen. Er hörte den dumpfen klang der Hufe. Ab und zu sah er auch die Pferdebeine. Die weißen Fesseln hoben sich von dem Schwarz der Nacht ab. Der Pferdemann umrundete ihn immer wieder wachsam, durchstreifte die Bäume ohne sich zu weit zu entfernen.„Wie heißt du eigentlich?“, fragte der Knabe leise. Er war sicher, dass das Wesen ihn hörte, doch die Antwort ließ auf sich warten.„Yalan“, erklang die ruhige Stimme schließlich dicht hinter ihm. Câyleân versuchte sich etwas zu drehen um zu seinem Wächter hinauf zu sehen.„Nennt man dich auch irgendwie?“, wollte dieser wissen.Der Junge nickte. „Câyleân.“ Er konnte nur die gelben, leuchtenden Augen über sich richtig erkennen. Von dem Gesicht sah der Gefesselte nichts. Doch in der Stimme des anderen erkannte er eine leichte Unsicherheit.„Das ist aber ein Name der Elfen.“Erneut nickte der Junge. „Ich bin ja auch ein Halbelf.“Yalan schnaubte. Es klang wirklich wie ein Pferd. „Ein Halbmensch bist du, das reicht.“Caylan runzelte die Stirn. „Wozu reicht es?“ Der Knabe hörte die dumpfen Hufschläge und dann Yalans leise Stimme etwas entfernt: „Du erfährst es, wenn wir da sind. Schlaf jetzt oder wir gehen weiter.“
Zum Frühstück gab es Pilze, Wurzeln und frisches Wasser. Yalan musste diese Dinge besorgt haben, während Câyleân schlief. Jetzt liefen sie schon wieder seit Stunden durch den stillen Wald. Der Pferdemann hatte dem Knaben das Seil um die Hüfte geschlungen und das andere Ende um das eigene Handgelenk. Câyleân konnte sich gut vorstellen, warum sein Wächter ihn nicht mehr frei laufen ließ. Wenn Yalan die ganze Nacht wachte, muss er nun erschöpft und müde sein. Vielleicht konnte der Halbelf eine Flucht wagen, aber er trottete brav vor dem Geschöpf her. In diesem Wald würde er sich nur verirren und womöglich nie wieder hinaus finden.Die Blätter der Bäume waren rot, gelb und braun und einiges Laub hat sich schon auf dem Boden gesammelt. Es raschelte leise wenn sie hindurch gingen. Dies und das Rauschen des kühlen Windes in den Wipfeln waren noch immer die einzigen Geräusche. Am Stand der Sonne, die immer mal wieder einige Strahlen durch die Baumkronen schickte, erkannte der Halbelf, dass es beinahe Mittag war. Er fragt sich, wie lange sie wohl noch laufen mussten und wann Yalan eine Rast einlegte, um selbst ein wenig zu schlafen.„Warum bist du nach Lâgiin gekommen?“Câyleân zuckte regelrecht zusammen, als er die ruhige Stimme des Pferdemannes hinter sich vernahm. Bisher waren sie schweigend gewandert.„Ich suche meine Familie.“„Deine Familie ist auf der anderen Seite des Schattengebirges, bei den Menschen.“ In den Worten Yalans lag dieselbe Verachtung wie in der Nacht, als er ‚Halbmensch’ sagte. Es versetzte Câyleân einen Stich im Herzen. „Die Familie meiner Mutter“, erläuterte der Junge leise.„Du meinst die Elfen“, mutmaßte Yalan.Câyleân nickte.Yalan lachte leise: „Taonânayâ würde nicht erlauben, dass du bei ihnen lebst.“„Warum nicht? Wer ist das?“„Taonânayâ ist die Königin der Elfen.“„Und warum sollte sie nicht wollen, dass ich bei ihnen lebe? Nur weil ich ein Halbelf bin?“„Halbmensch“, korrigierte Yalan. „Nein, weil Âsrinyâ fort gegangen ist.“Âsrinyâ. Câyleân schnellte zu dem Pferdemann herum. Dieser bemerkte es nicht gleich. Er musste wirklich sehr müde sein. Aber der Halbelf achtete darauf gar nicht, stattdessen blickte er nur perplex zu Yalan hinauf. „Du kennst meine Mutter?“Stehenbleibend runzelte Yalan die Stirn, als würde ihm eben bewusst, dass er etwas Falsches oder zuviel gesagt hatte. Seine leuchtenden, gelben Augen musterten den jungen Halbelf. „Geh weiter“, befahl der Pferdemensch und legte eine Hand auf die Schulter des Knaben, um ihn herum zu drehen. Doch Câyleân duckte sich mit einem Schritt zur Seite von der Hand weg.„Nein! Du hast den Namen meiner Mutter genannt. Woher kennst du sie?“„Ich antworte dir vielleicht, wenn es mir passt“, entgegnete Yalan mit ruhiger aber ernster Stimme: „Geh weiter.“„Nein!“, Câyleân schüttelte entschieden den Kopf und wich gerade soweit von dem Pferdemann zurück, wie es das Seil zuließ. „Du kennst meine Mutter! Sag mir woher! Was weißt du über sie?“ Der Junge sprach aufgebracht und laut, doch Yalan zeigte sich davon nicht beeindruckt. Wachsam ruckte er den Kopf herum und blickte in das Dickicht der Bäume. Mit einem zischenden Laut brachte er den Knaben zum Schweigen. Câyleân war zwar immer noch aufgebracht, bemerkte aber doch, dass etwas anders war als zuvor. Schon nach wenigen Augenblicken wurde ihm auch klar was es war. Der Wald lebte.Der Halbelf konnte Vogelgezwitscher hören und das Summen und Brummen von Insekten. Und da war noch etwas anderes. Mit einem Mal stellten sich seine Nackenhaare auf und es lief ihm kalt den Rücken hinab, denn er hörte ein Knurren zwischen den Bäumen und das Geräusch brechender Äste.
„Lauf.“ Yalans Stimme war nun gar nicht mehr ruhig und zudem nur ein Flüstern. „Los, lauf.“Câyleân konnte nicht. Seine Beine wollten ihm nicht gehorchen. Starr vor Schreck blickte er auf den riesigen Fellberg, der zwischen den Bäumen hervor brach. Es war ein Bär, der aufrecht stehend auf sie zukam, bestimmt dreimal so groß wie der Junge und sicherlich hungrig.Yalan reagierte schnell. An dem Seil zog er Câyleân zu sich heran, fasste dessen Arm und zog ihn auf seinen Rücken. Der Halbelf konnte kaum reagieren. Immer noch lag sein Blick auf dem riesigen Bären. Mehr aus Reflex schlang der Junge seine Arme um die Brust des Pferdemannes, als dieser sich aufbäumte. Die Vorderhufe wirbelten schützend und zugleich angreifend dem Bär entgegen. Das Ungetüm zeigte sich davon wenig beeindruckt. Mit Pranken, so groß wie der Kopf des Knaben, schlug es aus. Diese Klauen rissen sicher schwere und tiefe Wunden. Yalan zog die Flucht vor. Er wirbelte herum und schlug einige Haken zwischen den Bäumen hindurch. Der Bär ließ sich auf alle Viere hinab und setzte dem Pferdemann in einem schaukelnden Gang nach.Câyleân hielt die Arme fest um den Körper des Pferdemenschen geschlungen und die Augen geschlossen. Er spürte wie dicht sie an Bäumen und Ästen vorbei preschten. Der Bär blieb dicht hinter ihnen. Durch seine Größe und Masse walzte er kleine Bäume einfach um und mähte eine regelrechte Schneise in den Wald. Dem Halbelf blieb für einen Moment die Luft weg, als er spürt, wie Yalan über eine Senke sprang, doch wagte er nicht die Augen zu öffnen. Er spürte den Herzschlag Yalans und hörte dessen keuchenden Atem. Lange konnte der Pferdemann diese Hetze sicherlich nicht aushalten. Nicht so erschöpft wie er war und mit dem zusätzlichen Gewicht des Jungen auf seinem Rücken. Schon bald hörte der Bursche den knurrenden Bären ganz nah. Er spürte dessen heißen Atem. Plötzlich hörte er die Bestie aufbrüllen. Es war ein Gebrüll des Schmerzes, der Wut und der Enttäuschung. Irgendetwas musste das Tier verletzt haben. Câyleân öffnete die Augen und drehte sich etwas auf Yalans Rücken um zurück zu blicken. Da spürte er einen stechenden Schmerz in seinem Oberarm. Der Halbelf stieß einen kurzen Schrei aus. Dann wurde es dunkel um ihn.